Anschober: „Kurz ist ein Vermesser der Macht“
Der Kellner im Lokal bittet ihn um ein Selfie. Das ist Rudolf Anschober aus seinem früheren Leben gewohnt: Er war der beliebteste Politiker Österreichs, er war als Gesundheitsminister der Corona-Krisenmanager Nummer eins - und er war Buhmann. Für verpatzte Corona-Erlässe, für fehlenden Impfstoff, für Bundeskanzler Sebastian Kurz. All das hat Anschober hinter sich gelassen, er verkündete am 13. April seinen Rücktritt. Und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Jetzt schreibt er ein Buch. profil traf einen entspannten Anschober und sprach mit ihm über den Menschenfresserjob Politik, abstoßenden Polit-Sprech und Fouls von Kurz.
profil: Politinterviews sollten eigentlich nie so beginnen, Sie fragen wir aber ausnahmsweise: Wie geht es Ihnen?
Anschober: Danke, jede Woche ein Stückchen besser. Die Kraft ist noch nicht bei 100 Prozent, kommt aber zurück. Der Tinnitus, den ich zum Schluss als Minister hatte, ist ganz weg, der Blutdruck ist mit Medikamenten wieder normal, die Zuckerwerte sind noch nicht da, wo sie hingehören. Ich fühle mich gut und genieße, dass es in meinem Leben weniger Druck gibt.
profil: Viele Politikerinnen und Politiker schildern, dass sie nach ihrem Rücktritt neu lernen müssten, wie Telefonieren, Einparken, Einkaufen geht, weil sie plötzlich kein Büro mehr hatten. Sie waren seit 1990 in der Politik, wie war das bei Ihnen?
Anschober: Einparken musste ich nicht lernen, weil ich mit den Öffis unterwegs bin. Im Ernst: Ich wollte immer trotz Spitzenpolitik ein möglichst normales Leben führen. Aber natürlich war es eine Umstellung. Ich bin jetzt neuer Selbstständiger, Autor und Vortragender. Ich bin Sekretär, Buchhalter und alles in einem. Früher gab es dafür ein ganzes Büro, jetzt alles allein zu machen ist eine interessante Erfahrung.
profil: Sie hatten als Gesundheitsminister in der Corona-Pandemie 18-Stunden-Tage. Waren Sie nach Ihrem Rücktritt erleichtert oder haben Sie sich gewünscht, dass endlich das Telefon wieder läutet?
Anschober: Der Zeitpunkt meines Rücktritts am 13. April war absolut richtig. Ich hatte nur mehr 60 Prozent meiner Kraft, damit kann man kein Land durch eine Pandemie führen. Die Tage nach dem Rücktritt waren extrem schön, weil es eine unglaubliche Welle an Sympathiebekundungen gab. Danach hat es eine Zeit lang gedauert, bis ich normal schlafen konnte. Ich war auf drei bis vier Stunden Schlaf fokussiert – und konnte das Angebot „bleib liegen“ erst nach einer Zeit dankbar annehmen.
profil: Geht Ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit ab?
Anschober: Nein. Ich schreibe jetzt ein Buch, als Aufarbeitung der Corona-Zeit für mich und für die Gesellschaft.
profil: Ex-SPÖ-Politikerin Brigitte Ederer nannte Politik einmal „einen Menschenfresserjob“. Hat sie recht?
Anschober: "Die Politik" gibt es nicht. Es gibt die Verwalter. Es gibt die Interessensvertreter. Es gibt die Machterhalter. Und es gibt die Veränderer - dazu zähle ich mich wie alle Grünen. Wenn man verändern will, noch dazu als kleine Gruppe, dann braucht man doppelt so viel Kompetenz - wie auch Frauen sehr genau wissen. Gegen Beharrungskräfte zu bestehen, das kostet Energie.
Polizeischutz "war eine Form von Abgeschottetsein, die mir die Kraftquellen nahm"
profil: Ist Berufspolitik ein Feld für Zyniker?
Anschober: Manche werden dazu. Manche vereinsamen auch. Aber man muss nicht zynisch sein, im Gegenteil. Ich habe Politik immer als Dialog betrieben. Gerade in Gesprächen erlebt man viele Situationen, wo die Energie wieder aufgeladen wird. Daher war es für mich besonders schwierig, unter Polizeischutz zu stehen und von Menschen abgeschirmt zu sein.
profil: Österreich war lange eine Insel der Seligen, wo sogar der Bundeskanzler unbewacht spazieren gehen konnte.
Anschober: Mir hat einmal jemand erzählt, dass er um Mitternacht in der Hundezone den Bundespräsidenten mit Hund traf. Wo gibt es das? Leider hat sich die Aggressivität zugespitzt. Ich habe die Drohungen gegen mich nie völlig ernst genommen, aber brauchte dennoch Schutz. Die Cobra-Beamten machten ihren Job großartig, aber das war eine Form von Abgeschottetsein, die mir die Kraftquellen nahm.
profil: Sie haben als Minister Fehler zugegeben, sich entschuldigt - ist das ein Schwächezeichen?
Anschober: Ganz im Gegenteil. Es ist Stärke. Die Reaktionen haben mir recht gegeben, dass es gut war, ehrlich zu sein und mich zu zeigen, wie ich bin. Gerade in einer Krisensituation kann man sich nicht verstellen. Da ist man ziemlich ungeschminkt und wenig verkleidet, schon allein, weil es dafür keine Zeit mehr gibt.
profil: Manche Politiker wirken dennoch wie Sprechmaschinen, die Textbausteine von sich geben.
Anschober: Es ist ein großer Fehler, zu glauben, dass es ein Patentrezept für Rhetorik gibt. Ich glaube, es gibt nur eines: authentisch zu sein und so zu sprechen, wie man ist. Ich habe, obwohl mir viele abgeraten haben, einen großen Teil meiner Social-Media-Aktivitäten selbst gemacht, weil es mir wichtig war, in meiner Sprache zu sprechen.
profil: Ex-NEOS-Chef Matthias Strolz nannte Kanzler Sebastian Kurz einmal einen emotionslosen Androiden, der wirke wie ein perfekter Roboter. Kurz war damit durchaus erfolgreich.
Anschober: Mein Anspruch war, ich selbst bleiben zu können. Das beste Beispiel war meine Abschiedsrede am 13. April: Von der Vernunft her hätte ich da ein wohlvorbereitetes Manuskript vortragen sollen. Ich war bei meiner Rücktrittsrede schlecht vorbereitet und wahrscheinlich deshalb schonungslos ehrlich. Das ist sehr gut angekommen.
profil: Als Kontrapunkt zur berüchtigten Message-Control?
Anschober: Offenbar gibt es Sehnsucht nach schonungsloser Ehrlichkeit, weil sie in der Politik selten wurde und uns von Spin-Doktoren eingeredet wird, eine Rolle darzustellen. Dabei ist gerade Authentizität in der Politik wichtig.
profil: Sie sind am 13. April zurückgetreten, gesundheitlich angeschlagen, zermürbt vom Corona-Hickhack in der Regierung. Dennoch konnten Sie offenbar schwer loslassen.
Anschober: Nein, im Gegenteil. Ich wusste, dass wir mit dem Durchsetzen des Oster-Lockdowns den entscheidenden Schritt getan haben, damit die Corona-Zahlen stark sinken.
profil: Sie beklagten in Ihrer Rücktrittsrede, dass es im Pandemie-Management Populismus und Parteitaktik gab. Wie viele Fouls beging die ÖVP an Ihnen?
Anschober: Ich war anfangs begeistert, dass in der Krise alle beisammenstanden, auch die Opposition. Das prägt die Stimmung in der Bevölkerung. Am Beginn gelang diese Einigkeit sehr gut. Nationaler Schulterschluss ist kein schöner Begriff, kollektives Handeln gefällt mir besser. Das kam uns schrittweise abhanden.
profil: Sie sagten in der Rücktrittsrede auch, Sie fühlten sich allein. Im Krisenmanagement der dritten Corona-Welle im Frühjahr war Kanzler Kurz für die guten Nachrichten zuständig - und Sie mussten mit den Landeshauptleuten Lockdowns verhandeln.
Anschober: Es gab im Frühjahr Phasen, wo Landeshauptleute schnell Geschäfte und Lokale aufmachen wollten. Und ich habe wochenlang Nein gesagt. Das kostet Substanz. Gott sei Dank hat damals Wiens Bürgermeister Michael Ludwig seine Position verändert und mich unterstützt.
profil: Kurz war damals keine Unterstützung: Sie lagen mit Kreislaufkollaps im Spital - er attackierte Ihren Spitzenbeamten Clemens Martin Auer.
Anschober: Das war keine Unterstützung.
profil: Zu Beginn der Pandemie arbeitete die Regierung gut zusammen. Mit Zeitabstand: Warum änderte sich das?
Anschober: Mit Fortgang der Pandemie wurden manche in der Gesellschaft ungeduldig, manche bekamen unglaubliche Angst, die Gruppe von Corona-Leugnern bekam Zulauf. Meine größte Schwäche passierte im Frühherbst: Damals, zu Beginn der zweiten Welle, gelang es mir nicht ausreichend, die Menschen wieder aus der Sommernormalität zurückzuholen und zu erklären, dass wieder Einschränkungen notwendig sind. Und es wäre erforderlich gewesen, die Konsequenzen der Corona-Ampel verbindlich zu machen. Das war in der Regierung nicht durchsetzbar.
profil: Auch weil der Bundeskanzler die Pandemie für beendet erklärte.
Anschober: Ich habe heuer für einen schweren Fehler erachtet, zu kommunizieren, dass die Pandemie für Geimpfte vorbei ist. Jeder wollte hören, dass es Entspannung für alle gibt. Das hat zum Unterschätzen beigetragen. Die nächsten Wochen werden schwierig werden.
profil: Der Bundespräsident hat Sie gewarnt, als Sie im Sommer 2020 in den Popularitätswerten an Kurz vorbeizogen: Achtung, aufpassen, das wird gefährlich.
Anschober: Nicht der Bundespräsident. Es gab auf jeden Fall Zeitungstitel wie "Rudi, gib acht". Ich habe mir gedacht, das ist ein völliger Unsinn, in einer Pandemie hat man wirklich etwas anderes zu tun.
"Kurz ist ein Vermesser der Macht, Machterhalt ist ihm extrem wichtig"
profil: Offenbar nicht. Wie haben Sie Sebastian Kurz erlebt?
Anschober: Sebastian Kurz war immer extrem freundlich und höflich zu mir. Kurz ist ein Vermesser der Macht, Machterhalt ist ihm extrem wichtig. Sebastian Kurz hat einen guten Instinkt, was politische Stimmungen betrifft, ist ein hervorragender Rhetoriker, bringt Dinge sehr gut auf den Punkt. Er ist allerdings sicher nicht in die Politik gegangen, weil er große Ansprüche hat, Missstände zu verändern. Aber ich habe mich in meiner Zeit als Gesundheitsminister mehr mit der Pandemie als mit Sebastian Kurz auseinandergesetzt.
profil: Hatten Sie seit Ihrem Rücktritt mit ihm Kontakt?
Anschober: Nein. Wir haben am Tag meines Rücktritts ausgemacht, dass wir uns irgendwann im Herbst einmal zusammensetzen.
Das Interview findet am Mittwoch statt, jenem Tag, als Korruptionsermittlungen und Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt und in der ÖVP die Politik durcheinanderwirbeln. Bleibt Kurz Kanzler? Wie reagieren die Grünen? Hält die Regierung? All das ist zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht klar, für Anschober steht nur eines fest: "Für uns war von Tag eins der Regierungsbildung das Justizressort wichtig - mit dem Ziel, die Justiz in Ruhe arbeiten zu lassen."
profil: Verfolgen Sie noch täglich die Corona-Zahlen?
Anschober: Ich schaue mir täglich die weltweiten Zahlen an, lese auch den Covid-Newsletter der "New York Times". Und bedauere und verstehe nicht, dass sich so viele Menschen in Österreich nicht impfen lassen. Denn das wäre die absolute Chance, die Pandemie zu beenden.
profil: Braucht es eine Impfpflicht?
Anschober: Ich halte von Pflichten samt den rechtlichen Konsequenzen in so einer emotionalisierten Situation wenig. Damit schafft man nur Märtyrer. Ich halte mehr davon - auch wenn es sich altbacken anhört -, dass wir eine moralisch-gesellschaftliche Verpflichtung formulieren, eine Art Impfgebot.
profil: In Ihrem Ex-Bundesland Oberösterreich waren Impfgegner bei der Landtagswahl erfolgreich.
Anschober: Ich habe sogar Wetten um ein Abendessen abgeschlossen, dass die Impfgegner-Liste MFG in den Landtag kommt.
profil: Sie haben aber nicht MFG gewählt, um die Wette zu gewinnen?
Anschober: So groß war der Wetteinsatz nicht. Im Ernst: Die MFG sammelte Proteststimmen, es ist keine Überraschung, dass in der emotionalisierten Phase der Pandemie und der Impfung Protest gedeiht. Das finde ich nicht so überraschend. Mich trifft eher die Entscheidung der ÖVP Oberösterreich, wieder mit der FPÖ zu koalieren. Denn damals, 2015, erklärte die ÖVP, dass sie nicht weiter mit den Grünen koalieren will, weil die FPÖ der große Wahlsieger ist. Damals hatte die FPÖ ein enormes Plus. Jetzt hat die FPÖ ein enormes Minus. Wenn die ÖVP ihre Argumentation ernst nimmt, müsste sie andere Regierungspartner suchen und die letzte Regierungsbeteiligung der FPÖ beenden.
profil: Sie leben seit dem 1. Oktober in Wien. Haben Sie es schon bereut? Sie fallen als Wiener in die niedrigste Klimabonus-Stufe der Steuerreform.
Anschober: Ich lebe aber dafür in der Stadt mit großartig ausgebautem öffentlichen Verkehr und genieße das.
profil: Nicht alle sehen das so gelassen, der Klimabonus sorgt für viel Unmut.
Anschober: Das Grundprinzip ist, dass CO2 etwas kostet. Ich halte die 30 Euro pro Tonne übrigens für klug in einer Zeit, in der der Gaspreis in die Höhe schnellt. Der Klimabonus ist der Ausgleich. Es ist vertretbar, dass er unterschiedlich hoch ist, je nachdem, wie gut das Öffi-Netz ausgebaut ist.
profil: War es die Steuerreform wert? Der Deal der Grünen lautet ja: Wir schlucken schweren Herzens die türkise Law-and-Border-Politik-und gestalten dafür Klimapolitik. Jetzt ist die Steuerreform halbherzig, das 1-2-3-Ticket kommt anders als geplant. Viele Grüne fragen sich: Ist das die Koalition mit der ÖVP wert?
Anschober: Die ökosoziale Steuerreform ist ja nur ein Teil der Klimawende. Es gibt mit 17,5 Milliarden Euro das größte Investitionsprogramm in die Schiene in der Geschichte Österreichs, es wird massiv in die Umstellung weg von fossilen Heizungen investiert. Einen Beitrag gegen die Klimakrise zu leisten, die Justiz abzusichern, dass sie unbeeinflusst arbeiten kann, vieles andere zu erreichen: Ja, das ist das Mitregieren wert.
profil: Auch um den Preis, bei Migration und Asyl eine Linie mitzutragen, die radikal grünen Überzeugungen widerspricht?
Anschober: Natürlich ist eine humane Asylpolitik mir wie allen Grünen ein Herzensanliegen. Die ÖVP bewegte sich da bisher keinen Millimeter. Aber wir werden weiter um Veränderung kämpfen. Das dauert leider, das ist ein Bohren dicker Bretter.
profil: Bisher waren die Grünen dabei völlig erfolglos.
Anschober: Das Thema humane Asylpolitik ist sicher das allerschwierigste Thema mit der ÖVP. Auch da werden die Grünen die Dinge schrittweise in Bewegung bringen. Wie beim Klima. Da gab es doch auch jahrelang nur Beton. Die Klimakrise ist eines der größten Marktversagen und eines der größten Politikversagen, weil seit 1966 die Fakten bekannt sind und viel zu wenig passiert ist. Sie zeigt aber auch eine Schwäche unserer Demokratie. Bei vielen Wahlen wählen Junge klimaorientiert, in Deutschland hatten die jungen Erstwähler aber nur 4,2 Prozent an den Wahlberechtigten. Es ist frustrierend, dass jene, um deren Zukunft es geht, immer in der Minderheit sind. Das müssen wir ändern.
profil: Wie denn?
Anschober: Wir müssen über das Wahlalter und über neue Instrumente wie BürgerInnenräte nachdenken. Da gibt es keine Patentrezepte. Aber es braucht Lösungen.
profil: Ist für Sie das Kapitel Spitzenpolitik abgeschlossen? Können Sie einen Notariatsakt unterzeichnen, dass Sie nicht bei der Bundespräsidentenwahl antreten?
Anschober: Mit Alexander Van der Bellen haben wir einen großartigen Bundespräsidenten, den besten, den es geben kann. Ich hoffe, er bleibt noch lange und kandidiert wieder. Jede Unterstützung dafür. Nach seiner zweiten Amtszeit wäre das Jahr 2028, dann wäre ich 67 Jahre alt - ich glaube nicht, dass ich dann großartiges Interesse habe, in die Politik zurückzukehren. Aber wer kann schon vorhersehen, was in sieben Jahren ist?