Schattenkanzler Kurz? Warum die Opposition irrt
Sebastian Kurz ist weg, Alexander Schallenberg ist da. Doch statt Freude, den Lieblingsfeind losgeworden zu sein, tönt aus der Opposition einhellig Kritik. Alles eine Scharade, sagen SPÖ, FPÖ und Neos. Kurz bleibe „Schattenkanzler“ (SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner), Schallenberg sei eine „Marionette“ (Parteikollege Hans Peter Doskozil), der das Parlament zum „Überwintern“ nutze (Kai Jan Krainer, wieder SPÖ). Kurz halte weiterhin „alle Fäden in der Hand“ (Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger), sein türkises System sei „nach wie vor voll da“ (FPÖ-Chef Herbert Kickl). Dass Schallenberg die 104-seitige Anordnung zur Hausdurchsuchung gestern bei der Parlamentssitzung effektvoll zu Boden warf, scheint die Kritik eindrucksvoll zu bestätigen.
Dennoch: Österreichs Opposition sollte sich in ihrer Haltung nicht gar so einbetonieren. Ein derart einschneidendes Ereignis wie die soeben vorübergegangene Regierungskrise löst – sowohl innerhalb von Parteien als auch zwischen ihnen – komplexe Dynamiken aus. Sie können sich locker über die kommenden Monate hinziehen. Und ihr Ausgang ist völlig offen.
Ein „Schwarzer“ mit „anderen Anschauungspunkten“
Da wäre zum Beispiel die Frage, wie sich die ÖVP-Landeschefs gegenüber Kurz positionieren. Momentan wissen sie das noch nicht einmal selbst (siehe die gestrige Morgenpost von Jakob Winter). Es spricht jedoch Bände, dass Tirols ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter gestern betonte, „ein Schwarzer“ zu sein, der „schon immer andere Anschauungspunkte“ gehabt habe als die türkise ÖVP.
Da wäre weiters die Arbeit der Justiz und die künftige öffentliche Debatte darüber. Sie geht jedenfalls unvermindert weiter, wie sogleich der gestrige Tag zeigte. Da wurde – nur wenige Tage nach den aufsehenerregenden Hausdurchsuchungen in ÖVP-Zentrale und Bundeskanzleramt – die Meinungsforscherin Sabine B. festgenommen, wegen Verdunkelungsgefahr.
Ämter prägen Persönlichkeiten
Was ebenfalls in die Komplexität der Lage hineinspielt, sind persönliche Charakterzüge der Protagonisten, die ihren Umgang mit der Situation prägen werden. Kurz muss nun damit leben, nicht mehr ständig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen. Als Stätte seines Wirkens erwartet ihn statt des Kanzleramts das vergleichsweise unglamouröse Parlament und die Lichtenfelsgasse – da kann eine frustrierende Erfahrung sein. Umgekehrt könnte Schallenberg mehr Gefallen an seinem neuen Amt finden, als Kurz lieb ist. Gut möglich, dass er sich vom Altkanzler emanzipiert, zumal er offenbar an Rückhalt unter den ÖVP-Ländern gewinnt. Ämter prägen bekanntlich Persönlichkeiten.
Fazit all dessen: Viele Faktoren wirken auf komplexe Weise ineinander. Wie sich der Machtwechsel auswirkt, lässt sich unmöglich prognostizieren. Die These von der Marionette sollte man jedenfalls nicht zu laut in die Welt hinaustrommeln. Sie könnte sich noch als historische Fehleinschätzung erweisen.
Joseph Gepp
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