Droht Europa das Ende der Reisefreiheit?
Immer mehr EU-Länder errichten Grenzzäune, um den Zustrom von Flüchtlingen abzuwehren oder auch nur in andere Staaten umzuleiten. Zuletzt wurden auch an den Binnengrenzen wegen der Terroranschläge wieder strenge Kontrollen im Reiseverkehr eingeführt.
Damit ist ein Grundpfeiler der EU, die sogenannte Freizügigkeit, also der freie Personenverkehr, ernsthaft einsturzgefährdet. Unter den vier Freiheiten des Binnenmarktes – freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen – war die Freizügigkeit jenes Grundrecht, das EU-Bürger in ihrem Alltag am deutlichsten merkten: Sie können sich innerhalb der EU-Grenzen frei bewegen und niederlassen. Und sie durften bisher innerhalb von 22 der 28 EU-Länder gänzlich ohne Grenzkontrollen frei reisen.
1985 wurde im schmucken Moselort Schengen in Luxemburg das Ende der Passkontrollen beschlossen. Innerhalb des Schengenraums, der heute aus den meisten EU-Ländern sowie der Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island besteht, konnten EU-Bürger weitgehend frei reisen. Noch unmittelbarer profitierten davon Millionen Pendler in der EU, die in einem benachbarten Land arbeiten.
Die EU-Innenminister erwägen ernsthaft, die bislang nur bei Großereignissen für bis zu zehn Tage erlaubten Grenzkontrollen im Schengenraum gleich auf zwei Jahre zu verlängern.
Doch seit einigen Monaten gibt es wegen der Flüchtlingswelle wieder lange Wartezeiten und Staus an den fast aus dem Bewusstsein verschwundenen Grenzübergängen: am Walserberg in Salzburg ebenso wie an den Rheinufern zwischen Strassburg und Kehl oder seit Kurzem auch an der Öresundbrücke zwischen Kopenhagen und Malmö, welche die schwedische Regierung nun sperren will. Die EU-Innenminister erwägen ernsthaft, die bislang nur bei Großereignissen für bis zu zehn Tage erlaubten Grenzkontrollen im Schengenraum gleich auf zwei Jahre zu verlängern. Beschlossen wurde vor zwei Wochen zunächst eine Frist von sechs Monaten.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat gleich mit dem völligen Ende der Reisefreiheit im Schengenraum gedroht, und zwar in Richtung jener EU-Länder, die sich bisher standhaft weigerten, Flüchtlinge – großteils aus Syrien und dem Irak – aufzunehmen. Diese haben nur in wenigen EU-Ländern, zum Großteil in Deutschland, Schweden und Österreich, Zuflucht gefunden.
Merkels Drohung richtete sich besonders an die Adresse von Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und die baltischen Länder, allesamt besonders renitent. Die neue rechte Regierung in Warschau hat das Zugeständnis der abgewählten Koalition über die Aufnahme von ohnedies kümmerlichen 7000 Flüchtlingen zurückgezogen. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán tut seit dem Bau seines Grenzzauns so, als gehe ihn die Flüchtlingskrise nichts mehr an. Tschechische Spitzenpolitiker sehen in Asylwerbern aus Syrien oder dem Irak nur potenzielle Terroristen. Und in der Slowakei wehrt sich der linkspopulistische Regierungschef Robert Fico gegen jeden Flüchtling aus dem Nahen Osten. Kürzlich konnten wegen des Widerstands von Dorfbewohnern rund um das slowakische Nitra trotz Appellen des Innenministers und des örtlichen Bischofs nicht einmal einige christlich-assyrische Familien aus dem Irak untergebracht werden.
Die tiefe Spaltung Europas in der Flüchtlingskrise zeitigt Konsequenzen, auch finanzielle.
Für kommenden Donnerstag hat Bundeskanzler Werner Faymann seine Kollegen aus Deutschland, den Benelux-Staaten, Schweden, Finnland, Griechenland, der Türkei und der EU-Kommission zu einem „Gipfel der Willigen“ eingeladen, um über den Schutz von Außengrenzen und Aufteilung von Flüchtlingen zu beraten. Von Justizminister Wolfgang Brandstetter kommt eine lobenswerte Initiative zur Schaffung einer einheitlichen EU-Asylpolitik. Es wäre höchste Zeit: Denn bislang gibt es nicht einmal in Grundfragen wie Aufnahmekriterien, Dauer des Verfahrens, das Ausmaß an Unterstützung, Arbeitserlaubnis und was bei einer Ablehnung des Asylantrags passiert, übereinstimmende Regelungen in der EU.
Die tiefe Spaltung Europas in der Flüchtlingskrise zeitigt Konsequenzen, auch finanzielle. Es sind die Nettozahler in der EU, welche die meisten Flüchtlinge aufnehmen – bei den 2016 startenden Verhandlungen über die Neuverteilung der Finanzmittel wird es für Wünsche aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten wohl wenig Verständnis geben.
Und aus dem großen Schengenraum könnte bald ein „Mini-Schengen“ aus einigen Staaten des „Kerneuropa“ werden. Diese Rücknahme eines wesentlichen Integrationsschrittes bedeutet für die weitere Entwicklung der Europäischen Union nichts Gutes. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat bereits eindringlich vor einer Abkehr vom Reisen ohne Grenzkontrollen gewarnt. Wenn Schengen wegfalle, dann mache auch die gemeinsame Währung nicht mehr viel Sinn, übte sich der Luxemburger als Kassandra-Rufer.
Nach dem freien Personenverkehr wären wohl bald Einschränkungen auch beim freien Warenverkehr die Folge. Der Hauptpfeiler des grenzenlosen Binnenmarktes geriete dann ins Wanken. Sollten Kontrollen von Lastwagen an den Binnengrenzen wieder eingeführt werden, bedeutet dies mehr Kosten und ein Ende für billige „just in time“-Lieferungen, durch die sich Unternehmen bisher die Lagerkosten ersparten.
So ist die Flüchtlingskrise für den Zusammenhalt der EU gefährlicher als die Probleme in der Eurozone.
Für Reisende in der EU drohen weitere Verschärfungen. Soeben wurde im Innenausschuss des EU-Parlaments die Speicherung von Fluggast-Daten auch bei Binnenflügen mehrheitlich beschlossen. Weitgehend fix ist auch die umfangreichere Kontrolle von EU-Bürgern bei der Einreise an den Außengrenzen.
Und kommenden Mittwoch wird die EU-Kommission ein neues Paket an Vorschlägen zur Kontrolle der EU-Außengrenzen vorlegen. Darin enthalten ist die Schaffung einer gemeinsamen Grenztruppe samt Küstenpatrouillen. Grenzbeamte aus mehreren EU-Ländern sollen gemeinsam Wache schieben und Einreisende kontrollieren. In der EU-Kommission heißt es, dass die Mitgliedstaaten diese Vorschläge annehmen müssen – nur dann habe das Schengen-Abkommen eine Chance weiter zu bestehen.
So ist die Flüchtlingskrise für den Zusammenhalt der EU gefährlicher als die Probleme in der Eurozone. Denn der Streit um Kontingente und Lastenverteilung bedroht inzwischen weit mehr als die Solidarität unter Mitgliedsstaaten. Rechtspopulistische und EU-feindliche Parteien nützen die Differenzen für Appelle zur Rückverlagerung von Kompetenzen von EU-Institutionen auf die nationale Ebene. Dass große Probleme wie Klimawandel, globaler Wettbewerb oder Terrorismus selbst größere EU-Länder überfordern, lassen die Vereinfacher unter den Tisch fallen.
Das Fehlen von Politikern, die über nationale Grenzen hinaus europäisch denken, handeln und planen, macht sich nun schmerzhaft bemerkbar. Immer seltener sind Grundsatzreden über die Zukunft Europas zu hören. So begnügte sich der britische Premier David Cameron kürzlich mit einer Aufzählung aller Hauptargumente der Austrittsbefürworter, anstatt auf die Bedeutung der EU-Mitgliedschaft für Großbritannien einzugehen.
Mit solchen EU-Politikern ist kein Staat zu machen. Schon gar keine Union aus Ländern, um europäische Interessen global vertreten zu können.