Wahlkampf: Was darf man sagen? Welche Themen sind tabu?

Pssssssst: Was darf man sagen? Welche Themen sind im Wahlkampf tabu?

Der Wahlkampf hat kaum begonnen und droht schon zu entgleisen. Eva Linsinger über peinliche Scheingefechte.

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Fünf Minuten Ruhm? Patrick F. bekam gleich eine ganze Woche. Es begann, wie vieles in den Schreihals-Medien beginnt. Der 28-Jährige Wiener postete auf Facebook ein Video: eine Minute und 47 Sekunden lang, recht laienhaft (aus dem fahrenden Auto), in deutlicher Sprache ("Wie gibt es das, dass ein Afghane nach einem Vergewaltigungsversuch auf der Donauinsel nicht in U-Haft kommt?"), aber gemessen an dem hasserfüllten Müll, der sonst die sozialen Medien verstopft, in nachgerade moderatem Ton.

So weit, so alltäglich. Doch die Geschichte hatte Fortsetzungen: Patrick F., ein Wiener Krankentransportfahrer, wurde von seinem Arbeitgeber entlassen, sein Video avancierte zum Internet-Hit. Der Verdächtige kam doch noch in U-Haft, und Patrick F. genoss prompt Heldenstatus als "Wut-Vater" und hatte Termine bei FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache (erwartbar) und bei Bundeskanzler Christian Kern (überraschend). Die Entlassung wurde zurückgenommen, es hagelte Jobangebote. Dieses bizarre Populismus-Stakkato schraubte sich in der Vorwoche nach oben, auch weil viele Teilnehmer explizit um Nichtberuhigung der Lage bemüht waren: Patrick F., der sein Video ausgerechnet in Dienstuniform aufgenommen hatte; sein Arbeitgeber, der offenbar nicht verinnerlicht hat, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nie nur für bequeme Äußerungen gedacht war - und Politiker, die beim Aufreger der Woche immer gern dabei sein wollen, und sei es in einer Statistenrolle.

Diese schlechte Posse aus Reaktion und Überreaktion war wohl erst der Anfang, immerhin wird der Wahlkampf noch verflixt lange 13 Wochen dauern - mehr als genug Zeit für weitere kollektive Erregungen.

Der Mythos vom linken Mainstream hält sich hartnäckig – aber egal, wo man ihn sucht, er ist nicht aufzufinden.

Was darf, kann, muss man sagen? Und wie? Eigentlich ist das recht leicht zu beantworten: fast alles, solange es niemanden herabwürdigt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legt das Recht auf freie Meinungsäußerung aus guten Gründen sehr weit aus, um vor allem Staaten enge Grenzen für die Einschränkung der Redefreiheit zu setzen. Juristisch ist der Fall klar, politisch schon viel weniger. Hartnäckig hält sich der Mythos, dass Österreich ein sinistres Pssst-Land sei, randvoll mit Tabu-Themen und vorgeschriebenen Gesinnungen. Da beklagt etwa der Red-Bull-Magnat Dietrich Mateschitz allen Ernstes in einem Interview, hierzulande herrsche "Meinungsdiktat". Oder: Ein Buch des Kolumnisten Hans Rauscher trägt den Titel "Was nicht gesagt werden darf" - und niemandem scheint die paradoxe Ironie aufzufallen: Wenn es tatsächlich so ist, wie Mateschitz behauptet, warum wurde das Interview dann überhaupt gedruckt? Worin genau besteht also das Meinungsdiktat? Und was genau darf man nicht sagen - wo das Buch doch erschienen ist?

Man kann auch mit großem Schwung durch Türen rennen, die sperrangelweit offen stehen, und sich danach für diese verwegene Mutprobe feiern lassen. Es ist so leicht, ein Held zu sein!

Migration, Flüchtlinge, Zuwanderung - sind längst keine Pssst-Themen mehr

Nach diesem Muster verlaufen viele Scheindebatten, allen voran jene zu Migration, Zuwanderung und Flüchtlingen. Das sind längst keine Pssst-Themen mehr, ganz im Gegenteil: Integrationsprobleme, Islamismus, Flüchtlingswellen und die daraus resultierenden Kosten genießen breiteste Aufmerksamkeit. Gut so, denn niemand will in jene Zeiten zurück, als alle Schwierigkeiten, sei es in Schulen, sei es im sonstigen Zusammenleben, kleingeredet oder schlicht negiert wurden, vor allem in Wien. Mittlerweile wird über nichts häufiger diskutiert. Daher wirkt es lächerlich, sich als mutiger Tabubrecher darzustellen, wenn man das Thema Zuwanderung oder Kalamitäten mit manchen Muslimen anspricht. Wer macht das nicht? Nichts ist weniger tabu und mehr Mainstream. Laut einer kürzlich veröffentlichen Studie des Londoner Thinktanks Chatham House lehnen zwei Drittel der Österreicher Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Staaten ab. Nur in Polen ist die Ablehnung noch ausgeprägter.

Vorbehalte gegen Zuwanderung sind Mehrheitsmeinung, das sagen mittlerweile fast alle. Der Soziologe Kenan Güngör, der aus Deutschland nach Österreich kam, hält das "Sagbarkeitsfeld problematischer Äußerungen" hierzulande sogar noch für "deutlich größer" als im Nachbarstaat, wie er kürzlich in einem Interview mit der "Zeit" sagte.

Dieser Meinung muss man sich nicht anschließen. Mit Sicherheit jedoch sind Poltern und Kraftmeiern gegen vermeintliche Tabus populär, im Wahlkampf ganz besonders. Jörg Haider lebte jahrzehntelang prächtig davon, Donald Trump wurde damit gar Präsident der USA. Und wenn Heinz-Christian Strache sonst gerade nichts einfällt, bleibt ihm immer noch sein Lieblingspopanz: "Respekt! Andreas Gabalier lässt sich vom linken Mainstream nicht beeindrucken."

Wonach aber bemisst sich Mainstream? Am Publikumserfolg? An der Lautstärke des Applauses? Nach diesen Kriterien genießt kaum ein Kulturschaffender mehr Massenzuspruch als Gabalier, der vor ausverkauften Stadien spielt. Es sei ihm vergönnt. Nur: Wenn jemand österreichischen "Mainstream" in Reinkultur verkörpert, dann ist es wohl Gabalier. Er selbst verwechselt allerdings gern Mehrheit mit Minderheit und sagt Sätze wie: "Man hat's nicht leicht auf dieser Welt, wenn man als Manderl noch auf ein Weiberl steht." Womit genau man es dabei so schwer hat, bleibt zwar Gabaliers Geheimnis, aber warum soll er sich nicht zum mutigen Kämpfer stilisieren, wenn andere es auch tun?

Die Mär vom "linken" Mainstream in Österreich

Ähnliches gilt für die Mär vom "linken" Mainstream in Österreich, den nicht nur Strache gern beschwört. Auch dieser Mythos hält sich hartnäckig - aber egal, wo man ihn sucht, er ist nicht aufzufinden. Schon gar nicht in den Wahlergebnissen: Eine linke Mehrheit im Parlament gab es zuletzt im Jahr 1979, als die SPÖ die Absolute erreichte. Seit damals hätten SPÖ und Grüne, auch gemeinsam mit dem verblichenen Liberalen Forum oder den NEOS (was schon eine recht großzügige Definition von "links" ist), nie die Mehrzahl der Mandate gehabt. Im Medienbereich gilt dasselbe: Für den Print-Marktführer "Kronen Zeitung" lassen sich viele treffende Bezeichnungen finden - "links" gehört sicher nicht dazu.

Es sei denn, man definiert alles jenseits des Rechtspopulismus als "links". Und selbst da bleibt nicht mehr viel in diesem Wahlkampf, der bisher um das Migrationsthema kreist, nach dem Motto: Wer bietet mehr? Die Drohung mit Panzern am Brenner (Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil) hatten wir schon, die Forderung nach Nullzuwanderung aus Afrika (Kanzler Christian Kern, Kanzleranwärter Sebastian Kurz) auch, den Wunsch nach Schließung der Mittelmeerroute (Kurz) sowieso. FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache muss sich allerhand einfallen lassen, um in diesem Knallhart-knallhärter-Wettbewerb noch mit einem Superlativ aufwarten zu können.

Und manchmal blickt das schon jetzt leicht genervte p. t. Wahlvolk etwas neidisch nach Deutschland und fragt sich: Warum müssen unsere Nachbarn nicht so peinliche Scheingefechte führen? Probleme mit der Bewältigung der Flüchtlingswellen gibt es auch dort ausreichend, einen anschwellenden Wahlkampf genauso - und dennoch kommt die deutsche Debatte weitgehend ohne überhitzte Zwischentöne aus. Wie schaffen die das nur?

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin