Gedenkstätte Kreuzstadl

Rechnitz: Neue Details zum NS-Massenmord im Burgenland

Die Milliardärin Margit Batthyany-Thyssen spielte bei der Ermordung von 180 Juden im burgenländischen Rechnitz im März 1945 eine Schlüsselrolle. Ihr Großneffe enthüllt in einem neuen Buch düstere Familiengeheimnisse.

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Nebel verschleiert die Sicht. Tabakrauch erfüllt das Innere des roten VW-Kombis. Die Autofahrt in das burgenländische Rechnitz gestaltet sich nicht eben einfach. Der Musiker und Komponist Paul Gulda, 54, ist auf dem Weg zu einer Sitzung des Erinnerungsvereins Refugius, den er vor 25 Jahren mitgründete. Er ist gerade von einer Südamerika-Tournee zurückgekehrt. Im Auto pafft er eine Joya de Nicaragua. Er sagt: "Die Toten von Rechnitz sind Teil eines schmerzlichen Wundgewebes, das die Welt bis heute überzieht und immer weiter wuchert.“

Wer Rechnitz sagt, der meint Verbrechen und Verdrängen. In der Palmsamstagnacht des 24. März 1945, wenige Tage vor Kriegsende, wurden im burgenländisch-ungarischen Grenzgebiet 180 jüdische Zwangsarbeiter durch Schüsse in den Hinterkopf getötet und inmitten einer kriegsverwüsteten Ackerlandschaft verscharrt. Zeitgleich fand im Schloss Rechnitz ein "Gefolgschaftsfest“ der lokalen NS-Prominenz statt - mit der Milliardärin Margit Batthyany-Thyssen (1911-1989) als Hausherrin. Die historische Aufarbeitung dieser Nacht wurde lange verweigert. Jahrzehntelang stieß man in Rechnitz auf ein Kartell des Schweigens und Schönfärbens.

Der Verein Refugius kümmert sich inzwischen intensiv um die Dokumentierung des Massakers. Das Rechnitz der Gegenwart steht für ein historisches Paradox: In wenigen Kleingemeinden Österreichs dürfte die NS-Geschichte derart gründlich bearbeitet worden sein wie in dem 3000-Einwohner-Ort. Gedenkwege und Denkmäler erinnern an die Opfer, im Ortskern das Mahnmal mit der Aufschrift "Erfragt unser Schicksal und vergesst nie“. Das zerstörte und abgetragene Schloss ist auf Fotos präsent. Zehn Schautafeln informieren über die jahrhundertealte Geschichte einstigen jüdischen Lebens in Rechnitz. Es wird kein Geheimnis daraus gemacht, dass im verwaisten "Gasthaus Rose“ der ehemalige Gauleiter des Burgenlandes bis in die 1960er-Jahre hinein Hitlers Geburtstag in großem Stil feierte.

Mörderische Familiengeschichte

"Und was hat das mit mir zu tun?“, fragt der Schweizer Journalist Sacha Batthyany auf dem Cover seines Buchs. Batthyany, Jahrgang 1973, ist der Großneffe von Margit Batthyany-Thyssen. Sein Buch ist das Ergebnis langjähriger Recherche. Batthyany skizziert darin die Geschichte seiner Familie vor dem Hintergrund der Rechnitzer Mordnacht. Der Autor kramt nicht in Erinnerungen. Er versucht in gewissem Sinn, Klarheit über sich selbst im Zeichen einer Familiensaga in katastrophischen Dimensionen zu erlangen. "Die seelischen Trümmer zu beseitigen - das ist die Aufgabe der Enkel“, schreibt Batthyany. Der Autor meistert die selbst auferlegte Aufgabe mit Überblick und Kompetenz. Die Fleißaufgabe, sein historisches Personal zuweilen in bühnenreifen, spekulativ-imaginierten Dialogen parlieren zu lassen, hätte er sich allerdings sparen können.

Margit Batthyany-Thyssen gehört spätestens seit Erscheinen der Clan-Biografie "Die Thyssen-Dynastie“ (2008) dem Boulevard. Es ist, als hätte man eine Figur gebraucht, die dem Schrecken ein Gesicht gibt. Margit, das Monster. Margit, die Massenmörderin. In englischen Medien heißt sie "Killergräfin“. Die "Bild“-Zeitung titelte: "Thyssen-Gräfin ließ auf Nazi-Party 200 Juden erschießen.“ Der Vater von Sacha Batthyany, lose eingebunden in die Vergangenheitsrecherche seines Sohnes, bringt es im Buch auf den Punkt: Margit, so sei in Medien zu lesen, habe "als Nachspeise 180 Juden in einen Stall gelockt und Waffen verteilt. Alle waren stockbesoffen. Alle durften mal ran.“

Damit werde, merkt der Historiker Walter Manoschek in dem verdienstvollen Studienband "Der Fall Rechnitz“ an, das Verbrechen "zu einem bizarren Ausnahmefall gestempelt“. Welche Rolle Batthyany-Thyssen in der Palmsamstagnacht Ende März 1945 spielte, ist indes unklar. Verbürgt ist, dass sie an der Feier im Schloss teilnahm und in engerer Beziehung zu mindestens einem der Verantwortlichen stand. "Sie hat keine Juden ermordet, wie die Zeitungen behaupten. Es gibt keine Beweise. Es gibt keine Zeugen“, schreibt Sacha Batthyany.

Der Großneffe exkulpiert seine Großtante keineswegs willfährig. Er entfernt die diabolischen Züge aus dem festgeschriebenen Porträt, entlarvt die Banalität des Bösen. Margit, gegen Kriegsende 46 Jahre alt und als Stahlkonzernerbin eine der reichsten Frauen Europas, war die Geliebte hochrangiger Nazis, Pferdenärrin und fanatische Jägerin. Ihr Jagdhaus steht bis heute in den Nebeln des Geschriebensteins, der höchsten Bergkuppe des Burgenlands, die man auf der Autofahrt nach Rechnitz hinter sich lässt. Nach 1945 tourte sie regelmäßig auf Kreuzfahrtschiffen durchs Mittelmeer und nahm an Treibjagden in Afrika teil. Sie führte ihren Großneffen Sacha in teure Zürcher Restaurants und steckte in den Pausen zwischen den Sätzen ihre Zungenspitze heraus.

"Verfaulter Keim"

"Tante Margit genoss den Rest ihres langen Lebens, obwohl sie alles über das Massaker gewusst hat“, schreibt Batthyany: "Verfaulter Keim.“ Das Schloss der Batthyanys beherbergte die Logistik der Bauarbeiten am sogenannten Südostwall. Hier befanden sich die Büros der Bauabschnittsleitung, in den Stallungen waren die Zwangsarbeiter elend untergebracht.

Batthyany erweitert den Blick auf das historische Familiengewebe. Sacha Batthyanys Großvater wurde von den Russen in Stalins Gulag verschleppt, seine Großmutter Maritta verlor im Krieg ihren zweiten Sohn. Maritta wurde Zeugin eines Mordes. Sie stand tatenlos daneben, als gegen Ende des Kriegs den jüdischen Eltern ihrer Jugendfreundin Agnes in den Rücken geschossen wurde. Batthyany zitiert aus Marittas Tagebuch: "Wenigstens die Mandls hätte ich retten können. Wenigstens die.“ Agnes überlebte Auschwitz. Batthyany besucht die 90-Jährige in Buenos Aires. Maritta schreibt in ihrem Diarium: "Wir waren eine Familie von Maulwürfen. Wir zogen uns zurück, glaubten an nichts mehr und versanken in uns, den Kopf unter der Erde, immer am Ducken.“

Aus 13 großformatigen Milchglastafeln besteht die Gedenkstätte Kreuzstadl, dem vermuteten Tatort am Ortsrand von Rechnitz. Erinnert wird darauf an die Opfer, auch an jene 20 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter, die in Folge des Totengräberdiensts der März-Nacht 1945 erschossen wurden. Nach dem Krieg wurden drei Personen zu milden Strafen verurteilt, die Haupttäter aber nie ausfindig gemacht. Das Massengrab ist trotz langjähriger Suche bis heute nicht gefunden worden. Eine der 13 Schautafeln ist leer.

Refugius-Vorsitzender Gulda hat das Mahnmal vor mehr als 20 Jahren mitbegründet. "Auf der unbeschriebenen Fläche soll eines Tages die Geschichte von der Auffindung des Grabs erzählt werden“, sagt er. Alles Vergangene erzähle auch etwas über die Gegenwart.

Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Kiepenheuer & Witsch, 256 S., EUR 20,60

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.