profil-Serie Erste Republik: Wer hat am 12. November geschossen?
Es ist eine Zeitenwende. Wer in diesen Tagen eine Offizierskokarde trägt, dem wird sie heruntergerissen. Wer in einem Auto durch die Straßen fährt, muss gewärtig sein, dass Soldaten der „Roten Garde“ es requirieren. Doch die Ausrufung der Republik am 12. November erscheint nicht als Revolution, sondern als Revolutiönchen.
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Es gibt Gerüchte, die „Rote Garde“, ein Zusammenschluss von ein paar Hundert revolutionär gesinnten Soldaten, darunter Schriftsteller wie Egon Erwin Kisch und Söhne aus besserem Haus, wollten die Versammlung vor dem Parlament zu einem Putsch benützen und die Nationalversammlung auseinanderjagen. Die Rotgardisten verpflichten sich, ohne Munition auszurücken.
Die Sozialdemokraten haben ihre Anhänger angewiesen, ab Mittag die Arbeit ruhen zu lassen und in „ruhigem Demonstrationszuge, der durch keine Zwischenfälle gestört werden darf, vor dem Parlament zu erscheinen“. Milchwagen, die Kranke und Kinder versorgen, solle man „unter allen Umständen“ passieren lassen.
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Auf historischen Stummfilmsequenzen sieht man einen Menschenstrom in Richtung Parlament. An der Rampe stehen sie dichtgedrängt, Regenschirme aufgespannt, hohlwangig, Tabakschwaden steigen auf. Ein Transparent mit der Aufschrift „Hoch die sozialistische Republik“ ist im Bild, dann Gedränge, Bewegung, zwei zusammengeknotete Stofffetzen werden gehisst. Man sieht weder die Revolutionäre, die sich zuvor der rot-weiß-roten Fahne bemächtigt und die weiße Stoffbahn herausgeschnitten haben, noch den Redner, der die Republik proklamiert, noch den Sturm auf das Parlament.
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Das „Neue Wiener Tagblatt“ am Tag danach: „Soldaten und Bürger halten von mehreren Vorsprüngen herunter Reden. (…) Von der unruhigen und stets bewegten Gruppe vor dem Eingang des Parlaments zieht ein Teil ab, darunter die Leute mit der Leinwandtafel für die sozialistische Republik, die das Rufzeichen der ganzen Demonstration war.“ – „Dann, als ob jemand mit einem Stock auf einen Rollbalken schlüge. (…) Ein Rotgardist sagt: ‚Schüsse‘. In die Menge kommt eine wilde Bewegung. (…) Da knattert es schon wie bei einem Infanterieangriff, und die ganze Menge vor dem Parlament läuft, wie man um sein Leben läuft, gebückt und atemlos. (…) In wenigen Minuten ist die Ringstraße wie leergefegt.“
Die „Neue Freie Presse“ schreibt von „einer Schießerei, in deren Verlauf etwa hundert Schüsse abgegeben wurden. Rote Gardisten glaubten, dass aus dem Parlament ein Schuss auf sie abgegeben worden sei und eröffneten ein Feuer gegen das Parlamentsgebäude, in dessen Verlauf einige Personen verwundet wurden. Weit größer war die Zahl der Verletzten infolge einer argen Panik, die unter der vom Parlament abziehenden Menge entstanden ist.“
Der Bericht ist erstaunlich sachlich, wenn man bedenkt, dass die Redaktion der „Presse“ nach dem Vorfall beim Parlament von einem Trupp der „Roten Garde“ heimgesucht und zu einer revolutionären „Sondernummer“ gezwungen worden war. Ein anwesender Redakteur: „Die ‚Rote Garde‘, die überwiegend aus gebildetem, aber unreifem Intelligenzmaterial besteht, war sich über ihr Vorhaben wohl selbst nicht im Klaren.“
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Die Chefredaktion der „Presse“ mahnt: „Die Achtung der Pressefreiheit ist die oberste Pflicht jeder Partei.“ Die Aktion der „Roten Garde“ sei „gegen den Sinn und das Gefühl der Bevölkerung von Wien“.
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Die „Finanzpresse“ vom 13.11. kommentiert: Politisch habe die Garde nicht den größten Teil des Volkes hinter sich, bloß den gespanntesten, vielleicht überspanntesten. „Aber da wir eine Demokratie sind, noch dazu eine angeblich der großen Gerechtigkeit, müssen wir den sozialen Minoritätenschutz gewähren.“
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Die Ausrufung der Republik endete mit drei Dutzend Verletzten und zwei Toten. Ein Mann und ein Kind waren zu Tode getrampelt worden. Das Parlament hatte Dutzende Einschusslöcher.