Impressionen aus dem "Weißen Hof"

Hals- und Beinbruch

Nach einem Unfall verbrachte Otmar Lahodynsky mehrere Wochen im größten Rehabilitationszentrum Österreichs. Der "Weiße Hof" bei Klosterneuburg spiegelt die Veränderungen in der Gesellschaft: Arbeitsunfälle werden immer weniger, schwere Verletzungen in der Freizeit dagegen häufen sich.

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"Gangschule F" heißt die tägliche Therapie, durch die Hüft-, Bein-und Fußverletzte wieder richtig gehen lernen sollen. Doch zum Alltag gehören auch Stiegen. Nun stehe ich mit 20 Patienten vor einer steilen Gartentreppe. Und ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Auf einer ähnlichen Steinstiege bin ich Ende Juni nach einem Interview in einer U-Bahn-Station in Berlin gestürzt, die Ursache blieb ungeklärt. Im Krankenhaus Charité bekam ich eine Titanplatte mit acht Schrauben auf den gespaltenen Oberschenkelknochen fixiert. Wochenlang durfte ich das verletzte Bein nicht belasten, dann humpelte ich auf Krücken. Das Knie ließ sich nur schlecht biegen. Im September begann meine Reha-Kur im "Weißen Hof" bei Klosterneuburg, dem Rehabilitationszentrum der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA, dem größten in Österreich.

Der Leiter der Gangschule F, Robert W., treibt uns die Stiege hinunter. Im normalen Schritt, seitwärts, rückwärts, sogar mit überkreuzten Beinen sollen wir die Stufen hinunter, möglichst ohne Anhalten am Geländer. "F" steht für Fortgeschrittene. Schummeln gilt nicht. Mit strenger Miene beobachtet der Sporttherapeut, wie wir uns bei dieser Übung anstellen. Und er fordert außerdem noch, dass wir "ein Lächeln im Gesicht tragen" sollen. Das fällt nicht nur mir schwer.

200 Patienten werden im "Weißen Hof" nach diversen Unfällen von 18 Ärzten und 140 Therapeuten und Pflegern behandelt, mit Physiotherapien, Heilstrom, Massagen, spezieller Gymnastik oder im Hallenbad. Bei Kursen mit Werkstoffen aus Metall, Holz, Keramik oder im Garten sollen manuelle Tätigkeiten die Verletzungen in den Hintergrund drängen. Angeboten werden zudem Musik-und Tanztherapien, Malkurse und psychologische Betreuung.

Zustrom von Verletzten

Hierher kommen Verletzte nach Arbeits- und Freizeitunfällen, obwohl die AUVA eigentlich nur für Berufsunfälle zuständig ist. Deren Zahl sinkt seit Jahren - aufgrund von Präventionsmaßnahmen und einer geänderten Arbeitswelt. "Wir behandeln mehr Senioren nach Unfällen, die sie früher nicht überlebt hätten", erklärt die ärztliche Leiterin des Zentrums, Primaria Karin Gstaltner. Außerdem kommen vermehrt jüngere Leute Mitte 20 nach Unfällen mit Zweirädern, Autos und nach Stürzen in den Bergen hierher auf Reha. Derzeit bereitet sich Gstaltner auf einen Zustrom von verletzten Benützern der neuen E-Scooter in Wien vor. "Es liegen derzeit schon viele in Unfallspitälern. Nach ein, zwei Monaten kommen sie dann meistens zu uns."

Die Reha-Anstalt ist ein vollwertiges Spital mit allen Einrichtungen für leichtere Fälle wie mich, aber auch für jene, die das Schicksal schwerer traf: Gelähmte lernen hier, wie sie ihr neues Leben im Rollstuhl meistern. Nachts müssen sie mehrmals in ihren Betten umgedreht werden. Die Ärmsten sind sogenannte Tetraplegiker, die vom Halswirbel abwärts keine oder fast keine Bewegungen mehr machen können. Franz, 65, steuert seinen Rollstuhl nur mit dem Kopf. Vor einem Jahr ist er auf einen Baum gestiegen, um einen Mistelzweig für den Advent abzuschneiden. Der Ast brach ab, und Franz landete aus zwei Metern Höhe unglücklich auf dem Rücken. "Ich habe meinem Bekannten gesagt, dass er mich liegen lassen soll. Ich habe sofort gewusst, dass ich querschnittsgelähmt bin."

Impressionen aus dem Reha-Zentrum "Weißer Hof"

Der junge Texaner John Henry Roenigk kam als Fremdsprachenassistent nach Österreich. Im vergangenen Februar kletterte er in St. Pölten auf eine Mauer. Doch auf dieser lag Eis; der Lehrer rutschte aus und prallte auf der anderen Seite auf Beton. Er brach sich mehrere Wirbel und ist seither querschnittsgelähmt. Stolz präsentiert er seine beiden Gitarren; vor dem Unfall spielte er in einer Band. Nun hat ihn seine Familie zur Heimreise in die USA überredet. "Dort ist man in der Behandlung von Rückenmark und unterbrochenen Nervensträngen etwas weiter als in Österreich", hofft John Henry auf Heilungserfolge: "Hier wurde ich zu lange mit Kursen zum richtigen Rollstuhlfahren beschäftigt."

Die Schwere der Verletzung bestimmt, in welchem der vier Stockwerke des "Weißen Hof" man untergebracht wird: Die schlimmsten Fälle - in der Regel Patienten, die nach Wirbelbrüchen im Rollstuhl sitzen - kommen in den zweiten Stock, die leichteren in die obersten Etagen. Ich lande im vierten Stock. "Hautabschürfungsstationen" werden die oberen Stockwerke von jenen, die es schlimmer erwischt hat, spöttisch genannt.

Zwischen Sanatorium und Ferienlager

Im "Weißen Hof" herrscht sonst eine kumpelhafte Stimmung, irgendwo zwischen Sanatorium und Ferienlager. Auch Erinnerungen ans Bundesheer werden wach: Um sieben Uhr früh ist Tagwache, und um 22:30 Uhr beginnt die strikte Nachtruhe. Um 22 Uhr endet die abendliche Ausgangszeit. Die Unterbringung erfolgt in der Regel in Dreibettzimmern. Das Zentrum, das bei der Gründung vor 30 Jahren als die modernste Einrichtung Europas gefeiert wurde, ist in die Jahre gekommen. Das große Hallenbad musste kürzlich renoviert werden.

Die AUVA macht hier alle gleich: Akademiker, Bauarbeiter, Bauern, Supermarkt-Beschäftigte, Beamte, Spengler oder Chirurgen. Jeder will die Folgen eines Unfalls überwinden, und man freundet sich bei Gruppentherapien, im Schwimmbad, im Speisesaal, in der Kantine (mit striktem Alkoholverbot) oder bei Minigolf, Tischtennis und Kegeln an. Fast alle Patienten duzen einander.

Mein eigenes Leiden erscheint leichter erträglich, da ich ständig Menschen mit schlimmeren Schicksalsschlägen treffe, etwa einen türkischen Gerüstarbeiter, der auf einer Baustelle in Wien 22 Meter in die Tiefe stürzte. Gebremst durch Gerüstbretter und Balkonvorsprünge in jedem Stockwerk, prallte er auf den Gehsteig: Mit zahlreichen Wirbel- und Rippenbrüchen, die Beine und Füße mehrfach gebrochen, verbrachte er wochenlang auf der Intensivstation. Schon seit Anfang des Jahres ist er hier auf Reha. Immerhin kann er bereits vom Rollstuhl aufstehen und auf Krücken gehen. Arbeitsfähig wird er kaum mehr werden. Den Rest seines Lebens wird er von einer Invalidenrente leben müssen.

REHA-ZENTRUM "WEISSER HOF" BEI KLOSTERNEUBURG: 18 Ärzte und 140 Therapeuten und Pfleger kümmern sich um 200 Patienten, darunter profil-Redakteur Otmar Lahodynsky

"Wir verbessern ständig gemeinsam mit der AUVA und dem Arbeitsinspektorat die Sicherheitsbestimmungen", erklärt Othmar Berner, der Chef des Fachverbands der Dachdecker und Spengler. Die Vorschrift, dass kleinere Ausbesserungsarbeiten auf dem Dach ohne teuren Gerüstaufbau nur einen Tag lang dauern dürfen, besage, dass die Arbeiter nur angeseilt auf dem Dach werken dürfen. "Aber manche halten sich nicht daran, weil sie meinen, dass ihnen nichts passieren kann." (Berner)

Ein Kollege an meinem Mittagstisch hatte vergeblich um eine Schutzausrüstung gebeten. Er musste - ohne jede Sicherung - auf einem Wiener Gemeindebau Dachfenster reinigen und rutschte ab. Beim Sturz aus acht Metern Höhe brach er sich die Fersenbeine, Sprunggelenke und Unterschenkel. Sein Fall könnte bald beim Arbeitsgericht landen.

"Eine Sekunde hat mein ganzes Leben komplett verändert"

Werner Braun, 59-jähriger Fassader aus Amstetten, hatte Glück im Unglück. Mitte Juni arbeitete er auf dem Dach eines Einfamilien-Rohbaus in Amstetten. Beim Abstieg fiel er neun Meter tief und landete auf dem Dach des Autos des Hausherrn. Dieser kam gerade rechtzeitig und wusste, was zu tun war, weil er kurz zuvor einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatte. Er legte sich auf das Unfallopfer, um ein instinktives Aufrichten zu verhindern. Denn damit wäre durch gebrochene Wirbel ein größerer Rückenmarksaustritt verursacht worden. "Die Erste Hilfe des Hausbesitzers hat eine Querschnittslähmung bei mir verhindert", so Braun. "Eine Sekunde hat mein ganzes Leben komplett verändert", erzählt der leidenschaftliche Tänzer, der sich noch im Linzer Spital das Gehen selbst beibrachte. Die Reha am Weißen Hof brach er ab, weil sie seiner Meinung nach für ihn wenig Besserung brachte. Die berufliche Karriere ist nach 36 Jahren am Bau jedenfalls beendet. Braun erhält seit Anfang November eine Unfallrente.

Der Oberösterreicher Josef Wanzenböck lernte im "Weißen Hof" wieder, ohne Krücken zu gehen. Als Angestellter eines Speditionsunternehmens in der Nähe von Linz fuhr er mit einem Gabelstapler zu einem Lager, als ein Kollege regelwidrig viel zu schnell um die Ecke bog und ihn mit dem Ladegut an den Beinen erwischte. Ein mehrfach gebrochener Unterschenkel war die Folge. "Ich bin schon der Dritte, der von diesem Kollegen mit dem Gabelstapler angefahren wurde", berichtet Wanzenböck, der seine Reha unterbrechen musste: Sein gebrochenes Wadenbein war nicht richtig zusammengewachsen und musste im Unfallspital in Wien-Meidling noch einmal gebrochen werden.

Impressionen aus dem Reha-Zentrum "Weißer Hof"

Fast jeder fünfte Arbeitsunfall findet im Hoch- oder Tiefbau statt. Von knapp 92.000 Berufsunfällen im Jahr 2017 ereigneten sich mehr als 17.000 auf Baustellen.

Im "Weißen Hof" spiegelt sich die ethnische Zusammensetzung der Arbeiter auf heimischen Baustellen wider; es sind meist Personen aus der Türkei oder aus dem ehemaligen Jugoslawien. Bei Freizeitaktivitäten wie Billard oder Kegeln bleiben sie hier abends gerne unter sich. Und selbst Serben, Kroaten, Bosnier oder Kosovo-Albaner freunden sich hier an. Erlittenes Unfallleid eint die Patienten.

In der Gangschule für Anfänger bringt uns Therapeut Gio A. die Grundlagen des richtigen Gehens bei, vom Aufsetzen der Ferse bis zum richtigen Abrollen. Im Zusammenspiel mit den Behandlungen der bemühten Therapeuten und dem Training mit der Knie-Motorschiene lasse ich nach drei Wochen den Gehstock weg und steige in die Fortgeschrittenen-Gruppe auf.

Raue Sitten im Einzelhandel

Im Speisesaal sitze ich mit einer Endfünfzigerin am Tisch. Ihr Fall zeigt die rauen Sitten im Einzelhandel. Nach über 25 Jahren sollte die Kassiererin eine andere Tätigkeit im Baumarkt übernehmen: Sie musste Waren in und aus Regalen schlichten. Prompt fiel sie von der Leiter und brach sich die Schulter. Nun droht der Firma eine Klage beim Arbeitsgericht. In den meisten Fällen hält die AUVA sonst die Unternehmen schadlos und übernimmt Kosten für Pflege und allfällige Unfallrenten.

Eva-Maria Rabl, eine junge Lehrerin in Waidhofen an der Thaya, hat sich im Rahmen einer Exkursion beim Trampolinspringen zwei Halswirbel gebrochen. Die zerfetzte Bandscheibe wurde mit einem Stück Knochen aus dem Becken überplattet. "Ich hatte großes Glück, da mein Rückenmark nur eingedellt war. Lediglich ein paar taube Stellen am linken Arm sind mir bis jetzt geblieben." Den Kopf kann sie aber weiter nur eingeschränkt drehen. "Die Reha-Zeit ist für mich oft eine Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen: Hier war ich hautnah mit dem negativen Ausgang von Wirbelsäulenverletzungen konfrontiert. Mir war es anfangs unangenehm, eine der wenigen auf dieser Station zu sein, die noch gehen konnten, und dennoch haderte ich auch auf psychischer Ebene mit meinem Unfall." Das Trampolinspringen wird sie fortan meiden.

Ein großer Teil der Patienten kam mit Fahrrädern oder Motorrädern zu Sturz oder verunglückte mit Autos. Motorräder sind für die schlimmsten Verletzungen verantwortlich. Es muss nicht gleich ein ehemaliger Rennfahrer sein, der mit über 200 km/h auf einer Rennstrecke in Brno/Brünn in eine Mauer flog und -wie er fast ein wenig stolz erzählt -28 Knochenbrüche erlitt. Es genügt schon, wenn man als Motorradfahrer mit 80 km/h auf der Wiener Tangente von einem Auto in die Leitschiene abgedrängt wird. Der Lenker beging Fahrerflucht. Die Suche nach einem bestimmten Fahrzeugtyp, den das Opfer noch erkannte, verlief ohne Erfolg. Die Kameras entlang der Strecke übertrugen nur Live-Bilder.

Schlimm hat es die bosnisch-österreichische Unternehmerin Enisa Bekto erwischt. 2017 überlebte sie knapp einen schrecklichen Autounfall in ihrer Heimat. Eine Limousine kam ihr mit 200 km/h auf einer Landstraße entgegen. Die Folgen des Frontalzusammenstoßes waren dramatisch: Die drei Jugendlichen - betrunken und unter Drogen - starben. Enisa und ihr Sohn überlebten mit viel Glück schwer verletzt, auch weil sie in einem Allradauto etwas erhöht saßen. "Ich zähle schon gar nicht mehr meine Operationen", sagt Enisa. Nach dem Unfall lag sie monatelang im Spital, dann war sie wochenlang auf Reha.

Nur hinter vorgehaltener Hand erzählen Therapeuten von einem prominenten Patienten: Verkehrsminister Norbert Hofer wurde hier nach seinem Sturz mit dem Paragleiter im Jahr 2003 an schweren Wirbelverletzungen behandelt. Umso mehr zeigen sich seine Pfleger über Hofers 140-km/h-Teststrecken verärgert. "Herr Hofer hat doch hier viele Opfer von Verkehrsunfällen kennengelernt", meint einer von ihnen: "Trotzdem gab er jetzt einen Freibrief zum Rasen?"