Unter Huren

Essay. Christa Zöchling über die netten, schrillen Damen jenes ­Stundenhotels, in dem sie ihre ­Kindheit verbrachte

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In provokanter Laune und unter Freunden erzähle ich gelegentlich, ich sei unter Huren groß geworden. Der Satz schlägt ein. Er wirkt wie eine glimmende Lunte, an deren Ende jedoch nichts explodiert. Stets die gleiche Reaktion: verlegenes Schweigen und Schreckensstarre. Gesichter wie von der Heilsarmee. Keiner traut sich nachzufragen. Ich rühre an ein Tabu. Ich übertreibe maßlos, dennoch ist es wahr.

Zwei, drei Jahre hindurch verbrachte ich die freie Zeit nach der Schule in einem Stundenhotel, in dem meine Mutter als Kellnerin arbeitete. Untertags wurde das dortige Restaurant von Arbeitern, Studenten und Zuhältern frequentiert, abends leuchtete es schummrig rot. Es war Ende der 1960er-Jahre. Ich war ein Volksschulkind, Prostitution galt als sittenwidriges Gewerbe, doch in meiner kleinen Welt waren Huren allgegenwärtig. Sie standen in der Dämmerung unter den Straßenlaternen in unserer Gasse. Sie gingen zum selben Schuster und zum selben Bäcker und zum Friseur, bei dem auch meine Mutter Stammkundin war.

Meine Mutter war damals eine junge Frau, die in schwarzem Rock, Trevirapulli und einer blitzweißen, gestärkten Servierschürze die Speisen austrug, mehrere Teller zugleich wie einen Fächer in der Hand. Wenn ich, zur Mittagszeit, nach Ende des Unterrichts auf sie zustürzte, wurde ich meist schnell in die Extrastube bugsiert. Dort saßen lachende, zwitschernde und duftende Frauen. Fröhliche Wesen, die ihr Haar offen trugen und aussahen wie die Prinzessinnen in meinem Märchenbuch. Überall Spitzen und durchsichtige Stoffe, Kombinegen aus Nylon, schillernde Morgenmäntel und glitzernde Spangen. Die Frauen kamen und gingen. Traten aus Zimmern in einem hinteren Trakt des Hotels und verschwanden auch schnell wieder. Männer tauchten in dieser Welt nur als Schatten auf. Die Frauen verströmten Bettwärme und Lethargie. Sie hatten knallrote Lippen, bisweilen auch schwarze Schlieren im Gesicht, aber das machte sie in meinen Augen nur noch schöner. Sie sprachen laut und schrill. Sie herzten mich, stopften mich voll mit Süßigkeiten und lachten wie sonst kein Erwachsener. Wir spielten Märchen nach, und sie drapierten ihre Tücher und Schleier an mir. Sie waren kokett und viel vitaler als meine schüchterne Mutter. Ich beneidete sie darum, dass sie bis Mittag schlafen durften. So wollte ich auch einmal werden.

Auf der Straße, auf Kundenfang, waren sie angespannt und aggressiv. Oft schrien sie einander an, schlugen zu. Sie wurden selbst geschlagen von Männern. Immer wieder hatte die eine oder andere ein blaues Auge. Auch das war mir vertraut von meiner Mutter und deren Freundinnen. Das komme in den besten Familien vor, hieß es, wobei mir schon klar war, dass wir nicht zu den „besten“ Familien gehörten.
Prostitution? Ein Beruf, etwas anrüchig vielleicht, aber moralisch nicht tiefer stehend als die Erwartung einer Frau, für ihre Hingabe an einen reichen Mann in ein besseres Milieu versetzt zu werden und nicht mehr arbeiten gehen zu müssen.

Huren waren eine Normalität, wie nette und nervige Nachbarn und Hausmeister. Es wurde über sie getratscht wie über andere Hausparteien auch. Man nannte sie nicht Huren, sondern „die Lilli“ oder „die Susi“, und sie sprachen unsere Sprache und unseren Jargon. Das war anders als heute, da Exotinnen den Beruf ausüben und oft irgendwo im Niemandsland der Container-Siedlungen wohnen, Bordelle wie Bedürfnisanstalten geführt werden, nur ihrem traurigen Zweck dienend.

Viele Jahre später, als meine Mutter längst im Kaufhaus arbeitete, ich aber selbst servieren ging, um mein Studium zu finanzieren, lernte ich in jeder deutschen Stadt, in der ich auf diese Weise die Sommerferien zubrachte, zuerst die Huren kennen. Sie waren Nachtvögel, und sie hatten Zeit, wenn auch ich mit meinem Dienst zu Ende war. Sie kannten die Stadt und ihre Leute, die feine Gesellschaft und ihre Ränder – und den Abschaum sowieso. Sie waren versiert im Umgang mit Autoritäten und unerschrocken. Unter ihnen gab es große Erzählerinnen. Und diskret waren sie gar nicht. Unter ihresgleichen verrieten sie ihre Kunden mit teuflischem Vergnügen.
Einmal war ich mit einer Arbeitskollegin unterwegs, die aus dem Geschäft ausgestiegen war. Der Morgen graute schon, als wir in Flensburg eine Frühbar betraten und sie wie ein Raubtier einen Satz zurückmachte und mir zuschrie: „Lauf!“ Wir rannten um unser Leben, zwei Männer hinter uns her. Und dann knallte es, aber es war nur ein Schreckschuss ihres einstigen Zuhälters gewesen.

Früher hatte ich von Huren immer wissen wollen, warum Männer zu ihnen gingen. Ich hatte immer geglaubt, dahinter stehe ein Geheimnis, und die Huren wüssten es. Sie wüssten, was normale Frauen nicht wissen. Aber es gab kein Geheimnis. Die ganze Sache, das wurde bald klar, war banaler, als ich mir anfangs vorstellen konnte. Und daran wird sich wohl nie etwas ändern, auch wenn sich sonst alles an diesem Beruf geändert hat.
Man hat vergessen, dass er einmal mitten im Volk stattgefunden hat und nicht an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt war, mit all den desaströsen menschlichen Konsequenzen.