Rudolf Anschober: "Es wäre falsch, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren"

Ein Gespräch mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober über Inszenierung, den Kollateralschaden der Virusbekämpfung und das Dilemma bei der Rettung von Menschenleben.

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profil: Sie haben den Österreichern schon für kommenden Jänner eine Corona-Impfung in Aussicht gestellt. Wissen Sie mehr als zum Beispiel Ihr deutscher Amtskollege Jens Spahn?

Anschober: Ich weiß nur, was der Europäischen Union vom Pharmaunternehmen Astra Zeneca angekündigt wurde: Wenn die aktuellen Produktionsperspektiven halten und die Zulassung für den europäischen Markt rechtzeitig erfolgt, dann kann man sich vorstellen, im Jänner erste Tranchen eines Impfstoffs zu liefern.

profil: Aber der Impfstoff wird derzeit noch getestet. Es kann auch sein, dass er nicht funktioniert.

Anschober: Ja, es gibt viele Fragezeichen: Wie wirksam ist das Mittel? Wie lange hält der Schutz? In Summe wird das noch nicht die Lösung sein, aber aus meiner Sicht die Chance auf eine deutliche Erleichterung. Und wir stehen kurz vor einer grundsätzlichen Einigung mit den Produzenten von sechs verschiedenen Impfstoffen, die alle gute Chancen auf eine Lieferung im ersten Halbjahr 2021 haben.

profil: Sie und der Bundeskanzler hatten zuletzt angedeutet, dass es wieder zu Verschärfungen der Maßnahmen kommen werde. Stattdessen gab es nur die Empfehlung, den Hausverstand einzusetzen. Man kann das durchaus für vernünftig halten. Aber warum dann diese Inszenierung?

Anschober: Wir haben jetzt die Ampel-Kommission, in der es regelmäßig eine epidemiologische Prüfung durch Experten gibt. Diese Kommission gibt Empfehlungen, welche Maßnahmen aus virologischer Sicht erforderlich sind. Die erste Empfehlung ist die Erweiterung des Mund-Nasen-Schutzes in den gelben Ampelregionen.

profil: Trotzdem haben Sebastian Kurz und Sie laut darüber nachgedacht, alles Mögliche wieder zu verbieten.

Anschober: Wir sind gemeinsam zu dem Entschluss gekommen, dass der Zeitpunkt gut ist, um auf ein paar Dinge hinzuweisen. Der Herbst beginnt, die Menschen sind wieder mehr in geschlossenen Räumen, das Ansteckungsrisiko steigt, und gleichzeitig treten viele Infektionskrankheiten auf. Deswegen ist es sinnvoll, daran zu erinnern, dass ein bestimmtes Verhalten vor Ansteckungen schützt - nicht nur vor Corona, sondern auch anderen Infektionskrankheiten. Ich habe mir schon bei meinem Amtsantritt im Jänner vorgenommen, viel stärker gegen die Grippe aktiv zu werden.

profil: Soll das heißen, wir sitzen auch ohne Corona jeden Winter mit Mund-Nasen-Schutz in der U-Bahn?

Anschober: Nein, aber es kann doch nur vernünftig sein zu wissen, was einen schützt.

profil: Ein Mediziner, den Sie, wie ich weiß, sehr schätzen, hat mir Folgendes gesagt: Die aktuelle Corona-Situation ist beinahe ideal. Derzeit infizieren sich vorwiegend junge Menschen, die kaum ernsthaft krank werden. Die Älteren wissen inzwischen, wie sie sich schützen können. So gibt es wenigstens ein immunologisches Grundrauschen, und die Krankenhäuser bleiben trotzdem leer. Hat er recht?

Anschober: So würde ich das nicht sagen. Aber es stimmt, dass wir etwas Gutes geschafft haben: Wir haben die steigenden Infektionszahlen von der Zahl der Fälle im Krankenhaus entkoppelt. In den Spitälern ist die Situation stabil. Auch Todesfälle gibt es nur sehr wenige. Das ist ein großer Erfolg.

profil: Warum haben Sie dann ein Gesetz in Begutachtung geschickt, das einen noch strengeren Lockdown ermöglichen würde als beim ersten Mal?

Anschober: Weil das Epidemiegesetz eine grundsätzliche Vorsorge für alle Eventualitäten darstellt. Wie Sie wissen, hat der Verfassungsgerichtshof einige Punkte aufgehoben. Das hatte unter anderem die Folge, dass der Mindestabstand derzeit nicht rechtlich verankert werden kann. Auch die Corona-Ampel soll mit dem neuen Gesetz rechtlich implementiert werden. Ich habe die Aufregung um diesen Gesetzesentwurf überhaupt nicht verstanden. Ein Begutachtungsverfahren ist dazu da, auf Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten hinzuweisen.

profil: Was werden Sie ändern?

Anschober: Die Einbeziehung des Parlaments wird deutlich verstärkt. Und wir haben im Entwurf relativ weich formuliert, welche epidemiologische Situation gewisse Maßnahmen nach sich zieht. Das gehört präzisiert.

profil: Die Formulierung lautet "Beim Auftreten von Covid-19".Sie könnten demnach praktisch jederzeit irgendwelche Maßnahmen setzen.

Anschober: Deshalb werden wir das konkretisieren und genau darstellen, wer das festlegt - nämlich die Corona-Expertenkommission. Damit haben wir zugleich einen Schub an Transparenz.

profil: Das neue Gesetz würde es möglich machen, uns alle mittels einfacher Verordnung daheim einzusperren. Können Sie sich wirklich vorstellen, das zu tun?

Anschober: Das ist absolut nicht meine Absicht. Es geht um rechtliche Klarheit und die Verankerung der Ampel mit den konkreten Umsetzungsmöglichkeiten von Maßnahmen etwa in gelben Gebieten.

profil: Das Ansteckungsrisiko im Freien ist extrem gering. Ausgangsverbote oder-beschränkungen hatten aus epidemiologischer Sicht nie viel Sinn.

Anschober: Das ist absolut die letzte Maßnahme, wenn alles andere versagen würde-und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir sie gegen Corona nie mehr anwenden müssen. Tatsache ist: Im Freien ist das Risiko deutlich geringer. Es geht aber auch um die Kontakte-Menschenansammlungen bergen ein Risiko. Über 1000 Reiserückkehrer aus Kroatien wurden positiv getestet. Ich glaube nicht, dass die sich alle in geschlossenen Räumlichkeiten angesteckt haben. Da hören wir, dass es zum Teil um Strandpartys ging. Aber um es deutlich zu sagen: In Summe haben wir keine hohen Infektionszahlen. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass wir optimistisch sein können. Wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, wäre ganz falsch. Ich bemühe mich auch immer, Zuversicht zu verbreiten. Wir haben allen Grund für Zuversicht und Optimismus.

profil: Einerseits sagen Sie, dass alles nicht so schlimm sei. Andererseits erklären Sie, die Zahl der Infektionen sei zu hoch und müsse dringend gesenkt werden. Was gilt jetzt?

Anschober: Jede einzelne Infektion ist ein Problem für den Betroffenen.

profil: Sehr viele haben keine Symptome und damit auch kein Problem.

Anschober: Aber auch sie können die Infektion weitergeben. Ich verweise auf eine profil-Covergeschichte vor ein paar Wochen, in der es um mögliche schwere Folgeschäden durch Corona ging. Wir sind bisher sehr gut durch diese Krise gekommen. Es gibt kaum Industriestaaten, die so wenige Todesfälle verzeichneten wie wir. In den ersten sechs Monaten dieser Pandemie waren wir wirklich sehr erfolgreich.

profil: Sie sagen das bei jeder Gelegenheit, der Bundeskanzler auch.

Anschober: Deswegen wird es nicht weniger richtig.

profil: Wenn man die Fakten betrachtet, könnte man auch einen anderen Schluss ziehen. Unter anderem hat der Lockdown die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten ausgelöst.

Anschober: Irrtum, nicht unsere Maßnahmen haben zur Wirtschaftskrise geführt, sondern das war die Pandemie. Schauen Sie sich die weltweite Rezession an. Es handelt sich um die schwerste Pandemie seit 100 Jahren. Die Lösung der Gesundheitskrise ist die Voraussetzung für das wirtschaftliche Comeback.

profil: Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Covid-19 viel seltener tödlich ist, als man anfangs befürchten musste. Laut AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, Anm.) stirbt nur eine von 400 infizierten Personen. Mich wundert schon, dass diese Erkenntnis offenbar niemanden interessiert. Warum regiert überall noch die Panik?

Anschober: Ich bin absolut nicht panisch, sondern versuche, sehr konzentrierte Arbeit zu machen. Unser Ziel ist, dass es möglichst wenige schwere Erkrankungen und möglichst wenige Todesfälle gibt. Das ist die Aufgabe eines Gesundheitsministers, und dabei sind wir bisher sehr erfolgreich.

profil: Laut einer Studie im Auftrag Ihres Ministeriums gab es wegen Corona um 20 Prozent weniger Krebsbehandlungen. Die Zahl der Herzinfarktpatienten im Spital sank sogar um ein Viertel. Vielleicht haben wir die Todesfälle nur verschoben-weg von Covid-19, hin zu Krebs und Herzinfarkt.

Anschober: Genau das müssen wir vermeiden.

profil: Dafür wäre es schon zu spät.

Anschober: Ganz generell müssen wir so etwas vermeiden. Deswegen wird es erstmals in Österreich eine Gesundheitsfolgenabschätzung geben-für die Pandemie und für die Maßnahmen dagegen. Das Ergebnis erwarten wir bis Jahresende. Ich möchte aus dem, was passiert ist, etwas lernen. Wir wissen ja nicht, ob wir jemals wieder eine ähnliche Situation haben werden - in 20 Jahren oder in einigen Monaten.

profil: Der Schutz der Risikogruppen, vor allem in den Pflegeheimen, scheint mittlerweile zu funktionieren.

Anschober: So sieht es aus. Aber das ist kein statischer Wert, wir müssen uns das Woche für Woche neu erarbeiten.

profil: Ein Problem zu Beginn war, dass es in den Heimen nicht ausreichend Schutzkleidung gab. Können Sie das für die Zukunft ausschließen?

Anschober: Das war in der Tat ein großes Problem. Wir haben damals einen totalen Zusammenbruch des Weltmarktes erlebt. Es gab auch panische Reaktionen, indem manche Länder innerhalb der EU Exportverbote aussprachen-ein Wahnsinn eigentlich! Deswegen setzen wir jetzt auf Krisenvorsorge. Es wird ein Reservelager geben für den Fall, dass es wieder zu einem Engpass kommt. Außerdem sind viele österreichische Betriebe in die Produktion eingestiegen.

profil: Was sagen Sie den jungen Menschen, die womöglich ihr ganzes Leben lang finanziell unter den Folgen der Virusbekämpfung leiden werden?

Anschober: Damit das nicht passiert, müssen wir schnell reagieren. Wir müssen die Investitionen vorziehen, die wir uns als Regierung ohnehin vorgenommen hatten-also etwa in die Umstellung unserer Energieerzeugung, unsere Mobilität und so weiter. Der Green Deal ist ein klassischer Jobmotor. So können wir beim Klimaschutz etwas weiterbringen und in der Sozialpolitik.

profil: Sie haben die vergangenen sechs Monate als eine "Sternstunde des Zusammenhalts" bezeichnet. Ich erlebe das anders: Menschen haben einander denunziert, es gibt Schlägereien wegen der Maskenpflicht, in vielen Unternehmen ist das Betriebsklima unterirdisch, weil die Leute einander kaum noch treffen und miteinander reden. Was wird von der Gesellschaft übrig bleiben, wenn wir so weitermachen?

Anschober: In einer Gesellschaft trägt jeder Verantwortung für den anderen. Wenn wir dieses Bewusstsein aus der Krise mitnehmen, bin ich extrem zuversichtlich. Ich bin überzeugt, dass wir den nächsten Sommer schon ziemlich unbelastet verbringen können. Bei den Öffnungsschritten sind wir eines der offensivsten Länder. Dass etwa die Salzburger Festspiele stattfinden konnten, war weltweit einzigartig. Daraus haben wir gelernt. Es ist auch in Pandemiezeiten viel mehr möglich, als man international glaubt.

profil: Eine grundsätzliche Frage: Ist es wirklich die Aufgabe eines Gesundheitsministers, Todesfälle um jeden Preis zu verhindern? Und wenn ja - wo fängt das an? Es sterben jedes Jahr 400 Menschen im Straßenverkehr. Diese Leben könnte man retten, indem man den Leuten das Autofahren verbietet. Es gibt manchmal Jahre mit Tausenden Grippetoten. Auch das ließe sich verhindern, indem man jeden Winter einen Lockdown verfügt. Wo ziehen Sie die Grenze?

Anschober: Wir werden keinen Lockdown gegen die Grippe verhängen. Aber es stimmt: Wir haben jedes Jahr Hunderttausende Grippekranke. In den letzten Jahren gab es zwischen 260 und 4400 Todesfälle. Daher viel mehr Aktivität zur Eindämmung der Grippe.

profil: Und wie weit darf die Politik gehen, um Leben zu retten?

Anschober: Das ist eine gewichtige ethische Frage, ein Balanceakt für jede Gesellschaft. Jeder gerettete Mensch ist ein Erfolg. Aber ich gebe zu, das ist ein Dilemma, denn wir greifen mit manchen Maßnahmen in die Grund- und Freiheitsrechte ein. Ich möchte diese Frage auf ganz neue Beine stellen - durch ein vollständig neues Epidemiegesetz. Wir werden uns die Zeit nehmen, um den demokratischen Diskurs zu führen. Mein Wunsch wäre, dass sich gerade auch kritische Geister daran beteiligen.

Rosemarie Schwaiger