Reportage: Eine Landpartie mit jungen Flüchtlingen ins tiefste Waldviertel
Ein Wagnis war es von Anfang an. Schließlich kann bei einer Landpartie ins tiefste Waldviertel einiges schiefgehen. Nicht alle sind begeistert, dass eine Journalistin dabei ist. Es ist Samstag, acht Uhr früh. Die jungen Syrer, Afghanen und Iraker stehen auf der Straße, in T-Shirts, auf denen "Atomkraft, nein Danke!" oder "Super-Mario" steht, mit umgedrehter Kappe oder Wollmütze, inmitten von Schachteln mit Fava-Bohnen und Tomaten, Pennymarkt-Sackerln und einem Riesenberg Fleece-Decken, den Betten Reiter gespendet hat. Auf dem Viktor-Adler-Markt vis à vis herrscht ein dichtes Durcheinander. Händler schlichten ihr Gemüse und schlängeln sich mit Wäscheständern voller Polyester-Trikots durch die parkenden Autos. Ein paar Burschen strecken der Journalistin die Hand entgegen. Andere drücken sich an ihr vorbei zum Bus. "Ziele braucht jeder", steht darauf geschrieben. Ali Gedik hält einen Arm fest. Er gehört zu dem Burschen, der mit einem Polster unter dem Arm an ihm vorbeischlapft "Hey, du hast eine Hand frei, nimm das Wasser mit!" Dass Gedik jene Wohngemeinschaft für 16 Flüchtlinge in Wien-Favoriten leitet, die an diesem Samstagmorgen zu einem Waldviertler Schafbauern aufbricht, beschreibt seine Rolle nur unzureichend. Chef der Truppe, Lehrer, Vaterfigur, großer Bruder trifft es eher. Im Bus sinkt Gedik in die erste Sitzreihe, als wäre es schon Zeit für eine erste Erschöpfung. 135 Kilometer lang ist die Fahrt nach Karlstein an der Thaya. Sie wird dem Fahrer einiges an Konzentration abverlangen. In den Reihen hinter ihm wird gerappt und geklatscht. Aus Smartphones krächzt arabischer Pop. Gedik steht auf und schreit: "Ahmad, Mahmoud, Ibrahim, Ali, habt ihr gehört? Hinsetzen!"
Mustafa aus Aleppo kommt nach vorne und singt ins Mikrofon, arabisch und türkisch, danach deutsch. Die meisten der Burschen kommen aus Syrien, einige aus Afghanistan; sie waren im Iran und in der Türkei, durchquerten ein halbes Dutzend Länder auf dem Weg nach Österreich. Hier kennen sie kaum mehr als Traiskirchen und Wien und wollen alles sein, nur nicht die Flüchtlinge, die man in ihnen sieht. Auf ihren Smartphones haben sie Bilder von Freunden gespeichert, von Mädchen, die sie kennen oder zumindest gerne kennen würden, und von sich selbst in zahllosen Posen. Die Fotos, auf denen man sie rauchen sieht, dürfen ihre Eltern nicht sehen. Sie warten in Kabul, Damaskus oder der Türkei auf Nachrichten. Ahmad sucht ein Foto von seiner Schwester. In einem Innenhof in Aleppo steht ein Mädchen mit dunklen Locken. Es ist vier oder fünf Jahre alt. Verträumt und ein bisschen verlegen schaut es in die Kamera.
Mangel an Selbstbewusstsein und Perspektive
Die Burschen sind anwesend, laut und unübersehbar, und gleichzeitig weit weg. Hamza filmt die Fahrt mit. Er wird das Video an eine der Facebook-Statusmeldungen anhängen, mit denen er seine Familie in Damaskus versorgt und die immer die gleiche Botschaft transportieren: Es geht mir gut! Der Bus fährt in Karlstein an der Thaya ein. 80 Menschen leben hier, fast durchwegs Ältere. Ihre Kinder und Enkel haben in der Stadt studiert oder Arbeit gesucht und sind nicht mehr zurückgekommen. "In zehn Jahren sind wir hier allein", sagt Ökkes Tonaydin, 34. Als der Kurde aus der Türkei flüchtete, war er im Alter der Burschen, die nun vor seinem Bauernhof aus dem Bus klettern. Er hat sie eingeladen, weil er ihre Betreuer kennt und weil er sich in ihnen irgendwie wiedererkennt. Er will ihnen Mut machen. Doch beim Abschied eineinhalb Tage später wird er murmeln, wie sehr es diesen Jugendlichen doch an Selbstbewusstsein und Perspektive fehle. Tonaydin führt sie in zwei mit Teppichen ausgelegte Zimmer. Hier können sie ihre Iso-Matten und Schlafsäcke ausbreiten. Ein Syrer mit langen, gebogenen Wimpern und verschlafenem Blick setzt sich an einen der Biertische im Hof, zieht seine Kappe vom Kopf und gestikuliert theatralisch: "Kein WLAN? Was? Echt?" Dann zündet er sich eine dunkle Zigarette mit Schokoladengeschmack an und beginnt zu lamentieren, dass er besser in Wien geblieben wäre. Safwan Alshoufi 40, selbst Flüchtling aus Syrien und nun in Gediks Team, ist mit dem Auto angereist. Er hat ein Zelt mitgebracht. Ein paar Burschen sind damit beschäftigt, es aufzustellen, andere schneiden Gurken und Tomaten in Scheiben, öffnen Thunfischdosen, verteilen Becher, Plastikkrüge mit Wasser und Fladenbrote über die Biertische. Es bleibt nicht unbemerkt, dass ein paar sich verdrückt haben. "Alle arbeiten!", ruft Gedik: "Solidarität!"
Dann geht es in den Wald. Von Weitem sehen die Syrer, Afghanen und Iraker auf dem Feldweg wie die wandernden Flüchtlinge aus dem Sommer 2015 aus. Nun aber sind sie ein Jahr älter und wissen nicht, wohin mit ihrer Energie. Ein paar schlagen mit Stöcken auf Baumstämme. Omar, 16, hatte in Syrien 200 Vögel, 50 davon Papageien, denen er ein paar Sätze beibrachte. Manche konnten sogar Koran-Suren in seiner Stimme aufsagen. Eine Bombe zerstörte seine Tierhandlung. In Wien steht er unter der Woche jeden Tag um sechs Uhr früh auf und fährt zur Adlerwarte Kreuzenstein, um mit Vögeln zu trainieren. Auf seinem Smartphone finden sich Bilder von Andi, der Eule, von Turmfalken, Greifvögeln und einem Fink mit gestreiftem Köpfchen in den Farben der syrischen Fahne. Omar möchte Falkner werden. Im Wald reißt er zwei kleine Fichten aus. Zuhause ist, wo man Bäume pflanzt. Er will sie in Wien eintopfen. Noch wartet Omar auf seinen Asylbescheid.
Wenige der Burschen erzählen gern. Sie haben Angst, missverstanden zu werden oder etwas preiszugeben, das ihnen im Verfahren schaden könnte. Auch untereinander bleiben sie auf Distanz. Zu Safwan Alshoufi haben einige in der Gruppe einen besonderen Draht. Der 40-Jährige studierte in Damaskus Kunst und engagierte sich politisch für ein Syrien ohne Assad. Als er 2014 nach Österreich kam, wollte er sofort arbeiten. Er hatte eine Odyssee hinter sich, als er schließlich Ali Gedik gegenüber saß: "Er war der Erste, der mir vertraut hat. Er hat sich meine Bilder angeschaut und wollte wissen, was ich sonst noch kann." Alle anderen hätten sich nur dafür interessiert, was er nicht konnte - nämlich Deutsch.
Alshoufi wurde Betreuer in der Wohngemeinschaft in Favoriten. Die Burschen nennen ihn Abu Shad (Vater von Shad), das ist respektvoll gemeint. Eine Tochter hat er auch, aber Vater von ihr würde ihn niemand rufen. Gedik ist "Herr Ali", eine Betreuerin schlicht "Christine". Die Fremdheit scheint in manchen Momenten unüberwindlich. Tonaydin hat ein paar Nachbarn, die Montessori-Lehrer seiner Kinder und den Musiker Günther Nowak mit seiner Frau, die in einer neurologischen Reha-Anstalt als Krankenschwester arbeitet, zum Grillen eingeladen. "Setzt euch zu den Leuten, sie kommen extra angefahren, um euch kennenzulernen", hatte Gedik im Bus durch das Mikrofon verlautbart. Doch die Flüchtlinge bleiben unter sich. Einer verkriecht sich im Zimmer unter einer Fleece-Decke. Ein paar hauen auf die Trommeln, die Nowak mitgebracht hat. Tonaydin kocht Tee auf dem Feuer. Der Bauer hat zwei Lämmer spendiert, die unter der Anleitung von Abu Shad in der Küche zu geschmorter Lammleber, Ripperl, Koteletts und Spießen verarbeitet werden.
"Lebma jetzt, lebma heit!"
Bevor Tonaydin das "Rebellenfeuer" entzündet, von dem kein Rauch nach oben steigt (was er sich bei PKK-Aktivisten abgeschaut hat), treibt er mit den Syrern und Afghanen die Schafe auf die Weide. 82 Hektar bewirtschaftet er mit seiner Frau Michaela. Er hat sie hier im Waldviertel kennengelernt und drei Kinder mit ihr bekommen. Sein Leben davor war eine Aneinanderreihung von Abenteuern, die er ohne seine Helden - Mandela, Che Guevara, Fidel Castro und den alles überragenden Öcalan - nicht überstanden hätte. Er dachte an sie, als er mit 14 im Gefängnis in der Türkei gefoltert wurde, als der Schlepperkahn mit 740 Menschen an Bord in Seenot geriet, als er sich in Griechenland im Wald versteckte, als ihn Deutschland nach Österreich abschob. In Heidenreichstein bekam er einen Job als Kellner, obwohl er keine Papiere hatte. Es brauchte ein paar Abenteuer mehr, um als Kurde in einer Waldviertler Abwanderungsregion Schafbauer zu werden. Der Lebensmittelkonzern Rewe schloss einen Liefervertrag mit Tonaydin ab - Laufzeit: 15 Jahre. Als Nächstes baut er eine Molkerei, die 40 Menschen Arbeit gibt. "Du scheiterst einmal, zweimal, irgendwann geht der Plan auf. Habt keine Angst!", gibt er den Burschen mit auf den Weg. Die Nachbarn und die Lehrer verabschieden sich. Es werden keine Telefonnummern ausgetauscht, keine Beziehungen geknüpft. Nowak holt sein Akkordeon und spielt, unter der offenen Heckklappe seines Autos sitzend, "Lebma jetzt, lebma heit!". Zum Frühstück gibt es Fava-Bohnen, im Feuer braten Spieße. Der 27-jährige Ayman sucht auf YouTube das Video, das BBC-Reporter drehten, kurz bevor die Terrormiliz IS Mossul einnahm. Man sieht eine glückselige Paragleiterin. Sie war 42, flog im selben Verein wie Ayman und wurde später geköpft, gemeinsam mit drei Kollegen. Er selbst entkam, versteckt in einem Lkw, aus der Stadt. Ayman hat in der Burschen-WG in Wien-Favoriten vorübergehend Unterschlupf gefunden und unterstützt die Betreuer. Rund um das Feuer hebt ein Trommeln an. "Da kommt die Braut!", singen die Burschen. Alshoufi bedeutet ihnen lachend, dass er die versteckte Kritik verstanden hat. Für ihren Geschmack redet er schon zu lange mit der Journalistin.
In ein paar Stunden bringt der Bus alle nach Wien zurück. Wo wird der 17-jährige Hamza in fünf Jahren sein? Er ist ehrgeizig, will das Gymnasium schaffen. Er redet mit seinen Eltern oft über das Internet, aber nie über Probleme. Sie sollen sich keine Sorgen machen. Sein Vater trainiert in Syrien die Nationalmannschaft der Boxer. Wo wird sein Verwandter sein, der auch Hamza heißt? Seine Familie harrt in Damaskus aus, wo ständig der Strom ausfällt. Alle paar Stunden will die Mutter wissen, wie es dem Sohn geht. Er sagt ihr nicht, dass in den Zeitungen, die man hier in der U-Bahn liest, Schlechtes über Flüchtlinge steht und er deshalb oft Angst hat. Wo wird der freundliche Afghane Hasib sein, der vor Kurzem volljährig geworden ist und bangt, wie die Behörden in seinem Fall entscheiden werden. Die Unsicherheit hält ihn nachts oft wach.
Hasib war einer der wenigen, die seinem Gastgeber Fragen stellten. Tonaydin deutet es als gutes Zeichen: "Er wird seinen Weg machen." Was wird aus den abweisenden Burschen, die sich nur mit ihresgleichen abgeben? Werden sie sich dem Land öffnen, wenn sie dessen Sprache beherrschen, kapseln sie sich für immer ein? Was wird aus jenen, die in der Früh nicht aus dem Bett kommen und Österreich für einen Bankomaten halten, der jeden Monat ein paar Hundert Euro Mindestsicherung ausspuckt? Wo sie aufgewachsen sind, erstreckt sich Solidarität auf Blutsverwandte. Wer außer ihren Betreuern macht sich die Mühe, ihnen die Geschichte des europäischen Sozialstaats nahezubringen? Die jungen Flüchtlinge verstehen nicht, dass Gedik beim Jugendamt nachfragt, bevor sie einen Ausflug machen. Sie bekommen mit, dass Leute, die Drogen nehmen oder ein Messer im Kasten verstecken, aus der Wohngruppe fliegen. Aber was bedeutet staatliche Obsorge? Wer Kopfweh hat, bekommt Tabletten, wer Schuhe braucht, kriegt einen Gutschein. Das ist teuer, ist es auch gut? Manchmal beschleichen Alshoufi Zweifel: "Man betreut die Jugendlichen wie Kinder rund um die Uhr. Kaum sind sie 18, müssen sie von einem Tag auf den anderen auf eigenen Beinen stehen."
Gedik war mit 14 selbst Flüchtling und sprachlos in Österreich. Er fuhr Gabelstapler und schob Nachtschichten, bevor er in den 1990er-Jahren anfing, mit Jugendlichen zu arbeiten. Immer wieder haben ihn ehemalige Schützlinge überrascht. Die Vorstellung tröstet ihn. Ein paar freilich werden es nicht schaffen. Gedik macht sich darauf gefasst, dass der eine oder andere ihn sogar bitter enttäuschen wird. Er weiß nur noch nicht, wer.