Reinhold Mitterlehner: „Mit Angst Politik zu machen, ist gefährlich“
Interview: Eva Linsinger, Fotos: Philipp Horak
profil: Sie haben nach Ihrem Rücktritt gesagt: „Man muss sich resozialisieren.“ Ist das gelungen? Mitterlehner: Mittlerweile sehr gut. Ich genieße die Selbstbestimmung, vor allem die zeitliche, auch den Luxus, Nein sagen zu können. All das passiert nicht von selber, man muss sich Schritt für Schritt in das neue Leben vorarbeiten – eben resozialisieren. profil: Ex-Politiker sagen, dass sie Autofahren, Telefonieren neu lernen mussten. Sie auch? Mitterlehner: Das können selbst Politiker. Lernen musste ich Alltäglichkeiten, etwa das erste Mal seit 15 Jahren ein Zugticket kaufen. Ein bisschen länger habe ich gebraucht, um technologisch aufzuholen und etwa Präsentationen selbst zu gestalten. profil: Sie melden sich selten zu Wort, warum? Mitterlehner: In der ersten Phase nach dem Rücktritt wollte ich die Wahlen nicht beeinflussen. Auch jetzt sage ich nur zu Themen etwas, die mir wirklich ein Anliegen sind.
Man hätte durchaus die Abstimmung über das Rauchverbot im Parlament freigeben können, weil es um persönliche Einstellungen geht.
profil: In der Vorwoche sind Sie als Präsident der Forschungsgemeinschaft bei der Tagung „Krise der Demokratie“ aufgetreten. Sehen Sie die Demokratie in der Krise? Mitterlehner: Ich sehe krisenhafte Symptome. Bei Wohlstand oder Wirtschaftswachstum fehlt es uns an nichts. Andererseits gibt es quer durch Europa Probleme mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft, Verteilungsfragen, Mitbestimmungsfragen. Partizipation ist ein Maßstab für die demokratische Kultur. profil: Zum Beispiel? Mitterlehner: Ein aktuelles Beispiel ist der Umgang mit Sozialpartnern bei der Reform der Sozialversicherung. Da entsteht der Eindruck, dass es mehr um Strukturen geht als um Inhalte. Es wird vor allem über Machtfragen diskutiert. Fairer wäre es, die Sozialpartner einzubinden. profil: Aber hatten die Sozialpartner nicht früher zu viel Macht? Mitterlehner: Früher ja. Weil zwischen Parlament und Interessensvertretung eine zu stärke Verschränkung bestand. Jetzt entsteht der gegenteilige Eindruck: dass Sozialpartner nicht einbezogen werden. Oder ein anderes Beispiel: die Balance zwischen Regierung und Parlament. Bei uns, aber auch in Deutschland, setzt das Parlament 1:1 um, was die Regierung vorgibt. Früher gab es in Ausschüssen noch substanzielle Änderungen. Auch das freie Mandat wird zu wenig wahrgenommen. Man hätte durchaus die Abstimmung über das Rauchverbot im Parlament freigeben können, weil es um persönliche Einstellungen geht.
profil: Hätten Sie als ÖVP-Obmann die Abstimmung freigegeben? Mitterlehner: Das wäre nicht notwendig gewesen, weil wir eine grundsolide Lösung zum Rauchverbot erarbeitet hatten. Mit der Hauptmotivation, die Gesundheit aller Betroffenen zu schützen. profil: Haben Sie deswegen das Volksbegehren unterschrieben? Mitterlehner: Ja. Ich finde es schade, dass man das Rad zurückdreht. Zumal sich die Einstellung grundlegend gewandelt hat: Sogar viele Wirte, die vor Jahren gegen das Rauchverbot protestierten, sind jetzt überzeugt sind, dass Nichtrauchen die bessere Lösung ist – für Mitarbeiter, Kunden und das Lokal. Daher war die Beteiligung am Volksbegehren hoch. Da hat sich die FPÖ verschätzt. profil: Glauben Sie an die Theorie, dass die FPÖ durch eine Regierungsbeteiligung gezähmt wird? Mitterlehner: Das Wahrnehmen von Verantwortung ist eine andere Rolle, in die man hineinwachsen muss. Bis jetzt hat die Regierung das große Asset, dass sie nicht miteinander streitet. Das ist ein gelungener Teil der Regierungsarbeit. Wenn die Wirtschaftslage nicht mehr so gut ist wie jetzt und Verlierer die Folge sind, wird man sehen, wie belastbar die Zusammenarbeit ist.
Die Große Koalition war manchmal besser als ihr Ruf.
profil: Warum haben SPÖ und ÖVP so viel gestritten? Mitterlehner: Wir hätten weniger gestritten, wenn nicht der Streit von außen hineingetragen worden wäre. Christian Kern und ich haben etwa im Jänner 2017 den Relaunch des Regierungsprogramms fixiert. Das Programm hatte viel Ähnlichkeit mit dem jetzigen Regierungsprogramm und wäre eine gute Grundlage gewesen. Aber nicht alle bei uns hatten Interesse daran, dass die Regierung Erfolge hat. Es gab die bekannten Querschüsse, um den Ruf nach Wechsel zu untermauern. profil: Sie meinen Wolfgang Sobotka und Sebastian Kurz? Mitterlehner: Das ist Vergangenheit, deren Beleuchtung in der Sache nichts bringt. Aber die Große Koalition war manchmal besser als ihr Ruf. Für die Bewältigung der Wirtschaftskrise 2008/2009 bekam sie etwa aus ganz Europa Applaus, genauso wie für die Stimulation der Wirtschaft durch Investitionsmaßnahmen. profil: Sind Große Koalitionen nicht mehr zeitgemäß? Auch in Deutschland taumelt sie, traditionelle Großparteien verlieren. Mitterlehner:Quer durch Europa stehen große Volksparteien unter Druck. Österreich und die ÖVP sind da nur scheinbar die Ausnahme: Die Bünde spielen kaum mehr eine Rolle bei der Themenpositionierung, eine kleine Gruppe gibt die Vorgaben. In ganz Europa treten neuen Parteien mit neuen Angeboten auf und haben wie zuletzt in Südtirol auch Erfolg. Daher haben sich Große Koalitionen überlebt und werden durch neue Konstellationen ersetzt.
profil: Das belebt doch die Demokratie. Mitterlehner: Ja, aber die Regierungsbildung wird schwieriger, und Populismus nimmt an Bedeutung zu. Populistische Regierungen haben noch dazu die Tendenz, sich um die Nachhaltigkeit nicht zu kümmern – siehe Italien und sein Budget. Das ist auf EU-Ebene ein prinzipielles Problem. profil: Wie soll die EU reagieren? Mitterlehner: Das Regelwerk schreibt Budgetdisziplin vor. Man muss einmal bei einem großen Land wie Italien konsequent sein. Auch Deutschland und der Anstieg der AfD zeigt: Der Trend zu populistischen Parteien ist ein europäisches Phänomen. profil: Woher kommt der Trend – von der Flüchtlingskrise? Der Finanzkrise? Mitterlehner: Die Anhäufung von Krisen und die scheinbare Problemlösungsunfähigkeit der Verantwortlichen erzeugen Sehnsucht nach etwas Neuem. In Wahlwerbungen gibt es Muster: Der „echte Österreicher“, der „echte Bayer“ wird aufgefordert, gegen irgendwen zu stimmen. Das ist das populistische Muster, Feindbilder zu erzeugen. Mit Angst Politik zu machen, ist immer gefährlich, genau wie die Dramatisierung eines Themas.
Die Sachpolitik rückte in den Hintergrund – zugunsten von populistischer Ausrichtung und höherer Geschwindigkeit.
profil: Sie meinen das Thema Flüchtlinge? Mitterlehner: Die Flüchtlingsanzahl ist objektiv heuer stark rückläufig. Aber die ständige Dramatisierung bewirkt, dass der Bürger den Eindruck hat, bei dem Thema muss endlich etwas geschehen. profil: Ist Sebastian Kurz ein Populist? Mitterlehner:Er ist Bundeskanzler, kann mit Marketing und Kommunikation gut umgehen und versteht es gut, Themen zu setzen. Nicht zuletzt damit hat er die Wahl gewonnen. profil: War Christian Kern ein Populist? Mitterlehner: Das mag ich nicht beurteilen. Aber offensichtlich ist der versuchte USP, für Arbeiterrechte einzutreten, zu wenig. profil: Sie waren einst Django, Kern quasi Superman. Sie haben beide Hype und Fall erlebt. Mitterlehner: Besonders merkwürdig daran war die enorme Geschwindigkeit: Als Kern kam, ging der Hype blitzartig nach oben – genauso rasch nach unten. Das ist ein spezielles österreichisches Phänomen: Der Boulevard schreibt hinauf und hinunter. Bei uns passiert das in intensiverem Ausmaß als anderswo.
profil: Sie kamen in den 1980er-Jahren in die Politik. Wie hat sich Politik seither verändert? Mitterlehner: Die Sachpolitik rückte in den Hintergrund – zugunsten von populistischer Ausrichtung und höherer Geschwindigkeit. Themen wurden früher ausdiskutiert – heute rasch gewechselt, ohne gelöst worden zu sein. Andere Meinungen wurden respektiert, heute oft als Angriff gesehen. Darunter leidet die Pluralität. profil: Das dominante Thema in Europa ist Migration. Mitterlehner: Das wird ein Zukunftsthema, weil es mit Afrika und dem Klimawandel zusammenhängt. Millionen Menschen werden sich dort in Bewegung setzen, und sie werden nicht die Geduld haben, abzuwarten, bis wir Gegenmaßnahmen wie Bewässerung oder Entsalzung setzen. Die EU müsste in dem Bereich wesentlich mehr tun. profil: Beim Thema Flüchtlinge und Migration bezweifelt Ex-Flüchtlingskoordinator Christian Konrad, dass die ÖVP eine christlich-soziale Partei ist. Ist sie das noch? Mitterlehner: Im Parteiprogramm sind diese Werte verankert, bei manchen Themen wie beim freien Sonntag auch deutlich sichtbar. Beim Thema Migration und Integration fährt die Partei eine heikle Gratwanderung, was christlich-sozialen Anspruch und Wirklichkeit betrifft. Es wird pauschal der Zutritt nach Europa erschwert. Wir beurteilen, wie sicher sie in der früheren Heimat sind – nicht sie selber.
profil: Sind Sie noch ÖVP-Mitglied? Mitterlehner: Klar. profil: Wie oft juckt’s einen politischen Menschen wie Sie, sich einzumischen? Mitterlehner: Mich juckt es dann, wenn Dinge nicht so behandelt werden, wie es sachlich logisch wäre. Ein Beispiel sind Asylwerber, die eine Lehre machen. Ich finde es ökonomisch sinnlos, dass wir Menschen abschieben, die in Ausbildung sind, und auf der anderen Seite im Ausland werben, dass Facharbeiter kommen. Dazu kommt: Wenn jemand nicht arbeiten darf, steigt die Gefahr, dass er in Kleinkriminalität abgleitet. profil: Die Lehrlinge sollten bleiben? Mitterlehner: Zumindest die, die schon in Ausbildung sind. In Deutschland dürfen Asylwerber die Lehre fertigmachen. Auch wenn sie zurückmüssen, haben sie wenigstens eine Ausbildung. Ich habe mich deshalb zu Wort gemeldet, weil bei uns Betriebe dringend Lehrlinge suchen. Aber die Regierung hat verkündet: Schluss der Diskussion. Davon hat niemand etwas, weder Lehrlinge noch Betriebe.
Frauen sind immer noch benachteiligt. Dagegen wollte ich ein Signal setzen.
profil: Ist die ÖVP noch eine Wirtschaftspartei? Mitterlehner: Sicher. Es war höchste Zeit, den 12-Stunden-Tag zu beschließen, das war mir immer ein Anliegen. Andere Reformnotwendigkeiten wie die Angleichung des Pensionsalters von Männern und Frauen wurden nicht angerührt. Das Problem ist: Wenn die Staatskassen sprudeln, ist der Druck für Reformen zu gering. Das rächt sich in der nächsten Krise. Die Wirtschaftsforscher mahnen, die Hochkonjunktur für Reformen zu nützen. Beim Wähler kommt jetzt ein Familienbonus halt besser an. profil: Das zeitigt Früchte: Die Regierungsparteien liegen in allen Umfragen voran. Mitterlehner: Meinungsumfragen können nicht der einzige Maßstab für Politik sein, das wäre problematisch. Mittelfristig zählen Inhalte und Werteorientierung. Sonst müssten wir uns bei Orbán und Erdoğan Anleihen nehmen. profil: Sie haben – für viele überraschend – auch das Frauenvolksbegehren unterschrieben. Sind Sie als ehemaliger Wirtschaftsminister für die 30-Stunden-Woche? Mitterlehner: Wirklich nicht! Ich konnte mich mit den meisten Details nicht identifizieren – aber mit der Generalbotschaft: Frauen sind immer noch benachteiligt. Dagegen wollte ich ein Signal setzen. Und eine konkrete Forderung habe ich geteilt – die nach Ausbau der Kinderbetreuung.
profil: Bei dem Thema haben Sie versucht, den Kurs der ÖVP zu ändern. Ist Österreich da besonders konservativ? Mitterlehner: Österreich war besonders konservativ, ist aber auf gutem Weg. Endlich ist unstrittig, dass Kinder auch am Nachmittag Betreuung brauchen, wenn Frauen berufstätig sind. Deshalb war ich der Meinung, dass Kindergärten und Ganztagsschulen ausgebaut werden müssen. Ein Landeshauptmann eines kleinen Bundeslandes sagte mir damals: Mütter wollen das nicht. Er ließ sich doch zu einem Versuch überreden, der begeistert angenommen wurde. Damit war bewiesen: Angebot schafft auch Nachfrage. profil: Zum Schluss: Haben Sie Tipps für Kern, wie man den Rücktritt bewältigt? Mitterlehner: Das muss jeder für sich bewältigen. Mir ist nur aufgefallen: Man muss sich eine sinnvolle Beschäftigung suchen, nur die Freizeit zu genießen, macht nicht zufrieden. profil: Ist in Österreich ein Leben nach der Politik schwierig? Mitterlehner: Ja und nein. Neue Aufgaben sind ein neuer Ansporn. Andererseits: Ist ein Ex-Politiker beruflich erfolgreich, wird ihm Freunderlwirtschaft vorgeworfen, ist er nicht erfolgreich, erntet er Häme. Man kann es schwer allen recht machen. Jeder muss seinen Weg gehen.