Sebastian Kurz 2016, im Rahmen einer PK zum Thema "Integrationsbericht 2016" in Wien.
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Prinz Eisenherz

Mit 29 Jahren ist Sebastian Kurz im März 2016 der jüngste Außenminister der Welt - und inzwischen auch fast in der ganzen Welt bekannt. In der Flüchtlingsfrage gibt nicht die Regierungsspitze den Ton an, sondern er. Vom belächelten Jungstar hat er sich zur ÖVP-Kanzlerhoffnung gemausert.

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Dieser Text erschien zuerst im profil Nr. 10 / 2016 vom 07.03.2016

Der Anzug sitzt scharf geschnitten wie immer, die Haare sind akkurat nach hinten geföhnt, das Gesicht leuchtet wie frisch eingecremt. Alle Ingredienzien für einen souveränen profil-Fototermin wären erfüllt, aber Sebastian Kurz zappelt angespannt herum. "Ich mag es nicht, fotografiert zu werden“, sagt er, und: "Wird das ein Killerfoto?“

Das mag jene Spezialform der raffinierten Eitelkeit sein, nicht ohne gewisse Koketterie um die Zusicherung zu buhlen, außergewöhnlich fotogen zu sein. Oder die ehrliche Sorge eines Mannes, der seine Auftritte bevorzugt penibel inszeniert, diese Bilder nicht völlig kontrollieren zu können. Kurz setzt einen ernsten Blick auf, dann einen freundlicheren, entschließt sich, möglichst gar kein Gesicht zu machen, verändert seine Körperhaltung um keinen Millimeter - und stößt danach hervor: "Puh, bin ich froh, dass ich jetzt wieder arbeiten kann.“

Ist das sein Ernst? Ein paar Fotos können an diesem Tag wirklich nicht die größte Herausforderung darstellen, schon gar nicht für einen, der das Scheinwerferlicht eher sucht denn scheut. Es gäbe weit gravierendere Anlässe, uncool zu reagieren: In Idomeni an der mazedonischen Grenze stürmen Flüchtlinge über die Polizeibarrieren und werden mit Tränengas zurückgedrängt. In Griechenland stauen sich Zehntausende Asylsuchende in Zelten oder im Dreck. Deutschland prügelt von Kanzlerin Angela Merkel abwärts auf Österreich im Allgemeinen und Außenminister Kurz im Besonderen ein. Sein Alleingang bei der Balkan-Konferenz wird gegeißelt, halb Europa gibt ihm die Schuld an der Eskalation und den beklemmenden Bildern.

Wenn Angela Merkel das humanistisch-verheißungsvolle Gesicht zur Willkommenskultur Europas verkörperte, dann versinnbildlicht Sebastian Kurz das kaltblütig-unerbittliche Gesicht zur Festung Europa, die sich abriegelt und Flüchtlinge abweist. In Österreich fungiert Kurz seit Längerem als Feindbild: Schon während des kurzen Sommermärchens der Mitmenschlichkeit, als andere Politiker noch am Westbahnhof Bananen an Flüchtlinge verteilten, schwamm Kurz gegen den Strom und warnte vor Überforderung. Mittlerweile diktiert nicht der Kanzler oder Vizekanzler Österreichs scharfen Kurs in der Flüchtlingsfrage, sondern Kurz, mit 29 Jahren immer noch der jüngste amtierende Außenminister weltweit.

Er nimmt Attacken und Trubel erstaunlich ungerührt hin. "Wir haben uns für den Weg entschieden, die Flüchtlingsströme zu stoppen. Da kann es noch viel schlimmere Bilder geben“, sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken. Und er wiederholt, in jedem Interview, sei es mit den ARD-"Tagesthemen“ oder mit der "Süddeutschen Zeitung“, beherrscht und kühl: "Es kann sein, dass Menschen mit Polizeigewalt aufgehalten werden müssen.“ Oder: "Ich habe immer gesagt, es wird eine Phase eintreten, wo wir den Zustrom reduzieren müssen. Dafür bin ich im Sommer extrem gescholten worden. Leider habe ich recht behalten.“ Dabei lächelt er, vielleicht eine Spur zu maliziös. Seine Botschaften sind klar, sein Subtext ist es auch: Hier sitzt jemand, der weiß, wo’s langgeht, sicher als Erster, womöglich als Einziger.

Es ist die bereits dritte Metamorphose im Politleben des Sebastian Kurz. Von der "Geil-o-Mobil“-Lachnummer im Wien-Wahlkampf 2010 mutierte er zu Everybody’s Darling im Integrationsstaatsekretariat und nun zu Prinz Eisenherz, der den Hardliner beim Flüchtlingsthema gibt. Manch anderer Politstern verglühte schnell (Erinnert sich noch jemand an Andrea Kdolsky?) - Sebastian Kurz liegt seit Jahren in Beliebtheitsrankings gleich hinter Bundespräsident Heinz Fischer und verweist alle Ministerkollegen auf die abgeschlagenen Ränge.

Fraglos ist der Jungstar eines der größten Talente, die in den vergangenen Jahren die politische Bühne betraten. Er beherrscht die Kunst, Themen im richtigen Moment zu platzieren. Spielt meisterhaft mit Symbolen und Codes. Versteht es, Machteliten und Medien zu umgarnen. Verfügt über außergewöhnliche Kommunikationsqualitäten. Und vermittelt, als Kontrapunkt zur schier unerträglichen Schwere des Politikerdaseins, die viele seiner Kollegen ausstrahlen, selbstbewusst Lust an der Politik. Alles garniert mit unprätentiösem Charme: Wenn der Minister mit einer Wirtschaftsdelegation Indien besucht, verlässt er die schwarze Amtsträgerlimousine, setzt sich zur Gruppe in den Autobus und flaniert galant plaudernd durch die Busreihen. Wenn die Gruppe am Flughafen einkehrt, holt er höchstpersönlich Getränke.

Kein Wunder, dass Kurz einen eingeschworenen Fanclub hinter sich versammelt hat. Auch dieser hat sich allerdings bemerkenswert gewandelt. "Am Anfang war das Spektrum links der Mitte sein Rettungsring. Dort hat Kurz gepunktet, weil er in seinen Anfängen als Integrationsstaatssekretär gezielt Signale nach links aussandte“, analysiert der Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer, der schon viele Politiker aufsteigen und fallen sah. Mittlerweile ziehe Kurz eher Wähler rechts der Mitte an, aber beileibe nicht nur solche, sagt Bachmayer: "Das Außenministerium bietet das ideale Podium für gute Beliebtheitswerte, weil es kaum politischen Konfliktstoff birgt - aber jede Menge schöner Bilder.“ Solange die Frisur hält, kann beim Händeschütteln mit US-Außenminister John Kerry eigentlich wenig schiefgehen.

Das ist die Kardinalfrage beim talentierten Herrn Kurz: Was kann er wirklich? Und was will er? Umgekehrt sind diese Fragen präziser zu beantworten: Kurz lässt sich auf keine Missionen ein, bei denen er wenig zu gewinnen hat. Er ist zwar in der Wiener ÖVP verwurzelt, weigerte sich aber, vor der Wiener Wahl im vergangenen Herbst seine Popularität einzusetzen, als Spitzenkandidat anzutreten und die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Er schaffte es außerdem, nach dem erwartbaren Wahldesaster den undankbaren Job als Wiener ÖVP-Chef nicht selbst anzunehmen, sondern an Gernot Blümel weiterzureichen.

Dieser Zug, lieber kein Risiko einzugehen, lässt manche in der Partei wünschen, Kurz möge den Beweis antreten, ob er auch als Schlechtwetterpolitiker taugt. "Ich wäre dafür, dass er das Innenministerium übernimmt“, plädiert Ex-ÖVP-Obmann Erhard Busek. Denn: "Derzeit gibt Kurz den Chefkommentator der Regierung.“

Das ist in der Tat eine Kernkompetenz von Kurz. Er analysiert, er moderiert, er spricht heikle Themenlagen an, stets rhetorisch geschliffen - und überantwortet sie flugs anderen zur Erledigung. Als Außenminister agierte er innerhalb des begrenzten Gestaltungsrahmens, über den Österreich verfügt, durchaus umtriebig (siehe Kasten Seite 23). Als Integrationsminister verlegte er sich mehr aufs Urgieren denn auf die mühevolle Umsetzung. Gewiss, das Integrationsministerium ist Querschnittsmaterie: Für Flüchtlingsjobs ist das Sozialministerium zuständig, für Quartiere das Innenministerium, für Ausbildung das Bildungsministerium und für eine europäische Lösung die EU. Das versetzt Kurz in die komfortable Position, beherzte Forderungen stellen zu können und den Rest anderen zu überlassen. Ferdinand Maier, langjähriger ÖVP-Politiker, Generalsekretär des Raiffeisenverbandes und rechte Hand von Flüchtlingskoordinator Christian Konrad, kommt zum Schluss: "Kurz hat das beste Wording der Regierung - aber es fehlt manchmal am Handling. Er ist ein Mundwerksbursche, kein Handwerksbursche.“

Das rhetorische Handwerk allerdings, so viel lässt sich mit Gewissheit sagen, beherrscht Kurz wie derzeit kein anderer. Er verheddert sich nie in der Grammatik, spricht gepflegtes Deutsch, ist telegen und liefert selbst bei Auftritten in ausländischen Fernsehsendungen keinerlei Anlässe zum Fremdschämen. Entsprechend gern wird er als Gast gebucht, ob bei der Lehrertagung in Linz oder für die CSU im deutschen Wahlkampf. Überall versteht er es, seine Zuhörer in den Bann zu ziehen - auch, weil er geschickt den Habitus pflegt, "kein Berufspolitiker“ zu sein und nach spätestens zehn Jahren aus der Politik ausscheiden zu wollen. Wenn man ihn allerdings fragt, wie denn sein Lebensentwurf abseits der Politik aussähe, kommt die überaus vage Antwort: "Ich wäre vielleicht in die Privatwirtschaft gegangen oder in eine NGO.“ Zusatz: "Oder ich hätte für das Parlament kandidiert.“

Jemand, der eigentlich nie Politiker werden wollte, spricht anders. Tatsächlich hat Kurz, der seine Karriere gerne als glückliche Fügung darstellt, sein ganzes Erwachsenenleben der Politik gewidmet.

Kurz gilt zu Unrecht als "Hietzinger Schnösel“. Bis heute begrüßen ihn ältere Damen im noblen 13. Wiener Gemeindebezirk freundlich auf der Straße mit den Worten: "Herr Minister, schön, Sie wohnen ja auch bei uns.“ Dabei wuchs er in Wien-Meidling auf und wohnt bis heute dort, bei Schönbrunn, in jenem Teil des Arbeiterbezirks, in dem sich seinerzeit Bürger ansiedelten, um nahe beim Kaiser zu sein. Der Vater ist HTL-Techniker, der bei Philips werkte, die Mutter Geschichtslehrerin am Gymnasium; beide sind treue ÖVP-Wähler, aber nicht Funktionäre. Kurz ist ein Einzelkind, während der Bosnien-Krise nahmen die Eltern Flüchtlinge bei sich auf.

Kurz war nie Schulsprecher: "Das hat mich damals nicht interessiert. Ich war immer eher grundsatzpolitisch interessiert.“ Er verfasste Fachbereichsarbeiten über den demografischen Wandel und das Pensionssystem. 2002 feierte die ÖVP unter Wolfgang Schüssel mit 42 Prozent einen rauschenden Wahlsieg, da wollte Kurz mit dabei sein. Der 16-Jährige rief bei der Jungen ÖVP in Meidling an und trug seine Mitarbeit an. Dort vertröstete man den Jungspund und riet ihm, er solle sich in ein paar Jahren wieder melden.

Die Anekdote erzählt Kurz bis heute gerne - seinerzeit auch Markus Figl, damals Mitarbeiter von Michael Spindelegger und Obmann der Jungen VP im 1. Bezirk. "Kurz war sehr interessiert, hat viele Fragen gestellt und war unglaublich fleißig“, erinnert sich Figl. "Bald war er Chefredakteur unserer Zeitung, Das junge Element‘.“ Wofür Kurz damals politisch gebrannt habe? Figl denkt lange nach und sagt dann: "Wir haben zum Beispiel intensiv über Generationengerechtigkeit und Radwege diskutiert.“

Figl, ein Großneffe des legendären Bundeskanzlers Leopold Figl, baute damals eine Akademie für den Politnachwuchs auf, bot dem Meidlinger Kurz Polit-Asyl in der Innenstadt an und nahm ihn unter seine Fittiche. Dieser absolvierte beflissen jeden Kurs, der sich ihm anbot, in Wien und bei der wesentlich schlagkräftigeren ÖVP Niederösterreich. Damals lernte der wissbegierige Zuhörer auch Erwin Pröll kennen, der bis heute einer seiner Schutzpatrone ist. Nur das prestigeträchtige Trainee-Programm der Industriellenvereinigung ergatterte Kurz nicht: Die IV lehnte ihn mangels Universitätsabschlusses ab, sein Jus-Studium ist bis heute unvollendet.

Die Junge ÖVP Wien und Kurz buhlten mit halbseidenen Kampagnen um Aufmerksamkeit: Für "24-Stunden-Verkehr“ wurde mit einer Frau im knappen Höschen geworben, für E-Voting mit einem Mann, der mit Laptop zwischen einer rot- und einer schwarzhaarigen Frau im Bett liegt, für "Schwarz macht geil“ mit dem berühmten "Geil-o-Mobil“. Bedauert Kurz diese Kampagnen rückblickend? "Es ist ja keiner gestorben oder verletzt worden dabei.“

Allfällige politische Jugendsünden von Altvorderen wie Werner Faymann oder Reinhold Mitterlehner können nur weitererzählt werden. Kurz’ Pech ist, dass in seiner Jugend "YouTube“ bereits erfunden war. Mit den peinlichen Videos, in denen ein rotwangiger Kurz fünf Mal in einem Satz "geil“ sagt, munitionierten sich seine Gegner auf und versuchten, ihn zur Lachnummer zu machen.

Das hat Kurz überaus vorsichtig, schier misstrauisch werden lassen. Seit er Integrationsstaatssekretär wurde, tut er alles, um keine Bruhaha-Bilder oder intime Bekenntnisse für das Archiv zu liefern. Der Versuchung, mit Homestorys und Einblicken in das Privatleben auf den Society-Seiten zu glitzern, erlag er nie. Es gibt kaum gemeinsame öffentliche Auftritte mit seiner Lebensgefährtin Susi, einer Wirtschaftspädagogin, mit der er seit mehr als zehn Jahren liiert ist.

 

Selbst honorige Persönlichkeiten wie Heinz Fischer, die heimische Inkarnation der Seriösität, gratulieren heutzutage ihrer Frau auf Facebook zum Valentinstag, fast alle Spitzenpolitiker lassen sich gerne beim Bergsteigen oder Radfahren ablichten. Von Sebastian Kurz gibt es keine Partyfotos, keine beim Kitesurfen, keine in unvorteilhafter Freizeitkleidung. Freunde wissen zu berichten, dass er selbst bei privaten Ausflügen vor Handy-Selfies noch die Toilette aufsucht, um die Frisur zu kontrollieren.

In Indien besucht er, gemeinsam mit Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl, das IT-Unternehmen Infosys. Selbst hier, in der artifiziellen Welt der jugendlichen Computernerds ("der einzige Ort der Welt, wo Sie zu alt sind, Herr Minister“ begrüßt ihn der Unternehmensvertreter), wird den Gästen beim Empfang die traditionelle Blumenkette um den Hals gelegt und der Bindi-Punkt auf die Stirn gemalt. Kurz lässt beides raschestmöglich wieder verschwinden. Christoph Leitl erträgt Blumen und Bindi stoisch und sitzt, derart geschmückt, bei der Begrüßungsansprache in der ersten Reihe neben Kurz. Der trägt längst wieder nur Anzug und Hemd und eine punktlose Stirn.

Kurz’ Jugend war oft Thema, eigentlich zu Unrecht. Im Grunde wirkt er, als sei er schon als Minister auf die Welt gekommen: ein smarter Frühstarter, der ohne Umweg von der Kindheit ins Erwachsenenleben surfte. Kommenden August wird er 30 Jahre alt werden, kommenden April fünf Jahre lang Regierungsmitglied gewesen sein.

Bis dato hat er sich seine Unverbrauchtheit bewahrt - und seine Unverbindlichkeit. Er tritt stets aufgekratzt auf und beherrscht es, möglichst freundlich möglichst wenig zu sagen. Über seine grundsätzlichen Vorstellungen, seine wirtschaftspolitischen Überlegungen, seine Überzeugungen, für die er brennt, ist wenig bekannt. Er verehrt den konservativen britischen Premierminister David Cameron, von dem er sich den Kampf gegen Sozialleistungen für Migranten abgeschaut hat, und er hält Cameron und Großbritannien schon deshalb für wichtig, "weil sonst die EU eine reine Sozialunion wird. Die Briten schauen in Brüssel auf Wirtschaftspolitik.“

Derart vage Signale sind überaus praktisch. Sie bilden eine Folie, auf die jeder projizieren kann, was er will. Selbst wenig aussagekräftige Standardsätze vermögen zu elektrisieren und die Hoffnung zu vermitteln, unter Kurz könne die ÖVP Themenführerschaft zurückerlangen. Als Wirtschaftspartei glänzen. Moderner werden. Oder gar Wahlen gewinnen. Selbst altgediente ÖVP-Granden verfallen nachgerade in Verzückung, wenn sie darüber fantasieren, was unter einer Führungsfigur Kurz für die ÖVP alles möglich sein könnte.

Seit Kurz Obmann der Jungen ÖVP ist, flicht er Codewörter wie "Werte“ oder "Leistung“ ein, ohne zu erläutern, was damit genau gemeint ist. "Kurz nutzt sprachliche Muster, die seit Ronald Reagan und Margret Thatcher zum fixen Bestandteil des konservativen Diskurses gehören, um konservative Werte wie Disziplin und Eigenleistung hervorheben“, analysiert die Sprachwissenschafterin Elisabeth Wehling, die seit Jahren darüber forscht, wie mit Wendungen und Formulierungen Politik gemacht wird.

Bisher ist es Kurz gelungen, im Vagen zu verharren und niemanden zu vergrätzen. Das hat Methode. Davon ist zumindest Ursula Stenzel überzeugt. Die ehemalige ÖVP-Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt, mittlerweile zur FPÖ übergelaufen, kennt Kurz seit dessen Anfängen als Politiker. "Er hat eine besondere Begabung, immer freundlich, glatt, gefällig und unverbindlich aufzutreten“, sagt sie: "Wo seine Überzeugungen liegen, konnte ich nie ergründen.“ Stenzel, die Doyenne des Bürgertums, will sich nicht einmal festlegen, wie konservativ Kurz ist: "Ich halte den Sebastian, der sich bravourös schlägt in der Regierung, für äußerst anpassungsfähig.“

Im Grunde war es stets ein Missverständnis, Kurz für einen Liberalen zu halten. Kurz’ Herz schlägt, vor allem anderen, dafür, modern zu sein. Und als modern gilt derzeit die "law and border“-Fraktion. Und Kurz ist ihr Rädelsführer.

Fraglos hat er das Talent zur Rampensau. Bis heute kann Kurz Säle und Bars mit Anekdoten über seinen holprigen Start in die Spitzenpolitik unterhalten: Wie er von Medien vernichtet, von Parteifreunden gemieden und öffentlich verhöhnt wurde. (Die Facebook-Gruppe "Ich mache meinen Staatssekretär bei Humboldt“ hatte bald 27.000 Fans.) Ausgerechnet der blutarme Michael Spindelegger, der als Finanzminister und Vizekanzler dilettierte, aber als Personalentwickler brillierte, erkannte das Potenzial von Kurz und machte ihn im Jahr 2011 zum Staatssekretär. Kurz fragte alle, die Rang und Namen haben in der Partei, um Rat. Josef Pröll, gerade als Parteichef abgetreten, drängte ihn, das Amt anzunehmen: "So oft wird man nicht gefragt.“ Aber: "Nimm auf keinen Fall die Integration.“

Der Rest ist Geschichte. Als Integrationsstaatssekretär tourte Kurz als eilfertiger Zuhörer durchs Land, prägte den Begriff "Integration durch Leistung“, umgab sich mit Integrationsbotschaftern und holte aus den begrenzen Möglichkeiten eines Staatssekretärs das Maximum heraus, auch für das eigene Standing. Zu kniffeligen Bereichen wie dem Asylthema äußerte er sich lieber nicht. Als Hauptverdienst bleibt, einen neuen Ton in die Ausländerdebatte gebracht zu haben - auch deshalb, weil Kurz sich gerne mit erfolgreichen Migranten umgab. Aleksandra Izdebska etwa, damals junge, dynamische Mitgründerin der Computerkette Di-Tech. Die gebürtige Polin hält Kurz bis heute zugute, dass er einer der Ersten war, die sie nach der Pleite ihres Unternehmens anriefen: "Damals war ich ein Outlaw. Der Sebastian aber stand zu mir.“

Izdebska gehört auch zu den zahllosen Menschen, die Kurz im Dezember 2013 konsultierte, ob er Außenminister werden solle. Selbst zu Hannes Androsch, seinerzeit jüngster Finanzminister der Zweiten Republik, stiefelte er. Dessen Vorzimmerdamen sind bis heute von Kurz’ guten Manieren begeistert.

"Der Sebastian ist ein Menschenfischer. Er findet mit jedem relativ schnell eine Ebene und einen Konnex“, schwärmt Markus Wölbitsch, ein Jugendvertrauter und heute Geschäftsführer der Wiener ÖVP. Zusatz: "Es entspricht Sebastians Naturell, alles möglichst perfekt zu machen. Er ist manchmal ein bisserl ein Prinzipienreiter.“ Die große Beraterdichte hat einen durchaus erwünschten Nebeneffekt: Wer vom Minister um Input gebeten wird, wird später Hemmungen haben, ihn zu kritisieren oder ihm gar in den Rücken zu fallen.

Die Wiener Integrationsstadträtin Sonja Wehsely kann ein Lied davon singen. Sie ist eine der wenigen, die zuletzt den Konflikt mit Kurz nicht scheuten: "Wenn man so viele Mentoren hat wie Kurz, fühlen sich alle bei Kritik an ihm mitgemeint. Daher überlegen es sich viele, sich mit Kurz anzulegen - auch in der SPÖ.“ Wehsely verhehlt nicht, dass sie das bedauert und für einen strategischen Fehler hält: "Kurz ist ein Scharfmacher, der deutlich das alte CSU-Prinzip verfolgt, dass rechts kein Platz sein darf. Dahinter steckt wohl das Ziel Schwarz-Blau.“

Wie weit zu gehen ist Kurz bereit? Nicht wenige in der ÖVP verknüpfen mit dem Shootingstar die Hoffnung, endlich aus der ungeliebten Koalition mit der SPÖ ausbrechen zu können und den Kanzler zu stellen. Alle wissen, dass Kurz der Mann der Zukunft ist - fraglich ist bloß, wann diese Zukunft beginnt. Und wie.

Kurz selbst ist klug genug, auch auf die Frage nach seinen politischen Plänen ausweichend zu antworten: "Meine Lieblingskoalition wäre eine aus ÖVP, Grünen und NEOS.“ Die hätte derzeit allerdings gerade einmal 41 Prozent.

Kurz ist betont loyal gegenüber ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner, verliert auch kaum ein Wort der Kritik über Kanzler Werner Faymann - zumindest nicht, solange die Mikrofone eingeschaltet sind. All das solle niemanden täuschen, sagt ein Ministerkollege: "Am Ende des Tages ist Sebastian ein knallharter Machtpolitiker.“

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin