Psychotherapeutin am Land: „Diagnose kann Doktor Google nun mal nicht”
Die Psychotherapeutin Andrea Weiß leitet eine der wenigen Praxen, die auf Jugendliche spezialisiert ist, am Land in einer oberösterreichischen Marktgemeinde. Ein Gespräch über die Notwendigkeit von „safe spaces” und psychische Nahversorgung am Land.
Sind seelische Probleme am Land noch immer stigmatisiert?
Andrea Weiß
Wir leben alle im selben Tal, gehen im selben See schwimmen, kaufen beim selben Nahversorger ein. Ich grüße deswegen nicht als erste, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil manchen das unangenehm sein könnte. Viele gehen aber mittlerweile offen damit um, dass sie in Psychotherapie gehen. Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass es in der Breite der Gesellschaft angekommen ist, sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern.
Muss man bei der Arbeit mit Jugendlichen andere Zugänge wählen?
Andrea Weiß
Ich biete ihnen einen Safe Space, einen geschützten Raum. Wir gehen zum Beispiel in die Natur, arbeiten durch Rollenspiele alltägliche Situationen auf. Manchmal helfe ich Jugendlichen auch als Mediatorin unterstützend bei großen Themen mit dem Wording mit den Erwachsenen, leite sie an, sich auszudrücken. Ich habe auch einen Therapiehund, ein geschulter Labradoodle namens Henry, der den Patientinnen dabei hilft, Selbstbewusstsein zu fördern und Stress abzubauen.
Warum sind sogennante „Safe Spaces” gerade am Land wichtig?
Andrea Weiß
Die Jugendlichen haben eigentlich die gleichen Bedürfnisse und Sorgen wie in der Stadt. Alle hängen an der digitalen Nabelschnur ihres Smartphones. Am Land gibt es natürlich eine viel größere Abgrenzungsproblematik untereinander, außerdem nimmt sich jeder das Recht heraus, eine Meinung über einen anderen zu haben. In der Behandlung kann man sich offenlegen, ohne die Angst, dafür Kritik einheimsen zu müssen. Deshalb ist Psychotherapie für Jugendliche, gerade in ländlichen Regionen besonders wichtig. Ich bin mir sicher: Dafür würden viele nicht den Weg nach Linz auf sich nehmen.
Psychotherapie auf Krankenkasse bedeutet sowohl für Patientinnen lange Wartezeiten, als auch für die Therapeuten weniger Einkommen. Rentieren sich die Kassenplätze?
Andrea Weiß
Ich versuche in meiner Praxis innerhalb von ein bis zwei Wochen einen Ersttermin zu vergeben. Darum arbeite ich auch mit ungewöhnlich langen Öffnungszeiten, täglich von 9 bis 12, dann von 15 bis hin zu 22 Uhr. Für Kinder und Jugendliche ist es nicht gut, lange auf einen Termin warten zu müssen. Probleme können sich chronifizieren. Allein mit den Kassenplätzen zum aktuellen Kostenersatz könnte ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten.
Ich grüße nicht als erste, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil manchen das unangenehm sein könnte.
Sie sind eine der wenigen Psychotherapeutinnen mit Spezialisierung auf Jugendliche in Windischgarsten, im Bezirk Kirchdorf. Wie hoch sind Nachfrage und Versorgungsdefizite?
Andrea Weiß
Die Nachfrage ist sehr hoch, selbst in den Sommerferien habe ich wöchentlich Erstgespräche. Ich arbeite pro Woche 25 bis 30 Stunden, was sehr viel ist für eine Psychotherapeutin ist. 60 Prozent meiner Patientinnen sind Kinder und Jugendliche. Über die im Zuge der Pandemie vom Gesundheitsministerium gegründeten Initiative „Gesund aus der Krise”, wo Kinder und Jugendliche unkompliziert und kostenfrei einen Therapieplatz zugewiesen bekommen, habe ich acht Plätze zugeteilt bekommen.
In Österreich ist kassenfinanzierte Psychotherapie kontingentiert. Das gilt auch für „Gesund aus der Krise“. Nach 15 Stunden gibt es die Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um höchstens fünf Stunden. Kann man innerhalb dieses Kontingents psychische Störungen heilen?
Andrea Weiß
Für gewöhnlich nicht. Für zwei meiner Patientinnen habe ich eine Erhöhung von fünf Stunden erreicht – das war auch nicht ausreichend. Therapie ist nichts Olympisches, sie läuft nicht auf Zeit. Aber ich will die 15 Stunden nicht kleinreden. Es kann eine lehrreiche und heilende Zeit sein, wo gute Strukturen initiiert werden. Kinder mit einer längerfristigen Leidensgeschichte werden damit nicht auskommen. Um nochmal auf die Kosten zurückzukommen: Gesund aus der Krise bietet auch erstmals einen fairen Kostensatz von 105 Euro die Stunde für die Psychotherapeutinnen – bei relativ durchschaubarer Bürokratie.
Wie gehen Sie damit um, wenn das Kontingent aufgebraucht ist – was raten Sie Ihren Patientinnen?
Andrea Weiß
Ich halte sehr viel von Gruppentherapien, sie sind eigens kontingentiert. Sie funktionieren sogar bei uns am Land. Die Leute trauen sich inzwischen, sich zu zeigen und einander zu begegnen. Damit kann man auch die Zeit überbrücken, bis die Einzeltherapie losgeht.
Der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) fordert 112 Euro pro Einheit. Wie viel bekommen Sie pro Stunde erstattet?
Andrea Weiß
In etwa 76 Euro. Nur Kassenplätze allein anzubieten wäre also, wie schon erwähnt, nicht möglich. Ich verstehe auch, dass viele Kolleginnen das nicht machen. Dass Psychotherapie nicht auf Krankenschein, wie jede andere medizinische Leistung, angeboten wird, ist für mich nicht nachvollziehbar. Es ist noch immer eine Art Glücksspiel, wer sich die Behandlung über die Krankenversicherung leisten kann.
Der ÖBVP fordert etwa doppelt so viele Behandlungsstunden, wie derzeit von Psychotherapeutinnen angeboten werden, um den Bedarf an Psychotherapie zu decken.
Andrea Weiß
Wichtig ist, dass Krisen sofort eine Begegnung brauchen. Mit einem gebrochenen Arm würde man auch nicht weggeschickt werden, wenn man sich aber die Psyche „verstaucht“ hat, ist das genauso wenig zu ertragen. Die psychiatrischen Ambulanzen sind brechend voll und Kids werden weggeschickt – das darf es nicht geben. Dabei hat Freud in Österreich den Grundstein für die Psychotherapie gelegt.
Sie bieten auch Sexualtherapie an und haben eine zweite Praxis in Linz. Was sind hier die größten Anliegen?
Andrea Weiß
Ich frage in jedem Erstgespräch, ob sich die Person sexuell wohl fühlt. Da muss man nicht erst die Mauer einbrechen, sondern wissen, dass die Tür zu diesem Thema offen steht. Das Ergebnis soll ein freundschaftlicher Umgang mit sich selbst sein. Ob in einer Beziehung oder ohne – es ist etwas höchstpersönliches, über die eigenen Bedürfnisse in der Sexualität Bescheid zu wissen und mit dem wunderbaren Körper, den wir alle haben, befreundet zu sein.
Damit sprechen Sie bestimmt auch die LGBTIQ-Community stark an. Gibt es Unterschiede zwischen Windischgarsten und Linz?
Andrea Weiß
Die Praxis in Linz ist eine Begegnungsstätte für LGBTIQ-Personen, die etwa Begleitung auf dem Weg zur Transition brauchen. In der Praxis in Windischgarsten ist mir wichtig, dass Sexualität ein Thema ist, über das wir genauso reden wie über die Frage „Was koche ich heute?“.
Warum gehen Sie einen so hohen Aufwand ein, Kassenplätze anzubieten und Ihre Praxen bis in die Nacht offen zu halten?
Andrea Weiß
Ich bin ein Nachtmensch (lacht). Zu Psychotherapie gehört auch ein bisschen Leidenschaft. Es ist ein Dienst an den Menschen. Wenn mich jemand verzweifelt anruft, der unbedingt einen Termin braucht, kann ich die Person nicht auf fünf Wochen vertrösten. Die Krise lässt sich nicht vertagen.
Pandemie, Krieg, Finanzen: Jugendliche müssen multiple Krisen bewältigen. Gleichzeitig wird Mental Health zur Priorität – und auf sozialen Medien immer mehr zum viralen Thema. Fällt Ihnen das in den Behandlungen auf?
Andrea Weiß
Ja, natürlich. Social Media ist deren Welt, das ist ganz klar nachvollziehbar. Wir hatten früher auch die ganze Brockhaus-Enzyklopädie zu Hause und haben sie konsultiert. Warum nicht, also ich finde das gar nicht so verwerflich.
Hierbei kursiert auch viel Desinformation. Besonders Videos zu ADHS gehen viral und verleiten zur Selbstdiagnose. Kann man sich in eine psychische Krankheit hineinreden?
Andrea Weiß
Wenn mir das in der Praxis erzählt wird, frage ich erstmal nach, warum die Person denkt, dass sie das konkret betrifft. Wenn Jugendliche sich von gewissen Videos repräsentiert fühlen, höre ich hin. Es ist wichtig, multiprofessionell, etwa mit Diagnostikern, zu arbeiten, um sich Klarheit zu verschaffen. Denn Diagnose kann Doktor Google nun mal nicht leisten.