Rainer Nikowitz

Rainer Nikowitz Reichtumszeugnis

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Es war keineswegs so, dass Michael Spindelegger seine größte Schwäche nicht gekannt hätte. Schon seit er sich vor 35 Jahren beim ÖAAB-Kränzchen in Felixdorf widerstandslos vom stellvertretenden Bezirkssekretär seine Tanzpartnerin ausspannen hatte lassen, war ihm klar: Er war einfach zu weich. Maria Fekter hätte in seiner Situation ­sicher weniger Skrupel gehabt. Und wäre mit dem Pack, das in den Gängen des Finanzministeriums herumlungerte, ganz anders umgesprungen. Gerade, weil sie für solche Situationen gewappnet sein hatte wollen, war in Mitzis Ära extra ein Hundezwinger im Ministerium eingerichtet worden – in den Räumlichkeiten der zeitgleich aufgelassenen Abteilung für Internationale Beziehungen.
Die Situation hatte sich in den vergangenen Wochen rapide verschlechtert. Auf dem Weg zu seinem Büro erwartete Michael mittlerweile täglich ein Spießrutenlauf, der an den Nerven zerrte. Ein Parcours des Grauens. Arme, von allen Seiten dürre, faltige Arme, die sich ihm hilfesuchend entgegenstreckten. Wimmern und Klagen. Flehentliches Bitten. Tag für Tag zwängte er sich durch, raschen Schritts und den Blick stur zu Boden gerichtet, um nicht in die tränennassen Augen in den verzweifelten Gesichtern schauen zu müssen. Michael war nicht aus Stein. Das Leid all dieser Menschen ging ihm zu Herzen. Aber es gab leider nichts, was er für sie tun konnte. Der Finanzminister verstand jetzt, wie sich ein Edelmann des 16. Jahrhunderts im Bettlerviertel von Paris gefühlt haben musste. Oder nein, noch schlimmer: Michael fühlte sich wie derjenige in einem ­Lepra-Dorf, der als Einziger noch genügend Finger für die Fernbedienung hat. Und der sich leider gezwungen sieht, den anderen immer wieder sagen zu müssen, dass der Fernseher aber sicher nicht aufgedreht wird.

Die offensichtliche Ausweglosigkeit heizte natürlich langsam auch die Stimmung auf. Das Bitten und Betteln schien Michael von Mal zu Mal ein wenig zorniger zu werden. Ab und zu griff eine Hand aus der Allee von Händen nach ihm und hielt ihn am Ärmel fest, bis sein Bodyguard eingriff. Manche in der Masse der Hoffnungslosen waren noch dazu abhängig und ließen jetzt immer öfter absichtlich ihre Spritzen im Weg herumliegen. Michael trug nur mehr die Schuhe mit den ganz dicken Sohlen, um gut geschützt zu sein, falls er einmal auf eine treten sollte. Botox in der Ferse hätte ihm gerade noch gefehlt. Vorige Woche hatte ihn ein Mann mit einer eigenartig riechenden, roten Flüssigkeit bespuckt. Zum Glück hatten sich dann im Labor sämtliche Befürchtungen als grundlos erwiesen. Es war nur ein 48er Bordeaux. Michael hatte dann sogar versucht, in einem offenen Brief die Wogen zu glätten. Aber da der rote Faden, der sein Leben durchzog, leider unzweifelhaft eine Kette von Missverständnissen war, hatte er auch damit alles nur noch schlimmer gemacht. Dass der Aggressionspegel aber schon so hoch gestiegen war, wie er an diesem Morgen noch erfahren sollte, das war dann doch schockierend.
Es passierte knapp vorm Ziel. Fünf, sechs Meter fehlten, dann wäre Michael in seinem Zimmer gewesen. Vielleicht war der Sicherheitsmann, der vor ihm ging, deshalb nicht mehr so ganz konzentriert gewesen, durch das Gefühl, es ohnehin praktisch schon geschafft zu haben. Er stolperte über einen plötzlich daliegenden Golfschläger, kam ins Straucheln und knallte der Länge nach auf den Boden.

Michael stand völlig schutzlos da. Und die paar Sekunden, die sein Bodyguard brauchte, um sich wieder aufzurappeln, reichten leider.

Ein Mann trat aus der Menge. Er trug einen Kampfanzug. Also graues Tuch, maßgeschneidert, Manschettenknöpfe im Gegenwert der kalten Progression Eisenstadts. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. Er hob den Arm. Michael sah die Waffe in seiner Hand, doch er war wie gelähmt. Der Attentäter rief: „Nimm das!“ Und dann warf er. Seine Waffe explodierte in der Luft in hunderte Einzelteile, die auf den wehrlosen Michael herabregneten. Er spürte die Hitze ihrer Treffer. Einen, zwei, zehn, fünfzig! Schmerzen, unerträgliche Schmerzen!

Endlich hatte sich sein Leibwächter wieder aufgerafft. Er packte Michael und zerrte ihn so schnell er konnte aus der Schusslinie, in sein Büro. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Der Leibwächter brüllte: „Schnell! Der Minister braucht Hilfe! Irgend so ein reiches Schwein hat ihn mit Geld beworfen!“
Den geschockten Mitarbeitern bot sich ein Bild des Grauens. Michael lag ächzend auf dem Boden, vereinzelt klebten immer noch Fünfhunderter-Scheine auf ihm und ­ätzten sich langsam ihren Weg durch den Anzugstoff. Es würde ein Weile dauern, die alle unschädlich zu machen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten. Aber ­Michael hatte Glück im Unglück gehabt. Es stellte sich rasch heraus, dass seine Verletzungen nur oberflächlich waren. Seine Prinzipien würden diese feige Attacke der Reichen unbeschadet überstehen.

Und morgen, morgen schickte er ihnen die Fekter.

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