Eingang zum Landesgericht für Strafsachen Wien.
Gerichtsreportage

IS-Rückkehrerin Evelyn T.: „Wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen“

Evelyn T. reiste 2016 als Teenagerin nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen. Heute wurde sie am Straflandesgericht Wien wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation zu zwei Jahren bedingter Haft verurteilt.
Eva Sager

Von Eva Sager

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Es ist der 9. April 2025, kurz vor 10:00 Uhr und im dritten Stock des Straflandesgerichts Wien stehen fünf Kameras. Sie filmen die geschlossene Holztüre eines Verhandlungssaals, schwenken immer wieder auf die Traube von Journalist:innen, die vor ihr auf den Einlass warten. Saal 303. In ihm wird es gleich zum ersten Prozess seiner Art kommen, hier wird sich heute die Wiener IS-Rückkehrerin Evelyn T. verantworten. Der Vorwurf: Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. 2016 reiste sie nach Syrien, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen, seit März 2025 ist sie wieder in Österreich. Schon von Verhandlungsbeginn an ist klar, Evelyn wird gestehen.

Dafür braucht es allerdings eine kleine Zeitreise. Im Eröffnungsstatement sagt ihre Anwältin: „Die Straftaten, die meiner Mandantin vorgeworfen werden, liegen acht Jahre zurück. Wir müssen uns also vorstellen, vor uns sitzt heute keine 26-jährige Frau, sondern eine 17-jährige Jugendliche.“ Dann beginnt Evelyn zu erzählen. Sie sitzt in der Mitte des vollgefüllten Saals, trägt schwarzen Blazer, schwarze Hose und offenes, langes Haar, die Spitzen sind blond gefärbt. Mehr als zwei Stunden redet sie durch, beantwortet jede Frage, präsentiert sich als geläuterte Frau.

Evelyns Radikalisierungsgeschichte beginnt, als sie die Pflichtschule beendet. Sie ist 14 Jahre alt und überfordert. Im Saal 303 beschreibt sie diese Zeit so: „Ich wusste nicht, wo ich hingehöre, hatte keine Zukunftsvorstellungen und habe mich anders gefühlt. Es war, als wäre ich in einer Grube, aus der ich nicht mehr herauskomme.“ Ihre Cousine erzählt ihr vom Islam, stellt ihr neue Freunde vor, viele von ihnen sind bereits stark radikalisiert. Bis dahin hat Religion in Evelyns Leben kaum eine Rolle gespielt. Ihre Mutter ist Christin, der Vater Moslem, aber außer Feste wie Weihnachten und Ostern feiern sie zuhause nichts. Ermutigt von ihrem neuen Freundeskreis, beginnt Evelyn streng gläubig zu leben, verschleiert sich, geht nicht mehr vor die Türe. Ihre Eltern können das nicht verstehen. Sie versuchen ihr zu erklären, dass man den Islam nicht derart konservativ auslegen muss, aber Evelyn will das nicht hören. „Meine Freunde waren damals meine Familie“, sagt sie.

Dann tritt ein Mann in ihr Leben. Er ist gutaussehend, charmant und zehn Jahre älter. Seine Familie ist in der islamistischen Szene in Wien ziemlich bekannt, sie engagiert sich in einschlägigen Moscheen. „Alle Ängste über die Dinge, die ich nicht über mich selbst oder meine Zukunft wusste, hat er mir genommen“, sagt Evelyn. Sie heiraten, zumindest nach islamischem Recht. Kurz nach der Eheschließung beginnt er ihr vom Islamischen Staat zu erzählen. Er findet, dort könnten sie endlich genauso leben, wie sie es für richtig halten – gemeinsam.

Laut Anklage versucht Evelyn Ende April 2015 erstmals über die Türkei zum IS auszureisen. Ihr Mann ist bereits seit einigen Tagen dort, wird von der Terrormiliz zum aktiven Kämpfer ausgebildet. Am Flughafen in Istanbul will man sie jedoch nicht einreisen lassen und schickt sie zurück nach Wien. Keine zwei Monate später, im Juli 2015, versucht sie es mit dem Reisepass ihrer älteren Schwester erneut. Dieses Mal aber, so die Angeklagte, wäre das Ziel nicht der IS gewesen, sondern ihr Mann, den sie in der Türkei treffen wollte. Zwei Monate wartet sie in Istanbul auf ihn, doch er schafft es nicht aus Syrien weg. Während dieser Zeit hat Evelyn keinen Kontakt zu ihrer Familie. Heute sagt sie: „Es war ein Alptraum für meine Eltern. Aber ich konnte mich ja nicht melden und sagen, ich bin hier in der Türkei und warte auf meinen terroristischen Freund.“

Am 17. September 2015 kehrt Evelyn zurück nach Österreich und kommt für zwei Wochen in Haft – die Behörden haben Kenntnis von der Reisetätigkeit der IS-Sympathisantin erlangt. Wieder auf freiem Fuß nimmt sie über Messenger-Dienste erneut Kontakt zu ihrem Mann auf. Es dauert nicht lange, bis er ihr schreibt: „Du kommst jetzt nach Syrien. Ich bin dein Mann, du bist meine Frau.“ In der Verhandlung sagt Evelyn: „Ich war zu dem Zeitpunkt streng gläubige Muslima, da ist der Mann das Gesetz.“ Auch ihr Freundeskreis ermutigt sie immer wieder, ihrem Mann nach Syrien zu folgen. Am 19. Juni 2016 setzt sich Evelyn also in einen Zug nach Athen, nimmt den Bus zur türkischen Grenze und lässt sich von Schleppern mit rund 40 weiteren Personen, die zum IS wollten, nach Syrien bringen.

„Mein größter Feind war mein Mann“

Ihren Mann trifft sie in Raqqa wieder, einer IS-Hochburg im Norden Syriens. Er erholt sich gerade von einer Schussverletzung, die er bei Kampfhandlungen gegen das syrische Regime erlitten hat. Den beiden wird dort eine Wohnung zugewiesen, er arbeitet fortan als Koch und in einer Tankstelle, sie kümmert sich derweil um den Haushalt. Ihre Anwältin betont, Evelyn habe dort „wie eine Gefangene gelebt“, durfte nur vollverschleiert und in Begleitung ihres Mannes das Haus verlassen, der Kontakt zu anderen Frauen war ihr untersagt. Das schöne Leben, das ihr Mann ihr versprochen hatte, gibt es nicht. „Alles war eine Lüge. Alles war Manipulation“, sagt Evelyn.

Als Evelyn erfährt, dass sie schwanger ist, ändert sich alles: „Das war ein Weckruf. Ich habe mir die Frage gestellt: Will ich dieses Leben für mein Kind?“ Ihre Antwort: Nein. Sie will weg vom IS. Doch ihr Mann will sie nicht gehen lassen. Evelyn sagt: „Mein größter Feind war mein Mann.“ Erst als ihr Sohn im Mai 2017 auf die Welt kommt, ändert auch der Vater seine Meinung.

Am 1. November 2017 ergibt sich das Paar den alliierten Kräften der Freien Syrischen Armee (FSA), nachdem diese dem IS eine herbe Niederlage zugefügt hatten. Evelyn wird ins Camp Roj gebracht, einem kurdischen Gefangenenlager für IS-Angehörige in Syrien. Dort lebt sie bis Ende Februar 2025 mit ihrem Sohn. Die Zustände im Camp sind katastrophal. Ständig brennen Zelte, weil man nur mit Kerosin heizen kann, es gibt kein fließendes Wasser, kaum medizinische Versorgung. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Frauen, die dem IS abschwören wollten und jenen, die noch an die Terrormiliz glauben. Auch gegenüber Evelyn wird eine andere Gefangene handgreiflich, bezeichnet sie als Verräterin. „Ich habe immer noch Narben von dem Angriff“ sagt Evelyn. 

Kontakt zu ihrem Mann hat Evelyn seitdem keinen mehr. Dieser wurde nach seiner Gefangennahme in den Irak überstellt und soll dort als ehemaliger IS-Kämpfer inzwischen gerichtlich zum Tod verurteilt worden sein.

Die Causa Maria G.

Evelyn war mit ihrer Ausreise nach Syrien nicht allein. Fünf Österreicherinnen schlossen sich bis zum Kollaps des IS 2019 der islamistischen Terrormiliz an. Nur zwei von ihnen kehrten Anfang März nach Österreich zurück. Neben Evelyn saß auch die Halleinerin Maria G. im Flugzeug. Die im April 2014 ausgereisten Wienerinnen Sabina S. und Samra K. sollen bei Anschlägen in Syrien getötet worden sein, die Grazerin Soumaya T. befindet sich seit Jänner 2025 auf der Flucht. profil berichtete.

Evelyn und Maria waren also die letzten österreichischen Frauen im Gefangenenlager Camp Roj. Ihre Geschichten sind ähnlich. Beide hatten sich als Jugendliche dem IS angeschlossen, beide heirateten IS-Kämpfer, beide wurden Mütter. Die Parallelität endete allerdings nach der Landung am Flughafen in Wien-Schwechat. Während Maria mit ihren zwei Kindern zu ihrer Familie nach Salzburg zurückkehren konnte, wurde Evelyn T. festgenommen. Die Wiener Staatsanwaltschaft beantragte Untersuchungshaft wegen Flucht- und Tatbegehungsgefahr, das Landesgericht für Strafsachen gab dem Antrag statt. Ihren siebenjährigen Sohn musste Evelyn der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) übergeben.

Gegen Maria laufen ebenfalls Ermittlungen. Auch ihr wird Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation vorgeworfen. Anklage oder Gerichtstermin gibt es im Gegensatz zu Evelyn T. allerdings noch keine. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft Salzburg von einer Untersuchungshaft abgesehen: „Es gibt keine Anhaltspunkte, die eine Tatbegehungsgefahr begründen würden“, sagt Sprecherin Elena Haslinger. Die Rückkehrbestrebungen von Maria G. seien seit 2019 aktenkundig, seither habe sie keine Äußerungen gemacht, die auf eine fortwährende Nähe zum IS hindeuten würden. Auch sonst gebe es keinen Grund, der eine Untersuchungshaft rechtfertigen würde.

Wann und ob Maria G. vor Gericht muss, ist momentan also noch nicht abzusehen. Einen Präzedenzfall würde es mit Evelyn T. seit heute jedenfalls geben. Kurz nach 13:00 Uhr wird sie zu zwei Jahren bedingter Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung betonte der Vorsitzende des Schöffengerichts, dass es sich hierbei um einen einzigartigen Fall handeln würde. Rein juristisch sei ein Strafmaß von bis zu zehn Jahren Haft möglich gewesen. Es müssten jedoch mehrere mildernde Umstände berücksichtigt werden, so das Gericht. Ihr im Tatzeitraum großteils noch jugendliches Alter, die freiwillige Rückkehr nach Österreich sowie das reumütige und umfassende Geständnis wären in die Strafzumessung eingeflossen. Auch die beinahe acht Jahre, die die Angeklagte im Gefangenenlager Camp Roj in Syrien verbracht hatte, hätten dazu beigetragen, die Strafe nur bedingt auszusprechen.

Evelyn stellt am Ende der Verhandlung klar: „Ich habe dem IS abgeschworen und will damit nichts mehr zu tun haben. Im Gegenteil: Wenn ich andere Jugendlichen mit meiner Geschichte davon abhalten kann, sich zu radikalisieren, werde ich das tun.“ Und: „Was ich getan habe, tut mir wirklich sehr leid. Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen. Das kann ich aber nicht. Also werde ich alles tun, um diese zweite Chance zu nützen.“

Dann verlässt sie den Saal 303. Evelyn darf nachhause.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Eva Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Kultur, Gesellschaft und Gegenwart.