Profiteure der Flüchtlingskrise: Der Fahrdienstleiter

Im kurzen Sommermärchen der Empathie vertritt Bundeskanzler Werner Faymann ausnahmsweise eine klare Haltung. Das wird ihm später zum Verhängnis.

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An einem heißen Julitag 2016 kämpft sich Kanzler Christian Kern durch eine Arbeitsmappe mit Unterlagen, in der dröge Bürokratensätze das Fortschrittsdefizit in der europäischen Flüchtlingspolitik umschreiben: "Die primäre Verantwortung für das laufende Management der Außengrenzen verbleibt bei den jeweiligen Mitgliedsstaaten.“ Aus dem Diplomatenjargon übersetzt: Jeder macht, was er will. Ungarn liebäugelt mit einem Elektrozaun, Österreich hat sein "Türl mit Seitenteilen“, viele EU-Staaten nehmen nach wie vor keine Flüchtlinge auf. Wenig später wird Kern neben Ungarns Premierminister Viktor Orban stehen und sich redlich bemühen, bei Orban-Sätzen wie "Jeder Migrant bedeutet ein potenzielles Sicherheits- und Terrorismusrisiko“ möglichst keine Miene zu verziehen. Rund 200 Menschen kommen derzeit pro Woche über die ungarische Grenze nach Österreich, Orban verspricht, niemanden mehr durchzulassen. "Man weiß nicht, ob man sich wünschen oder fürchten soll, dass das stimmt“, resümiert Kern danach angespannt und sagt nachdenkliche Sätze wie: "Wir dürfen die Bevölkerung nicht überfordern, ob uns das gefällt oder nicht“, oder: "Manche Menschen, die vor einem Jahr auf dem Bahnhof Flüchtlinge willkommen geheißen haben, teilen heute auf Facebook Artikel, die viele damals für rassistisch gehalten hätten.“

Kern hat einen langen Weg zurückgelegt in diesem Jahr und mit ihm die Sozialdemokratie. Im kurzen Sommermärchen der Empathie mutieren die ÖBB zur hymnisch gelobten Vorzeigeinstitution und deren Chef Kern zum Sinnbild für Leadership, verehrt von den Tausenden, die Decken, Kleidung und Proviant für Flüchtlinge mitbrachten. Vor seinen wortgewaltigen Auftritten auf den Verschubbahnhöfen der Völkerwanderung galt Kern als emotionsloser, leicht abgehobener Dandytyp, danach nicht nur bei der SPÖ-Basis als charismatischer "Kanzler der Herzen“, der wohldosiert Zitate über sich wie "wenn die Sonne der Kultur tief steht, dann werfen selbst Zwerge lange Schatten“ einstreut, sich mit Broschüren wie "Menschlichkeit fährt Bahn“ gekonnt in Szene setzt. Als diese Kampagne Monate später Preise einheimst, ist Kern schon Kanzler, verhandelt mit Orban über Grenzschutz und mit der ÖVP über die Notverordnung, mit der Österreich die Genfer Flüchtlingskonvention aushebelt. Im Grunde macht Kern keine wesentlich andere Flüchtlingspolitik als sein ungeliebter Vorgänger Werner Faymann, er weiß sie nur feinziselierter zu formulieren.

Faymanns Verhängnis

Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass Faymann gerade jener Moment zum Verhängnis wird, in dem er ausnahmsweise eine klare Meinung äußert. Sonst belastet er sich nicht groß mit Überzeugungen, sehr zum Unmut der SPÖ, und agiert weitgehend ideologiefrei. Hauptsache, Kanzler. Im Ausnahmezustand der Flüchtlingswelle hat er eine Haltung, und zwar eine humanistische, kann sie mangels Übung aber nur rudimentär ausdrücken und schon gar nicht umsetzen. Als mitfühlende und wortgewaltige Vorzeige-Rote punkten Wiens Bürgermeister Michael Häupl und Christian Kern, Werner Faymann ist irgendwie auch dabei - aber nicht mehr lange. Die hitzigen Grundsatzdebatten innerhalb der SPÖ - Wie viel Hilfe ist notwendig? Welche? Und wie viel Härte? - spülen jenen SPÖ-Parteivorsitzenden weg, der den Diskurs stets gescheut hat.

Der rhetorisch beschlagenere Kern wäre ohne seine charismatische Fahrdienstleiter-Funktion während der Flüchtlingswelle heute nicht Bundeskanzler. Doch die Stimmung ist eine gänzlich andere als im Sommer des Vorjahres: 66 Prozent der Österreicher halten laut der groß angelegten Umfrage "Challenges of Nations“ des GfK-Vereins Integration heute für die dringendste Aufgabe - vor einem Jahr waren es vergleichsweise kümmerliche 26 Prozent gewesen. Ähnlich intensiv ist der Kater nach der fröhlichen Willkommensparty nur in Deutschland.

Ob Kern das schafft?

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin