Justiz: Unabhängige Ermittlungen, Femizid-Definition und Messenger-Überwachung
Noch ist zwar unklar, wer für die SPÖ das Justizressort in der neuen Regierung übernimmt, die Aufgaben der neuen Ministerin oder des neuen Ministers sind aber riesig: Die Gefängnisse sind überfüllt, Richterinnen und Staatsanwälte klagen über Personalmangel, die Strafverfolgung noch nicht ganz im digitalen Zeitalter angekommen.
ÖVP, SPÖ und Neos kündigen daher eine der größten Justizreformen der Zweiten Republik an: Das Justizsystem soll mit einem „grundlegenden Reformprozess“ überarbeitet werden. Eine der größten Strukturveränderungen: Die Justizministerin soll nicht mehr an der Spitze der Staatsanwaltschaften stehen und somit auch nicht mehr final über Einstellung oder Anklage von Ermittlungen entscheiden können. Das hatten schon ÖVP und Grüne in ihr Regierungsprogramm geschrieben, die letzte Regierung konnte sich in den vergangenen fünf Jahren aber nicht auf ein Modell einigen, da die Volkspartei weiterhin eine einzige Person an der Spitze dieser Bundesstaatsanwaltschaft haben wollte.
Nun dürfte die Volkspartei nachgegeben haben: Künftig soll ein „Kollegialorgan“, also ein Gremium aus mehreren Personen, an der Spitze der staatsanwaltschaftlichen Weisungskette stehen. Das Parlament wird diese Personen zwar für jeweils sechs Jahre wählen und auch Kontrollrechte haben, dennoch dürften Österreichs Staatsanwaltschaften erstmals systematisch von der Politik unabhängig sein. Fraglich bleibt, wie schnell die neue Regierung das neue Modell umsetzt. Angesichts von Ermittlungen gegen die Spitzen von ÖVP und FPÖ sowie die Anklage gegen einen Wiener SPÖ-Granden drängt die Zeit für unabhängige Staatsanwaltschaften jedenfalls.
Für diese Reform braucht die neue Regierung eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat. Und damit die Unterstützung der Grünen – oder, eher unwahrscheinlich, der FPÖ. „Ich glaube, dass die Zwei-Drittel-Mehrheit beim Bundesstaatsanwalt vielleicht leichter zu finden ist, als bei anderen Themen“, zeigte sich ÖVP-Chef Christian Stocker bei der Präsentation des Regierungsprogrammes aber überzeugt – immerhin hat die neue Regierung das von der noch amtierenden grünen Justizministerin Alma Zadić ausgearbeitete Modell in den wesentlichsten Punkten übernommen.
Gewaltschutz und Extremismus-Prävention
Doch was sollen die bald unabhängigen Staatsanwaltschaften überhaupt verfolgen? Die neue Regierung setzt neben der Stärkung von Korruptionsermittlungen einen besonderen Fokus auf drei Themenbereiche: Sexualdelikte, Extremismus und Cyberkriminalität. Durch Sonderzuständigkeiten in diesen Bereichen sollen Spezialisierungen innerhalb der Justiz geschaffen werden – und durch schärfere Gesetze und Befugnisse in diesen Bereichen deutlich mehr Möglichkeiten erhalten.
Das Sexualstrafrecht soll verschärft werden, das Verschicken von unerwünschten Penis-Bildern wird etwa unter Strafe gestellt. In Fällen familiärer Gewalt oder Missbrauch sollen die Verurteilten die Möglichkeit gemeinsamer Obsorge verlieren, stammt das Kind aus einer Sexualtat auch kein Kontaktrecht mehr haben. Auch sollen mehr Berufsverbote gegen Täter ausgesprochen werden. Eine einheitliche Definition von Femiziden soll eine statistische Erfassung erleichtern und somit die Prävention von Gewalt gegen Frauen verbessern.
Kommt es dennoch zu Gewalttaten, versprechen ÖVP, SPÖ und Neos eine bessere Opferbegleitung inklusive erweiterter Schmerzensgeldsätze. Maßnahmen gegen einschüchternde „SLAPP“-Klagen sollen neben Whistleblowern und Medien auch Opfer sexueller Gewalt vor rechtlichem Ungemach schützen, wenn sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen.
„Religiöser und politischer Extremismus sowie Antisemitismus dürfen in Österreich keinen Platz haben“, erklären die drei Parteien. Konkret bedeutet das: Die Tatbestände im Terrorismus- und Extremismusbereich werden ausgeweitet und verschärft. Aber auch an anderen Schrauben wird gedreht. Das Vereinsgesetz wird etwa verschärft, um leichter gegen Organisationen vorgehen zu können, die sich gegen die demokratischen Grundwerte stellen. Die neue Regierung zielt hier vor allem auf islamistische Tendenzen, aber nicht nur: Anders als die FPÖ wollen ÖVP, SPÖ und Neos auch bei Rechtsextremen genau hinsehen und planen neben dem Rechtsextremismusbericht einen „Nationalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“.
Vor allem bekommt der Staat im digitalen Raum aber deutlich mehr Befugnisse. Im Regierungsprogramm versteckt findet sich etwa auch die Überwachung von verschlüsselten Messenger-Diensten als „verfassungskonforme Gefährder-Überwachung zum Zweck gezielter Terrorbekämpfung“. Basis dafür soll der Begutachtungsentwurf des Innenministeriums aus August letzten Jahres sein. Innenminister Gerhard Karner wollte damit die Überwachung von Messenger-Diensten wie WhatsApp, Skype oder Signal ermöglichen. Datenschützer, SPÖ und Neos bezweifelten bis zuletzt allerdings, dass es überhaupt eine technische Möglichkeit gibt, nur auf spezifische Nachrichten und nicht das ganze Gerät zuzugreifen. Das Bundesheer soll zudem in Computersysteme im Ausland eindringen können und domänenübergreifende Operationen im Cyber-Raum durchführen können - für beides braucht das Heer aber erst die rechtlichen Befugnisse.
Keine Haft für Kinder, mehr Spione hinter Gittern
FPÖ und ÖVP hatten noch geplant, Kinder bereits ab zwölf Jahren mit Haft zu drohen. Von dieser Herabsetzung der Strafmündigkeit, um Jugendkriminalität zu bekämpfen, ist nun keine Rede mehr. Die neue Regierung setzt stattdessen auf „Normverdeutlichungsgespräche“ und verpflichtende Fallkonferenzen für nicht-strafmündige Jugendliche. Hilft das nicht, sollen die Jugendlichen statt in Gefängnissen in eigenen sozialpädagogische Wohngemeinschaften festgehalten werden können. Die überlasteten Gefängnisse und Staatsanwaltschaften dürften aufatmen. Fraglich ist allerdings, wie sich diese Freiheitsbeschränkungen für junge Menschen rechtlich umsetzen lassen.
Um die Gefängnisse zu entlasten, kündigen ÖVP, SPÖ und Neos zudem an, die Justizanstalten auszubauen, verstärkt auf den Einsatz der Fußfessel zu setzen – und „Haft im Herkunftsland“ zu forcieren. Wie genau die neue Regierung andere Länder dazu bringen will, hierzulande strafffällig gewordene Bürger zu übernehmen, bleibt aber offen.
Mehr Platz in den Gefängnissen dürften künftig auch Spione benötigen. Der Spionage-Paragraf wird auf zivile Nachrichtendienste erweitert und beim Verrat militärischer Geheimnisse machen sich künftig auch Zivilpersonen strafbar. Angesichts russischer Spionage hierzulande wird aber vor allem die nur grob angekündigte „Erweiterung der Strafbarkeit von Spionage“ interessant: Bisher ist in Österreich Spionage nur dann strafbar, wenn sie den Interessen der Republik schadet. Wer stattdessen auf österreichischem Boden gegen internationale Partner oder Organisationen wie die UN spioniert, wird nicht verfolgt. Diese Gesetzeslücke macht Österreich bislang zu einem Hotspot internationaler Spionage.
Im Zivilrecht werden außerdem Hochzeiten strenger geregelt: Künftig darf erst ab 18 geheiratet werden, Cousins und Cousinen dürfen nicht mehr getraut werden. Das Gesetz dafür hatten ÖVP und Grüne eigentlich schon im Sommer versprochen, es wurde aber vor der Wahl nicht mehr fertig, danach fehlte den Parteien die Mehrheit im Nationalrat. Wer alt genug und nicht zu eng verwandt ist und zum Standesamt schreitet soll dort deutlicher über die rechtlichen Folgen aufgeklärt werden. Geht die Ehe in die Brüche, soll ein reformiertes Scheidungsrecht gelten – unter anderem soll das Unterhaltsrecht reformiert werden sodass dafür weniger relevant ist, wegen wem der Ehevertrag aufgelöst wurde („Verschulderprinzip“). Das dürfte den schlechter verdienenden Teil des einstigen Ehepaars schützen – in der Regel ist das in Österreich immer noch die Frau.
Was die neue Regierung auszeichnet: Sie ist transparenter als ihre Vorgänger. Während bei Türkis-Blau und Türkis-Grün erst nach Jahren geheime Sideletter zu Postenabsprachen veröffentlicht wurden, schreiben ÖVP, SPÖ und Grüne ihre Deals gleich ins Regierungsprogramm. Die neue Regierung hält in diesem sozusagen öffentlichen Sideletter am Ende des Programms fest, wer das Vorschlagsrecht für die von ihr zu bestellenden Personen hat. Den nächsten EU-Kommissar darf etwa, erneut, der Kanzler, also die ÖVP, vorschlagen. Das österreichische Mitglied im Europäischen Rechnungshof dürfen die Neos nominieren.
Grob gesagt lässt sich herauslesen: Leitungsfunktionen werden von der ÖVP nominiert, Stellvertreter von der SPÖ und einfache Mitglieder von den Neos. Es gibt aber auch Ausnahmen, vor allem in Kontrollgremien. So dürfen die Neos etwa die nächste Generaldirektion der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) nominieren – wenn die Regierung bis dahin hält: BWB-Direktorin Natalie Harsdorf-Borsch wurde erst im November 2023 bestellt, ihr Vertrag läuft noch fast vier Jahre lang bis Ende 2028.