Neos-Dilemma: Regieren ist existenzgefährdend, Opposition auch
Von Gernot Bauer
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Im Büro von Neos-Kommunikationschef Nikola Donig in der Parteizentrale am Wiener Heumarkt liegt ein Wälzer, den die Neos vor Jahren erhielten. Irgendwo gibt es ein weiteres Exemplar, wahrscheinlich im Parlament beim Klubdirektor. Der Sammelband wurde von der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) herausgegeben und beschäftigt sich mit den Regierungsbeteiligungen liberaler Parteien in Europa, auch mit jener der britischen Liberal Democrats. Diese waren ab 2010 Juniorpartner in einer Koalition mit den konservativen Tories. Die Rache der Wähler war shocking. Bei der Wahl 2015 verloren die Lib-Dems fast 90 Prozent ihrer Parlamentssitze und flogen aus der Regierung. Der Untertitel des Sammelbandes muss für sie auch heute noch höhnisch klingen: „How to be successful in Coalition Government?“
Die Austro-Libs um Parteichefin Beate Meinl-Reisinger stehen dieser Tage vor der gleichen Herausforderung: Sollen die Neos mitregieren, und wenn ja, wie überleben sie es? Ist Erfolg überhaupt möglich? Wäre die Existenz in der Daueropposition nicht sicherer als in einer labilen Dreierkoalition?
In die Verhandlungen mit ÖVP und SPÖ gingen die Neos mit erheblichem Selbstbewusstsein, gemäß dem Motto ihres Parteiprogramms: „Unser Auftrag ist die politische Erneuerung Österreichs.“ Auftraggeber der Neos sind jene 446.379 Österreicherinnen und Österreicher, die bei der Nationalratswahl am 29. September für Pink stimmten. Das Ergebnis war Freude und Dämpfer gleichermaßen. Die Neos legten um einen Prozentpunkt auf 9,1 Prozent zu, überholten die Grünen und sind mit 18 Mandaten nun viertstärkste Kraft im Nationalrat. Allerdings reichte es abermals nicht zu einem zweistelligen Ergebnis – trotz einer formidablen Spitzenkandidatin, einer schwächelnden ÖVP und eines für Bürgerliche attraktiven Programms.
Klein, aber oho
Auch als kleinster Partner beanspruchen die Pinken, die „Reformkraft“ (Meinl-Reisinger) in der künftigen Dreier-Koalition zu sein. Ihr Hauptaugenmerk gilt derzeit dem Budget. In der Frage der überbordenden Schulden pendeln sie sich zwischen Skandalisierung (SPÖ) und Bagatellisierung (ÖVP) ein. Sachlichkeit ist pinke Zier. Während die SPÖ mit einem Ruhen der Verhandlungen drohte, solange keine exakten Zahlen des Finanzministeriums zu Schuldenstand und Finanzierungsbedarf vorliegen, wollen die Neos die Gespräche weiterführen. Der schwarz-rote Zwist soll über das Wochenende geklärt werden. Beate Meinl-Reisinger kommentierte den Schlagabtausch aus der Position der Mediatorin: „Die Zeit, sich etwas öffentlich auszurichten, sollte vorbei sein.“
Die Neos fühlen sich in den Koalitionsverhandlungen nicht nur zur Schlichtung, sondern vor allem zur Stimulanz berufen. Wirtschaftssprecher Sepp Schellhorn irritierte die SPÖ mit einem positiven Tweet zum roten Störenfried Rudolf Fußi. Mediensprecherin Henrike Brandstötter kritisierte, dass die ÖVP mit ORF-Stiftungsrat Gregor Schütze und die SPÖ mit Ex-Generaldirektor Alexander Wrabetz und Stiftungsrat Heinz Lederer ausgerechnet Verhandler mit Rundfunk-Bezug für die Medien-Untergruppe nominierten. Generalsekretär Douglas Hoyos rückte Anfang November im profil aus und meinte forsch: „Das Finanzministerium ist der größte Hebel für einen echten Kurs der Sanierung und der Reformen. Gerade in dieser herausfordernden Lage kann und muss es eigentlich von uns geführt werden.“
Offiziell würden das die Neos heute defensiver formulieren, den Anspruch erheben sie noch immer, und zwar nicht nur, um über das Finanzministerium starken Reformdruck ausüben zu können. Wer das Controlling der Staatsfinanzen verantwortet, besitzt den Gesamtüberblick über das Regierungsgeschehen. Schließlich muss jede Mikroaktivität budgetiert sein. Mit einem pinken Finanzminister könnten die Neos im Regierungsalltag kaum ausgebremst werden.
Erste Anwärterin auf den Job wäre wohl Parteichefin Beate Meinl-Reisinger, obwohl es in den pinken Reihen Kandidaten gibt, die sich ebenfalls berufen fühlen würden, wie der Abgeordnete und frühere Medienmanager Veit Dengler, Listen-Erster der steirischen Neos bei der Nationalratswahl. Allerdings genießt Dengler aufgrund öffentlicher Wortmeldungen und interner Meinungsverschiedenheiten nicht unbedingt die Gunst seiner Parteichefin.
Ohnehin dürfte das Finanzministerium für die Neos unerreichbar sein. Meinl-Reisinger könnte das Außenministerium erhalten, allerdings soll sich die dafür notwendige Reiselust bei ihr eher in Grenzen halten, wie aus der Partei zu hören ist. Kolportiert wird auch, sie könnte eine Art Zukunftsministerium mit den Agenden Forschung und Technologie erhalten. Vizekanzlerin wird Meinl-Reisinger keinesfalls. Dieser Posten geht an Andreas Babler, einen zweiten Vizekanzler sieht die Bundesverfassung nicht vor.
Schleuderposten Bildungsminister
Für das Bildungsressort sind die Neos gesetzt. Ein besonderes Griss würde darum auch nicht herrschen. Bildung gilt als eine der kompliziertesten politischen Materien. Man kommt schnell ins Schleudern, die Gestaltungsmöglichkeiten halten sich in Grenzen, zu viele Gruppen mischen mit: Bund, Länder, Gemeinden, Elternverbände, Schülervertreter, Wirtschaft und vor allem die Gewerkschaften.
Die Mühsal der Bildungspolitik erlebt Wiens Vizebürgermeister und Neos-Parteichef Christoph Wiederkehr seit vier Jahren. Der Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Transparenz wird wohl Minister werden, allerdings würden die Wiener Neos damit ein Jahr vor der Gemeinderatswahl ihren Spitzenkandidaten verlieren. Favorit für dessen Nachfolge ist der derzeitige Nationalratsabgeordnete Yannick Shetty.
Erhalten die Neos einen dritten Ministerposten, wäre es etwa die Landesverteidigung. Der pinke Wehrsprecher, Douglas Hoyos, würde zu Ministerehren gelangen. Unter den Kommandanten im Bundesheer genießt er schon jetzt Wertschätzung. Aus Verhandler-Kreisen ist allerdings zu hören, auch SPÖ-Chef Babler, in jungen Jahren Zeitsoldat, würde auf das Verteidigungsministerium spitzen.
Derzeit ist Hoyos in seiner Funktion als Generalsekretär der Neos gefragt. Gemeinsam mit Klubdirektor Armin Hübner und dem stellvertretenden Klubobmann Niki Scherak koordiniert er die Verhandlungen. Aus den anderen Parteien ist zu hören, dass die Pinken in den diversen Untergruppen professionell verhandeln würden, da und dort mangels geeigneten Personals aber überfordert wirken.
Fiasko in Salzburg
Neben Wien waren die Pinken erst ein Mal in einer Landesregierung vertreten. In Salzburg dienten sie von 2018 bis 2023 in der schwarz-grün-pinken „Dirndl-Koalition“ unter Landeshauptmann Wilfried Haslauer. Mit Andrea Klambauer stellten sie die Landesrätin für Wohnbau, Frauen und Familien. Das Projekt „Regierungsbeteiligung an der Salzach“ endete in einem Fiasko. Bei den Landtagswahlen im April 2023 flogen die Neos aus dem Landtag. Schuld daran waren auch interne Streitereien.
Über Chancen und Gefahren der Regierungsbeteiligung wird bei den Neos nach wie vor diskutiert. Die Parteichefin ist zur Machtteilhabe wild entschlossen. Die Zögerlichen wiesen schon vor Beginn der Verhandlungen darauf hin, dass es für die Neos in einer Koalition unter den derzeitigen Krisenbedingungen (Defizit, Konjunktur, Kriege, Teuerung) nichts zu gewinnen gebe.
Im Gegensatz dazu halten andere Parteifunktionäre die Regierungsbeteiligung sogar für überlebenswichtig. Begründung: Weitere karge Jahre in der Opposition würden bei Parteimitgliedern und Wählern Zweifel am Neos-Projekt insgesamt auslösen: Wie soll der Vorsatz, die Reformkraft des Landes zu sein, umgesetzt werden, wenn die Neos nie Regierungspartei werden? Eine Stimme für die Pinken würde eine für die Opposition sein. Umfragen zeigen aber, dass Neos-Wähler – mehr als alle anderen – ihre Partei in der Regierung sehen wollen.
Neos sind „auserzählt“
Auch Ex-Parteichef Matthias Strolz dürfte von der Notwendigkeit der Regierungsbeteiligung überzeugt sein. Ihm wird die Sentenz zugeschrieben, „die Geschichte der Neos“ sei „auserzählt“. Nur eine Regierungsbeteiligung könnte das pinke Narrativ erneuern.
Zwar haben die Neos mittlerweile einen gewissen Stamm an Wählern, dennoch verlangt jede Wahl neue Anstrengungen. Neos-Anhänger sind flatterhaft. Die Behalterate, die die Treue der Wähler zu einer Partei misst, ist niedrig. Besonders skurril fiel die Wählerbewegung bei der Landtagswahl in Salzburg aus. Laut Wählerstromanalysen wanderten rund 3000 Stimmen von den Neos zu den Kommunisten.
Daraus kann geschlossen werden, dass die Neos nicht die Partei für überzeugte Marktwirtschaftler ist, wie sie sich gern präsentiert. Als neoliberal gelten die Pinken nur bei den Linken. Die Debatte über ihr mangelndes wirtschaftsliberales Profil begleitet die Neos seit der Gründung im Jahr 2012. Veit Dengler ortete nach der Niederlage in Salzburg gar ein „wirtschaftspolitisches Vakuum“.
Pinke Allerweltspartei
Nichts ist für eine Partei bedrohlicher als der Mangel an Konturen. Umfragen des Meinungsforschers Peter Hajek zur Nationalratswahl zeigen, dass die Neos unter einem Image der Beliebigkeit leiden, wie die Altparteien ÖVP und SPÖ. Bei allen dreien lautete das häufigste Wahlmotiv, sie würden „die Themen, Werte und Interesse“ der Befragten vertreten. Von der SPÖ sagten das 21 Prozent, von der ÖVP 27 Prozent – und von den Neos: 34 Prozent. 21 Prozent wählten die Neos, da sie „die einzig wählbare Partei“ beziehungsweise „das geringste Übel“ waren. Bedeutet: 55 Prozent der Neos-Wähler stimmten aus wolkigen Allerweltsgründen für die Pinken. Deren Kernthema, die Bildung, war nur für 13 Prozent das wichtigste Wahlmotiv. Die Wirtschaft kam nicht vor, ebenso wenig Europa.
Eine Regierungsbeteiligung würde der Partei die Chance zur Profilierung bieten. EU-weit regieren liberale Parteien in 14 Ländern mit (siehe Karte). In Belgien, Luxemburg, Slowenien und Estland stellen die Liberalen den Regierungschef. Auch die Partei von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, Renaissance, gehört der Renew Europe, der Fraktion liberaler Parteien im Europaparlament, an. In der neuen EU-Kommission stammen fünf Mitglieder aus liberalen Parteien. Man sei mit den liberalen Freunden in Europa seit Langem „in engem Austausch“, so Neos-Generalsekretär Hoyos gegenüber profil. Und natürlich orientiere man sich an „Best-Practice-Beispielen“ liberaler Regierungsparteien.
Die österreichischen Liberalen müssten in der Regierung mit einem grimmigen Gegner rechnen, den EU-weit keine Schwesterpartei kennt: die Sozialpartnerschaft. Die schwarzen Arbeitgeber und die roten Arbeitnehmer schalten und walten wie ehedem in den Parlamentsklubs von ÖVP und SPÖ; und in den von ihnen geschaffenen Parallelwelten wie den Sozialversicherungen. So wurde Ende November bekannt, dass die schwarz dominierte Wirtschaftskammer den früheren ÖVP-Generalsekretär Peter McDonald zum Obmann (neben dem roten Obmann) der Österreichischen Gesundheitskasse bestimmte.
Regieren oder nicht regieren?
Vergangene Woche einigten sich die schwarze Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und die rote Gewerkschaft der Gemeindebediensteten mit der Regierung auf eine Erhöhung der Beamtenbezüge um 3,5 Prozent. Die Neos fühlten sich übergangen. „Wir sind nicht das Beiwagerl“, grollte der Abgeordnete Sepp Schellhorn. Eine Koalition aus ÖVP und SPÖ bedeutet – auch bei einem dritten Partner – die Rückkehr des Proporzes und eine Machtzunahme für die Sozialpartner, der die Neos nur ihr bescheidenes Machterl als kleinste Koalitionsfraktion entgegensetzen können. Wollen sie kein „Beiwagerl“ sein, müssten sie sozialpartnerschaftliche Vorhaben von ÖVP und SPÖ im Ministerrat aktiv blockieren, was auf Dauer nicht zum Image einer Reformkraft passt.
Dass es koalitionsfreie Räume geben wird, in denen sich ÖVP und SPÖ austoben können, schließt Generalsekretär Hoyos gegenüber profil kategorisch aus. Neben der Sozialpartnerschaft würden die Neos in der Regierung wohl auch die Beharrungskräfte einer zweiten heimlichen Nebenregierung erleben: der Landeshauptleutekonferenz.
Schaffen es die Neos in der Regierung nicht, eigene Reformprojekte – Hoyos nennt Bildung, Budgetsanierung und Transparenz – durchzusetzen, drohen innerparteilicher Unmut plus Abstrafung durch die Bürger bei der nächsten Nationalratswahl.
Bleiben die Neos in der Opposition, könnte der Wirtschaftsflügel um Schellhorn und Dengler eine Führungsdebatte anzünden. Und ein Erfolg bei den nächsten Wahlen wäre ebenfalls unwahrscheinlich.
Politik bedeutet eben auch das Management von Dilemmata.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.