Kinderpsychiatrie: Dramatische Mängel bei der Betreuung von Minderjährigen
Die psychiatrische Abteilung im Wiener Otto-Wagner-Spital befindet sich hinter dicken Backsteinmauern. Die Station auf der Baumgartner Höhe im 14. Gemeindebezirk ist eigentlich für psychisch erkrankte Erwachsene konzipiert. Trotzdem werden hier immer wieder minderjährige Patienten untergebracht: Jugendliche wie die 14-jährige Klara M. oder die 15-jährige Anna L.*, die im Winter einige Wochen auf der Abteilung verbrachten. Oder das 13-jährige Mädchen, das in diesem Frühjahr stationär aufgenommen wurde. Inzwischen wird es als Missbrauchsopfer in einem Ermittlungsverfahren geführt. Tatort: Otto-Wagner-Spital.
Am Dienstag, dem 12. Juni, soll die 13-Jährige von einem erwachsenen Patienten in einem Waschraum der psychiatrischen Station missbraucht worden sein. Der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) verweist gegenüber profil auf eine laufende interne Revision. Auch das eingeleitete Ermittlungsverfahren stehe noch am Anfang, sagt Nina Bussek von der Staatsanwaltschaft Wien. Eines aber steht für viele Experten bereits fest: Das Mädchen hätte gar nie im Otto-Wagner-Spital stationiert werden dürfen.
"Dieser Fall beschreibt die Tatsache, dass in der Kinder-und Jugendpsychiatrie ein massiver Versorgungsmangel besteht. Und der ist seit ewigen Zeiten bekannt", sagt Charlotte Hartl, Obfrau der Bundesfachgruppe Kinder-und Jugendpsychiatrie der Ärztekammer. Fachärzte und Patientenvertreter kritisieren seit Jahren, dass Kinder auf Stationen für psychisch kranke Erwachsene kommen. "Das ist eine Fehlplatzierung, die auch langfristige Folgen haben kann", meint Volksanwalt Günther Kräuter: "Die Konfrontation mit psychisch erkrankten Erwachsenen ist für Minderjährige massiv belastend, weil dort die Auswirkungen von chronischen Krankheitsbildern im Erwachsenenalter sichtbar werden."
Platzmangel
Das Problem: Auf den psychiatrischen Stationen für Kinder und Jugendliche fehlt es an Plätzen. Allein in Wien mussten im vergangenen Jahr mehr als 130 Minderjährige auf Erwachsenenstationen untergebracht werden. "Die Kollegen vor Ort tun mir von Herzen leid, weil sie ein strukturelles Defizit auffangen müssen", sagt Helmut Krönke, bis 2016 leitender Oberarzt in der Kinder-und Jugendpsychiatrie im Wiener AKH. Vergangenes Jahr eröffnete Krönke seine eigene Wahlarztordination im 8. Bezirk. Bei suizidalen Jugendlichen werde die Frage über eine stationäre Einweisung zur Qual: "Schicke ich sie ins Otto-Wagner-Spital, bin ich zwar als Arzt auf der sicheren Seite, weiß aber, dass sie dort nicht adäquat behandelt werden können." Auf den Stationen sei man weder mit der Medikation für Kinder vertraut, noch gebe es das notwendige Betreuungsangebot, sagt der Kinderpsychiater: "Die Jugendlichen werden dort nicht behandelt, sondern schlicht verwahrt."
Darunter litt auch Anna L. Die 15-Jährige musste vergangenen Dezember nach einem Suizidversuch stationär aufgenommen werden. Da in der Jugendpsychiatrie am Rosenhügel in Wien kein Platz frei war, musste sie vorerst ins Otto-Wagner-Spital. "Für junge Menschen ist das wirklich eine triste Umgebung", sagt Annas Mutter. Abgesehen von kurzen Gesprächen mit Psychologen sei Anna dort nicht behandelt worden. Frau L. klagt auch über fehlende Sicherheitsvorkehrungen: "Einmal hat sich meine Tochter einen Teller geschnappt, in ihrem Zimmer zerschlagen und sich dann mit dem Scherben aufgeschnitten. Die Antwort der Ärzte war: ,Wir haben zu wenig Personal.'"
Alle zwei bis drei Tage wurde Anna auf den Rosenhügel transportiert, um von einem Facharzt untersucht zu werden. "Meine Tochter musste jedes Mal stundenlang warten, bis sie dran war, und danach wieder eineinhalb Stunden auf den Transport zurück ins Otto-Wagner-Spital", sagt Annas Mutter. Laut Kinderpsychiater Krönke ist dies ein üblicher Ablauf: "Aus ärztlicher Sicht ist das ein Unding, weil die Jugendlichen jedes Mal auf einen anderen Psychiater treffen. Eine Behandlungskonstante ist aber entscheidend." Dazu kommt: "Wenn wir den Jugendlichen vermitteln, dass ihnen nicht geholfen wird, dann werden sie in Zukunft vielleicht gar keine Hilfe bei psychischen Problemen suchen."
Alarmierendes Studienergebnis
Das wäre aber dringend notwendig. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Kinder-und Jugendpsychiatrie an der Medizinuniversität Wien gemeinsam mit der Ludwig Boltzmann Gesellschaft erstmals valide Studiendaten zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen in Österreich. Das Ergebnis ist alarmierend: Ein Viertel der 10-bis 18-Jährigen (170.000) leidet an ernsthaften psychischen Problemen. Etwa 100.000 brauchen laut Einschätzung der Experten eine fachärztliche Betreuung.
Die Defizite im stationären Bereich sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Österreich hinkt bei der Betreuung psychisch erkrankter Kinder in allen Bereichen hinterher. Während etwa in Deutschland die Ausbildung zum Kinderund Jugendpsychiater bereits 1968 als eigenes medizinisches Fach anerkannt wurde, erfolgte dies in Österreich erst 2007. In Deutschland gibt es heute einen entsprechenden Facharzt pro 80.000 Einwohner; Österreich ist davon noch weit entfernt.
Mit der Einführung des Sonderfaches entstanden bundesweit sechs kinderund jugendpsychiatrische Spitalsabteilungen. Vollversorgung im stationären Bereich würde gemäß Österreichischem Strukturplan Gesundheit (ÖSG) bedeuten: ein Spitalsbett pro 10.000 Einwohner. Das entspricht rund 860 tagesklinischen und stationären Plätzen. Derzeit existiert erst knapp die Hälfte dieser Planstellen. "Durch die fehlenden Spitalsbetten können wir auch nicht so viele Jungmediziner zu Fachärzten ausbilden, wie wir für die Versorgung brauchen würden -egal ob im Spital oder in der Niederlassung", sagt Reiner Fliedl, Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie (ÖGKJ). Für die Versorgung in den Ordinationen, Ambulanzen und Spitälern des öffentlichen Gesundheitsbereiches wären laut ÖGKJ österreichweit 350 Fachärzte notwendig. Aktuell listet die Ärztekammer 174 auf.
"Enorme Belastung"
Besonderes Defizit: In ganz Österreich gibt es derzeit nur 27 Kinderpsychiater mit Kassenvertrag. Für eine niederschwellige, wohnortnahe Basisversorgung der betroffenen Kinder wären laut Ärztekammer 100 notwendig. In der Steiermark und im Burgenland gibt es bis heute keine einzige Kassenstelle für Kinder-und Jugendpsychiatrie; Burgenland führt auch keine stationären Betten. "Für uns Kinder- und Jugendpsychiater ist die Triage, die wir täglich in unseren Ordinationen durchführen müssen, eine enorme Belastung", sagt Fachgruppen-Obfrau Hartl, die selbst eine Kassenordination in Niederösterreich führt: "Wir sind gezwungen, eine Auswahl zu treffen, weil wir derzeit im Kassenbereich nur die wirklich ,schlimmen' Fälle akut übernehmen." Auf einen Termin beim Kassenarzt müssen Jugendliche oft monatelang warten. "In dieser Zeit verschlechtern sich die Symptome oft drastisch", sagt Psychiater Krönke: "Bei manchen Kindern kommt es sogar zu Entwicklungsrückschritten."
Dazu kommt: Viele sozial benachteiligte Familien können sich die Behandlung ihrer Kinder schlicht nicht leisten. Nicht ärztliche Leistungen von Psychologen, Ergo- oder Psychotherapeuten werden nur zum Teil von den Kassen übernommen. Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger kündigte vergangene Woche zwar Verbesserungen an: Mit September soll der Kostenzuschuss der Kassen für Psychotherapiestunden von den derzeit 21,80 Euro auf 28 Euro angehoben werden. Für Krönke ist das bei Kosten von 70 bis 130 Euro pro Therapieeinheit aber nur "ein Tropfen auf dem heißen Stein".
Anna L. befindet sich inzwischen auf dem Weg der Besserung. Eine intensive Betreuung braucht sie aber nach wie vor. "Wir haben das Glück, dass wir uns das leisten können", sagt Annas Mutter. "Wer hier Hilfe braucht, ist wirklich großteils auf sich allein gestellt."