Soziologe Kreissl

Reinhard Kreissl: Die Verunsicherungsgesellschaft

Reinhard Kreissl: Die Verunsicherungsgesellschaft

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Schon Thomas Hobbes, geistiger Vater des Leviathan, war getrieben von Angst, und noch heute sprudeln die Quellen der politisch nützlichen Furcht. Von den Titelseiten brechen Bedrohungen auf die Leserschaft herein. Politik mit der Angst ist eine wohlfeile Strategie in Zeiten, in denen sich Loyalität nicht mehr durch die Verteilung sozialstaatlicher Wohltaten sichern lässt. In Zeiten des Klassenkampfs von oben und breiter Kürzungen und Einsparungen ist ein bedrohlicher äußerer Feind das probate Mittel, die Bürger hinter der eigenen Fahne zu versammeln. Für die Krise der staatlichen Finanzen sind dann die Schmarotzer aus dem Prekariat verantwortlich, und die Knappheit an Wohnraum und Arbeitsplätzen verursachen die Ausländer. Nebenbei gefährden die mit ihren Kopftüchern auch noch die nationale Leitkultur! Politiker, die weder fähig noch willig sind, Konfliktlinien, Knappheitsprobleme und Verteilungsfragen als solche zu benennen, geschweige denn sie zu bearbeiten, greifen auf äußere Feinde zurück, um von den politisch zu lösenden Problemen abzulenken.

Die simple Konfrontation von „uns“ und „denen“ entfaltet unfehlbar ihre demagogische Wirkung. Förderung kollektiver Unsicherheit in Allianz mit den Massenmedien bringt der Politik kurzfristig Gewinn an Zustimmung. Auf längere Sicht aber erodieren Restbestände demokratischer Kultur. Einer Öffentlichkeit, der fortlaufend Gefahr vermittelt wird, erscheint dann ein Kandidat, der damit wirbt, er werde sich für sie um die Heimat kümmern und sie schützen als die bessere Lösung – besser jedenfalls als das mühselige Geschäft der republikanischen Selbstregierung.

Bei Tageslicht betrachtet besteht hinsichtlich der nützlichen Feinde aus dem Horrorkabinett der Angstpolitik kein wirklicher Grund zur Sorge. Weder steigt die Kriminalität, noch ist der Islam dabei, das Abendland zu unterwandern, weder befördern das Internet noch der Anspruch gleichgeschlechtlicher Paare, auf dem Standesamt wie jede Heteropartnerschaft behandelt zu werden, den Untergang von Ordnung, Moral, Ehe und Familie.

Ängste und Befürchtungen führen aber auch bei den kritischen Beobachtern zur präventiven Paranoia. Man nimmt, was man liest oder vom Hörensagen in Erfahrung bringt, für bare Münze, wenn es sich ins eigene Angstschema fügt. Da werden dann aus unbedarften Rechtspopulisten Steigbügelhalter des Faschismus, Überwachungskameras und maschinenlesbare Identitätsdokumente kündigen das Ende der Privatsphäre an, und der Krawall frustrierter Wutbürger läutet das Ende der Demokratie ein. Die Grünen verdanken ihren Erfolg einem doppelten Angstmotiv – der Angst vor der Atomkraft und der Sorge um die Folgen der vom Menschen betriebenen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Gesellschaftskritik schrumpft zusammen zur ökologisch grundierten Verfallstheorie.

Utopie – Dystopie – Nostalgie

Die guten alten Utopien sind verschwunden. Die Zukunft erscheint als Trittfolge ins unbekannte Terrain des Risikos: Sage ich A, könnte der Schaden B eintreten, sage ich hingegen C, dann ist vielleicht übermorgen mit dem Schaden D zu rechnen. Zwar könnte auch jede Option zukünftigen Gewinn einbringen – aber ich weiß es nicht, zu vielfältig sind die Verknüpfungen, zu undurchsichtig die Verhältnisse, zu unsicher die Reaktionen der anderen. Auch Nichtstun kann schädlich sein. Verunsichert und entmutigt blickt der Zeitgenosse nostalgisch in die Vergangenheit. Was waren das für Zeiten, als Staaten ein Territorium mit bewachten Grenzen hatten, in dem eine homogene Bevölkerung unter einer klaren Rechtsordnung ihren Geschäften nachging und der von inländischen Unternehmern geführten Wirtschaft zu kontinuierlichem Wachstum bei niedriger Arbeitslosigkeit verhalf! Solche Bilder werden beschworen als Lösung der Probleme, die uns eine als Teufelswerk verdammte Globalisierung eingebrockt hat. Abwanderung von Arbeitsplätzen, Zuwanderung billiger Arbeitskräfte, internationale Verpflichtungen statt nationaler Souveränität, multikulturelle Vielfalt statt Heimatpflege.

Nun wäre es durchaus eine Chance, solche Herausforderungen anzunehmen, neue Formen der Politik, des Fremd- und Selbstverständnisses zu suchen. Das aber setzte Traditionsbestände voraus, präreflexiv stabilisierte Selbstverständlichkeiten. Anthony Giddens hat dies als ontologische Sicherheit bezeichnet, manifestiert im Gefühl, dass das eigene Leben in vorhersehbaren Bahnen verläuft und die Mittel zur Hand sind, es zu bewältigen. Natürlich sind die krisenhaften Folgen globaler Arbeitsteilung nicht mit solchen Traditionsbeständen zu bearbeiten. Aber ein Kosmos der Tradition sichert auch politisch gegen vermeintliche Sachnotwendigkeiten einer gesichtslosen Globalisierung. Stattdessen aber blüht dumpfes Ressentiment! Warum?

Entwurzelt und am Tropf der Systeme

Der Kapitalismus, so Karl Marx, frisst Traditionen. Am Ende dieses Prozesses stünde der revolutionäre Übergang vom Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit. Marx’ Fantasie, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden, hat sich bekanntlich nicht erfüllt.

Die Revolution hat längst stattgefunden, nur ist das vielen entgangen. Traditionen sind durch warenförmige Beziehungen ersetzt. Neues wird täglich erfunden und vermarktet. Zwischen Goldhaube und Aluhut wählen die Menschen ihr Glaubensbekenntnis von der Stange. Von Handreichungen für erfolgreiches Flirten über Ratgeber zur Geburtsvorbereitung, Erziehung, Ernährung und sozial verträgliche Gestaltung von Ehescheidungen bis hin zur Regelung der sogenannten letzten Dinge präsentiert sich das weite Feld der Lebenshilfe-Ratgeber. Man macht sich schlau bei sogenannten Experten und googelt zusammen, was man so braucht, um die Probleme des Lebens zu bewältigen. Als techno-soziale Hybride verschmelzen Menschen mit den Geräten, die ihnen als Fenster zur Welt dienen. Das Navigationssystem ersetzt den Orientierungssinn, die Dating-Website das Ritual der Paarungsvorbereitung und die diversen Schnäppchenjäger-Portale die Suche nach einem passenden Angebot in der echten Welt. Soziale Intimität sichert Facebook und die Chatrooms als virtuelle Vereinslokale.

Selbst das Vertrauen in evolutionär erworbene Fähigkeiten schwindet, wenn über Sicherheit und Unsicherheit nicht mehr das komplexe neurobiologische Sensorium entscheidet, weil apokalyptische Szenarien es fortlaufend lahmlegen. Die biologischen Algorithmen melden fälschlicherweise Gefahr im Verzug. Stellen wir uns einen Versicherungsvertreter vor, dessen Kunden täglich Schadensfälle melden. Dem guten Mann erscheint jeder Blumentopf auf dem Balkon sofort als Gefahrenquelle, denn der könnte auf die Straße und dort einem Passanten auf den Kopf fallen – er hat es eben nur mit dieser Art von Blumentöpfen zu tun. Ähnlich verhält es sich mit Alarmanlagen, Sicherheitsschlössern und all den anderen Vorkehrungen, die man gegen Einbrecher trifft, deren Auftreten auf der Basis der medialen Kriminalberichterstattung kalkuliert und dabei überschätzt wird.

Verstärkt wird all das in virtuellen Echokammern für postfaktische Verschwörungstheorien. Low-Cost-Radikale verbreiten dort ungestraft ihre Tiraden, raten zu Ausstieg und Rückzug. Es blüht die Angst vorm Ende, und sozial autistische Bewegungen, gewappnet für den in Kürze erwarteten Katastrophenfall, legen Vorräte an und propagieren das Leben in bewaffneten Horden.

Zwischen Wiederverzauberung der Welt und technologiegläubigem Optimismus

Sind wir also Zeugen des Endes der Aufklärung? Wandeln sich demokratische Gesellschaften in ein Patchwork tribaler Gruppierungen, die sich gegenseitig misstrauisch beäugen?

Triebkräfte dieser Entwicklungen sind schnell gefunden. Der Übergang vom industriellen zum globalen Finanzkapitalismus, der Aufstieg der Datenökonomie haben die westlichen Gesellschaften unsanft aus dem kurzen Traum von der immerwährenden Prosperität geweckt. Es steigt die Politikverdrossenheit, es sinkt die Fähigkeit des Sozialstaats, Bürger gegen die Risiken der Lohnarbeitsexistenz und die Folgen sozialer Atomisierung abzusichern, an den Rändern wächst ein heterogenes Protestpotenzial heran. Sinndefizite befördern Konflikte zwischen den Verteidigern eines judeo-christlichen europäischen Erbes und einem ebenso mit Anspruch auf Anerkennung auftretenden Islam. Streitereien um Kopftücher oder die Höhe von Minaretten im Wohngebiet stehen für ein Streben nach kulturell-ethnischer Reinheit, nach Ausgrenzung jener, die sich nicht zu unseren Glaubenssätzen bekennen. Das führt zwar nicht geradewegs in den Gottesstaat, konterkariert aber Grundlagen demokratischer Gemeinwesen. Als Staatsbürger ist es uns verboten, religiös begründete Schranken einzuziehen. Doch medial-politische Mythen über einen Hang zum Terrorismus, sexuelle Zügellosigkeit oder archaische Formen der Unterdrückung von Frauen befeuern eine Koalition der Ablehnung und Ausgrenzung gegenüber Andersgläubigen. Auf diese wiederum beruft sich eine Politik, die auf mehr Überwachung und Verschärfung gesetzlicher Vorschriften setzt und dies als Beitrag zur Erhöhung gesellschaftlicher Sicherheit vermarktet. Eine solche Politik zieht jede noch so absurde oder grundrechtlich problematische Maßnahme in Erwägung, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, man habe es verabsäumt, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Und so wächst ein Regime der Überwachung heran, dessen rechtliche Zähmung immer weniger gelingt, da der Ausnahmezustand zum Normalzustand geworden ist. Auch wenn die Wirkungslosigkeit im Angesicht nicht verhinderter spektakulärer Angriffe für jeden sichtbar wird – man verfährt nach dem Muster: More of the same.

Das alltägliche Sicherheitsverständnis hat wenig mit Bedrohungen, aber viel mit den Risiken der eigenen Existenz zu tun: Die Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Beziehung zum Partner, das Leben im Alter – alles Probleme sozialer Sicherheit! Kriminalität, offene Grenzen und Fremde scheinen hingegen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Apokalyptische Schlagzeilen schlagen sich nicht direkt in der alltäglichen Sicherheitswahrnehmung nieder. Zugleich aber herrscht über die eigene Zukunft Unsicherheit. Das macht anfällig für eine Rhetorik des Typs: Ich kann zwar dein Problem nicht lösen, aber ich sage dir, wer die Schuld daran trägt. Dagegen könnten die Immunkräfte des kollektiven nachbarschaftlichen Gebrauchs der praktischen Vernunft schützen. Die wiederzubeleben wäre immerhin ein Anfang, und noch dazu einer, zu dem jeder, der möchte, beitragen kann. – Talk to your neighbour!

Reinhard Kreissl

Der Soziologe lehrte in Deutschland, Amerika und Australien, leitete das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien und gründete 2015 das Vienna Centre for Societal Security (Vicesse). Außerdem machte er sich als Feuilletonist (u. a. „Süddeutsche Zeitung“) einen Namen.