Ein Mann zeigt mit dem Finger auf einen anderen
Koalitionsverhandlungen

Regierungsbildung: Würde die ÖVP Karl Nehammer opfern?

Hat der ÖVP-Chef bis Ende Jänner keine Koalition mit der SPÖ geschmiedet, könnte Herbert Kickl mit schwarzer Unterstützung Kanzler werden.

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Herbert Kickl verfügt über ein selektives Gedächtnis. In seiner Pressekonferenz am Mittwoch erzählte er von den erfolgreichen Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP (Obmann: Sebastian Kurz) und FPÖ (Obmann: Heinz-Christian Strache) im Herbst 2017. Damals sei es trotz anfänglicher Abneigung gelungen, wechselseitiges Vertrauen aufzubauen. Was er nicht erwähnte: Als schon alle türkisen und blauen Beteiligten einander liebhatten, leistete er als letzter FPÖ-Verhandler Widerstand gegen den Abschluss der Koalition. Kickl konnte sein Misstrauen gegenüber der ÖVP nur schwer überwinden – und sah sich in seiner Skepsis im Mai 2019 bestätigt, als der damalige Innenminister von Kanzler Sebastian Kurz aus der Regierung geworfen wurde. 

Heuer erwartet sich Kickl einen Vertrauensvorschuss, den die ÖVP partout nicht leisten will. Der FPÖ-Obmann mag ein blendender Stratege sein, an sozialer Kompetenz mangelt es ihm. Wer einen Wunschpartner umgarnt, sollte diesem nicht gleichzeitig Unfreundlichkeiten ausrichten. 

Kickl lockt die ÖVP mit wirtschaftspolitischen Sofortmaßnahmen wie Steuersenkungen und Bürokratieabbau und fordert sie unverblümt auf, Nehammer fallen zu lassen. Auf einmal ist es der FPÖ-Obmann, der zwei Parteien unterscheidet: die „Nehammer-ÖVP“ und die „vernünftigen Kräften“ in der Volkspartei; so wie bisher die Volkspartei das Konstrukt einer „Kickl-FPÖ“ pflegte, um mit den vorgeblich „vernünftigen“ freiheitlichen Versionen in Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und demnächst Vorarlberg Koalitionen zu schließen.

Aber ist es vorstellbar, dass die ÖVP Nehammer zur Seite schiebt und den Juniorpartner unter einem Kanzler Kickl gibt, weil sie in einer Koalition mit der SPÖ weniger von ihrem Programm durchsetzen könnte? Noch deutet nichts darauf hin, aber im Laufe von Verhandlungen können Dynamiken entstehen, die alle Sicherheiten auflösen.

Nehammmer träumt von Schwarz-Rot-Pink

Karl Nehammer will Kanzler dank einer Koalition mit SPÖ und Neos bleiben. Sollte es ihm bis Ende Jänner – nach den niederösterreichischen Gemeindewahlen am 26. Jänner – nicht glücken, dieses Bündnis zu schmieden, dürften die Stimmen für eine Kooperation mit der FPÖ lauter werden, vor allem im Wirtschaftsbund. Bisher hält die mächtigste der sechs schwarzen Teilorganisationen still. Der Chef des Wirtschaftsbunds, Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, verfügt über ein gutes Verhältnis zu ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian und tendiert zu einer Koalition aus ÖVP und SPÖ. Daher findet das Lobbying für Blau-Schwarz derzeit außerhalb der ÖVP statt, vor allem in Industriekreisen. 

Karl Nehammer ist ein beliebter Parteiobmann, dem hoch angerechnet wird, die ÖVP nach dem Fiasko um Sebastian Kurz stabilisiert zu haben. Bei der Wahl verlor er zwar zweistellig, schnitt mit 26,3 aber weniger schlecht ab als noch vor Monaten befürchtet. Allerdings ist die ÖVP schon allein aufgrund ihrer Bünde-Struktur weniger geeint, als es wirken mag. In den vergangenen Jahren gab die Arbeitnehmer-Teilorganisation ÖAAB den Kurs vor. Aus diesem Bund stammen Karl Nehammer, Klubobmann August Wöginger und die Landeshauptleute Johanna Mikl-Leitner (Niederösterreich) und Christopher Drexler (Steiermark). Wenn Wirtschaftsbündler ihre Parteifreunde im ÖAAB als „Sozis“ bezeichnen“, dann ist das meistens, aber nicht immer scherzhaft gemeint. 

Bleibt die Frage, welcher ÖVP-Politiker bereit wäre, unter einem Regierungschef Herbert Kickl den Vizekanzler zu geben? Dazu kann zum jetzigen Zeitpunkt nur – wild – spekuliert werden. Denkbar wäre die robuste Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, die allerdings eine Kooperation mit Kickl mehrfach ausschloss. In Frage kämen – theoretisch – auch Politiker, die am Ende ihrer Karrieren stehen: etwa Johanna Mikl-Leitner, die in Niederösterreich vorlebte, wie man mit der FPÖ trotz schwerster Verletzungen zusammenfindet; oder der langjährige Abgeordnete Karlheinz Kopf, der heuer nicht mehr kandidierte und mit Jahresende auch aus seinem Amt als Generalsekretär der Wirtschaftskammer scheidet. Denkbar wäre aber auch, dass ein unverbrauchter Nachwuchspolitiker den Vizekanzler macht, wie etwa Staatssekretärin Claudia Plakolm oder der oberösterreichische Landesrat Wolfgang Hattmannsdorfer, der nun ins Parlament wechselt und mit Jahreswechsel Generalsekretär der Wirtschaftskammer wird. Alle Genannten schließen ein solches Szenario mit jeweils guten Gründen wohl für sich aus – aber in der Politik gilt der Grundsatz: Rechne mit dem Unberechenbaren!

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.