Rückkehr nach Syrien? „Heimat meiner Kinder ist Österreich“
Von Clemens Neuhold
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Oben geht das Wiener Leben seinen gewohnten Gang: Die Müllverbrennungsanlage Spittelau im 9. Wiener Gemeindebezirk bläst Rauch in die Luft, Autos brettern im Mittagsverkehr über die dreispurige Gürtel-Straße an ihr vorbei, Fußgänger versuchen, bei der kurzen Grünphase nicht unter die Räder zu kommen. Unten, im Souterrain eines Ecklokals, nur ein paar Treppen unterhalb des Gürtels, wartet eine andere Welt: Syrien.
Auf die syrischen Spezialitäten, die im „Jasmin al Sham“ dargeboten werden, wie Kibbeh-Bällchen, Foul-Bohnen oder die Melanzani-Paste Metabbel konzentriert sich an diesem Dienstag, vier Tage nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad, kaum jemand. Es wird hektisch diskutiert oder das Smartphone studiert.
Der Vize-Obmann des Vereins „Freie Syrische Gemeinde“, Abdulhkeem Alshater, scrollt fast nonstop durch sein Handy. Als eine der wenigen Ansprechpartner für die über 100.000 Personen starke Community der Syrer in Österreich bekommt er laufend Anfragen von Journalisten, ob er und andere Syrer nun zurückkehren.
Kollektive Traumatherapie
Dazwischen sichtet Alshater Videos von Assads Gräueltaten, die ständig neu in seiner Timeline aufpoppen: Berge an Schuhen hingerichteter Menschen im berüchtigten Saydnaya-Gefängnis, auch „Assads Schlachthaus“ genannt; freigelassene Häftlinge, die ins Leere schauen und zu keinerlei Emotion mehr fähig scheinen; Leichen von bekannten Aktivisten wie Mazen Hamada, die besondere Trauer hervorrufen. Hamada war 2013 nach Holland geflohen, um Zeugnis abzulegen von Assads Foltermethoden. 2020 kehrte er wegen seiner Familie zurück nach Syrien, wurde sofort verhaftet und kurz vor der Befreiung des Saydnaya-Gefängnisses vergangene Woche exekutiert.
Es sind Fotos und Videos, die unter Syrern weltweit kursieren. Roh, brutal, ungefiltert. Die Menschen setzen sich diesem Realitätsschock bewusst aus. Als wäre das der erste Teil einer Traumatherapie nach Jahrzehnten des Schreckens. „Unter Assad konnten wir nicht frei leben, nicht atmen. Nur essen und schlafen. Die Geheimdienste lauerten überall“, schildert Alshater. Im Arabischen Frühling 2011 packte ihn, wie so viele Syrer, der Mut, gegen Assad aufzustehen. In Homs organisierte er die ersten Demos gegen das Regime mit. Es gab Tote. Kurz darauf floh er unter abenteuerlichen Umständen – und landete 2015 in Österreich.
Der Fall der syrischen Mauer
Seit seiner Ankunft organisierte der vierfache Vater, der als Maler und Beschichtungstechniker arbeitet, auch in Österreich Demonstrationen gegen Assad. Bisher waren es 35. Die letzte am vergangenen Sonntag vor dem Parlament sollte die spektakulärste werden. Angemeldet hatte er sie eigentlich für 3000 Menschen. Doch dann wurde der Diktator am Tag vor der Demo gestürzt. Und statt 3000 kamen 30.000. Aus der Demo wurde einer Feier, an der jede dritte Austro-Syrer teilnahm. Männer, Frauen, Kinder. Die Stimmung war emotional vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer 1989.
Anders als den Ostdeutschen war es Syrern aber nicht vergönnt, die neue Freiheit auszukosten. Nur Tage nach der großen Party vor dem Parlament trat bei einem Teil der Austro-Syrer bereits die große Ernüchterung ein. Auf die Freude über das Ende des einen Schreckensherrschers folgt die Angst vor dem nächsten: Abu Mohammed al-Julani. Er ist Anführer der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die Assad federführend gestürzt hat.
Doktor Jekyll und Mister Julani
Julani war Dschihadist bei Al Kaida und steht nach wie vor auf der Terrorliste der Vereinten Nationen und der USA. Heute gibt er sich gemäßigt. Will zwar die Scharia in Syrien einführen, aber dabei Platz lassen für andere Religionen. Hat seinen Männern angeordnet, unverhüllte Frauen nicht sofort unter das Kopftuch zu zwingen. Lässt bei Assad-Anhängern Gnade walten. All diese Signale nehmen ihm die Männer im Wiener Souterrain nicht ab. „Er zeigt dem Westen sein schönes Gesicht. Aber das ist eine Lüge. Wir kennen diese Menschen nur zu gut. Mit ihm und seiner HTS sind Freiheit und Demokratie nicht möglich“, ist Alshater überzeugt.
Mohammad Helal tritt aus dem Hinterzimmer des Lokals hinzu. Er wirkt aufgeregt. Seine Augen flackern zwischen seinem Handy und Alshater hin und her. Sie unterhalten sich auf Arabisch. Helal kommentiert Fotos auf seinem Handy. Sie zeigen Quetschungen an Arm und Bein sowie einen Rücken, der von Peitschenhieben aufgerissen ist. „Das bin ich“, sagt er und scrollt zu einem weiteren Bild, das ihn verletzt und bandagiert auf einem Bett liegend zeigt. Diese Taten sollen nicht auf das Konto von Assads Schergen gehen, sondern auf jenes der Islamisten. Helal gibt an, in deren Machtgebiet rund um die Stadt Idlib im Norden der Hauptstadt Damaskus gelebt zu haben. Als Aktivist, der die Islamisten lautstark kritisierte, sei er von ihnen gefangen und gefoltert worden. Julani habe persönlich ein paar Peitschenhiebe durchgeführt. profil kann die Angaben nicht überprüfen.
Angst vor Islamisten
Mohammad Helal (links) sagt, er sei einst von den Islamisten, die Syrien nun übernommen haben, gefoltert worden. Auch Abdulhkeem Alshater (Mitte) und ein drittes Mitglied des Vereins „Freie Syrische Gemeinde“ wagen Rückkehr nicht.
40.000 Asyltitel auf dem Prüfstand
Helal ist ebenfalls in der Freien Syrischen Gemeinde aktiv. Anders als Alshater ist er erst vor drei Jahren in Österreich angekommen. Damit ist er einer von 40.000 Syrerinnen und Syrern, die ihren Asylstatus verlieren könnten. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) hat nämlich begonnen, Asyl-Aberkennungsverfahren einzuleiten. Betroffen sind Syrer, die weniger als fünf Jahre im Land sind. Über dieser Schwelle gilt der sogenannte verfestigte Aufenthalt. Den Schwerpunkt will Karner auf Straffällige und „schlecht integrierte“ Flüchtlinge legen, am Ende könnten aber alle erneut einvernommen werden. Helal müsste dann glaubhaft machen, dass er sich auch von den neuen Machthabern verfolgt fühlt.
Wer geht? Wer bleibt? Wer muss gehen? Das ist eine weitere Frage, die Syrer derzeit in Unruhe versetzt. Während sie noch das Ende Assads feierten, richtete ihnen ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer aus: „Syrien braucht jetzt seine Mitbürger. Der Sturz des Assad-Regimes verändert die Gesamtsituation. Die Möglichkeit zur Rückkehr rückt in greifbare Nähe.“ Laufende Asylverfahren und Familienzusammenführungen wurden gestoppt.
Geld für fünf Tage
Auch die neue Führung in Syrien appelliert an Flüchtlinge im Ausland: „Kommen Sie zurück!“ Alshater wartet ab. „Wir haben Angst vor den Islamisten. An eine Rückkehr ist erst zu denken, wenn das Land sicher und demokratisch ist.“ Ein Szenario, das noch in keinem Land nach dem Arabischen Frühling eingetreten ist. Wenn überhaupt, würde er allein zurückgehen – ohne Familie. „Für meine Kinder ist Österreich ihre Heimat. Zwei sind hier geboren.“ Der Syrer glaubt, dass in absehbarer Zeit nur wenige Landsleute aus Europa tatsächlich zurückkehren. Das liege auch an der Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen, Straßen. Oder am monatlichen Durchschnittseinkommen von 100 Euro. „Das reicht für fünf Tage.“
In Alshaters Verein sind neben säkularen Sunniten Minderheiten wie Drusen, Kurden, Ismailiten vertreten. „Bei uns darf niemand über Religion reden“, betont Alshater die weltliche Ausrichtung. Doch der größere Teil der Flüchtlinge ist muslimisch-konservativ. Deswegen repräsentiert die Freie Syrische Gemeinde bei Weitem nicht alle Austro-Syrer.
Likes nicht mehr lebensgefährlich
Eine religiöse Stimme aus der Community ist der in Damaskus geborene Tarafa Baghajati. Er ist Obmann der „Initiative muslimische ÖsterreicherInnen“ und lebt seit 1986 in Wien. Er ist deutlich optimistischer für die Zukunft Syriens. „Alte Freunde trauen sich zum ersten Mal wieder, ihren echten Namen auf Facebook zu verwenden und Beiträge von mir zu liken. Unter Assad hätte ein Like lebensgefährlich sein können“, sagt er. Die ersten Signale Julanis, für einen geordneten Machtübergang zu sorgen und alle Gruppen im Land einzubeziehen, sieht er positiv. Jetzt müsse man überwachen, ob es so weitergehe.
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Kundgebung zum 4. Jahrestag der Syrischen Revolution.
Hoffnungsfroh
Tarafa Baghajati auf einer Anti-Assad-Demo in Wien im Jahr 2015
Er habe selbst Familie in Damaskus, sei aber auch mit Christen in der Stadt Aleppo in Kontakt. Bisher habe er keinerlei Beschwerden über die Rebellen vernommen. „Sie stehen nicht für ganz Syrien. Das Land war immer schon ein Mosaik aus vielen Ethnien, Kulturen und Religionen. Deswegen wird es kein neues Afghanistan“, ist der 61-Jährige überzeugt. Das Islamverständnis der Syrer sei konservativ, aber in keiner Weise mit dem Salafismus der Rebellengruppe HTS zu vergleichen. Die syrische Mentalität beschreibt Baghajati so: „Leben und leben lassen.“
Was Alshater und Baghajati verbindet: Sie beide glauben nicht an eine Rückkehrwelle. Baghajati: „Bis in der alten Heimat echte Stabilität einkehrt, kann es viele Jahre dauern. Die Menschen haben sich hier ein Leben aufgebaut, mit einer austro-syrischen Identität. Sie werden Syrien besuchen, Brücken bauen. Aber nicht massenhaft zurückkehren.“
Eine Feststellung, die Innenminister Gerhard Karner und Kanzler Karl Nehammer wohl so nicht einfach hinnehmen werden.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.