Selbstjustiz: Immer mehr Wutbürger pfeifen auf den Rechtsstaat

Von lokalen Bürgerwehren bis zu "asylantenfreien" Bars: Immer mehr Wutbürger pfeifen auf Gesetze und Polizei und nehmen die Sicherheitsagenden selbst in die Hand. Wie bedrohlich ist das für unsere Gesellschaft?

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"Fascho" steht da, in großen schwarzen Lettern an die Glasfassade gesprayt. Gleich daneben, an der Eingangstüre zur Ordination in Wien-Floridsdorf, hängt jener Zettel, der vor etwas mehr als einer Woche in ganz Österreich für Aufsehen sorgte: Darauf verkündet der Arzt Thomas Unden, keine "Asylanten" in seiner Praxis behandeln zu wollen.

Sichtlich unbeeindruckt vom Furor um seine Person sitzt Unden vor einer Bücherwand in seinem bescheidenen Arztzimmer. Im Vorraum warten Patienten, doch der Mediziner hat keine Eile. Wortgewandt fabuliert er vom "Vormachtkampf ethnischer Gruppen", der sich schon bald zu einem "Bürgerkrieg" in Österreich auswachsen werde. Immer weiter spinnt er seine Thesen, bis er schließlich bei den "zionistischen Freimaurern" landet.

Unden mag ein einfältiger Verschwörungstheoretiker sein, doch ist er längst nicht mehr allein. Es gibt eine Bar in Bad Ischl, die sich rühmt, "asylantenfrei" zu sein, einen oberösterreichischen Rechtsanwalt, der keine straffällig gewordenen Ausländer vertreten will, und selbst ernannte Bürgerwehren, die in mehreren Städten Patrouillen planen. Ihnen allen ist eines gemein: Anders als Hassposter im Internet oder Demonstranten der rechtsnationalen Pegida-Bewegung artikulieren sie ihre Wut nicht nur verbal. Vielmehr schreiten sie in ihrem Einflussgebiet zur Tat - auf eigene Faust und in bewusster Opposition zu öffentlichen Institutionen, wie etwa der Ärztekammer oder der Polizei. Dies ist eine neue, in Österreich bislang ungeahnte Dimension von Protest, ein diffuser Aufstand gegen alles, was Obrigkeit verkörpert.

Legitimationskrise des Staates?

Der deutsche Sozialpsychologe Andreas Zick, bekannt für seine Forschung zu Radikalisierung und Rassismus, meint, durch die starke Kriegsflucht und fehlende europäische Antworten darauf habe sich der Vertrauensverlust in die Politik zu einer Legitimationskrise des Staates ausgeweitet. Die Folge: "Seit rechte Gruppierungen Rückendeckung von der Mitte der Gesellschaft spüren, fühlen sie sich vermehrt als Vollstrecker der Volksmeinung", sagt Zick.

Auch der Arzt Unden sieht sich als Sprachrohr der wehrhaften Minderheit, er will nun sogar Bundespräsident werden. Seine Lebensgeschichte ist symptomatisch für einen Wutbürger: Bereits während der Ausbildung zum Facharzt flog er vom Wiener Donauspital und schloss seine Berufsbefähigung deshalb in kleineren Privatkliniken ab. Seit dem EU-Beitritt Österreichs ging Unden nicht mehr wählen, vor fünf Jahren hörte er schließlich auf, österreichische Medien zu konsumieren. Stattdessen bezieht er seine Informationen aus einschlägigen Internetblogs russischer Prägung, wie etwa "RT-Deutsch", einem Ableger des russischen Staatsfernsehens "Russia Today".

Seine tiefe Abneigung gegenüber allen Einrichtungen der Öffentlichkeit ist offenkundig: "Der Ärztekammer spreche ich jede Qualifikation ab, meinen Berufsstand und mich zu vertreten. Ich sag Ihnen eines: Die können mich kreuzweise!" Die "emotionale Kündigung von diesem Staat" habe er schon vor einigen Jahren vollzogen.

Der Behördenverdruss geht aber noch weiter: In mehreren Städten formieren sich derzeit selbst ernannte Bürgerwehren. Über das soziale Netzwerk Facebook finden jene zusammen, die ein starkes Unsicherheitsgefühl plagt. In Graz sind die Planungen schon weit gediehen: Samstag vor einer Woche treffen in einem Gasthaus etwa 30 Personen zu einem ersten Informationsabend der Bürgerwehr zusammen. Von den drei Organisatoren will niemand mit profil sprechen. Eine Teilnehmerin willigt zunächst in ein Treffen ein, rudert jedoch kurz darauf zurück - die Vereinigung habe strenges Sprechverbot gegenüber den Medien erteilt. K. jedoch, der auch am Infoabend teilgenommen hat, sieht keinen Grund für Geheimniskrämerei: "Unser Ziel ist es, der Grazer Bevölkerung die Sicherheit zurückzugeben. Wenn Übergriffe passieren - und das wird nicht lang dauern -, werden wir eingreifen."

Bürgerwehr auf Patrouille

K. und Kumpanen misstrauen der Polizei: Sie könne Sicherheit nicht länger gewährleisten und lasse Verbrechen von Asylwerbern meist ungestraft durchgehen. Ab Februar wollen sie deshalb selbst auf Patrouille gehen, durch Selbstermächtigung aus der gefühlten Ohnmacht ausbrechen. Wo und wie oft die Grazer Hilfssheriffs um die Häuser ziehen wollen, wird noch debattiert. Umso einiger scheint man sich über die zu bekämpfende Gefahrenquelle zu sein: "Die 'Neuzugänge' kennen unsere Kultur nicht, wissen nicht, dass man Frauen nicht vergewaltigt, und radikalisieren einander", glaubt K. Immerhin: Der Schutz gelte Frauen und Kindern "aller Rassen". Psychologe Zick warnt vor der Gefahr, die von derart vorurteilsbehafteten Gruppierungen ausgeht: "Bürgerwehren gehen derzeit bestimmt nicht auf die Straße, um keine Täter zu finden. Das Risiko ist groß, dass sie etwas finden werden - besonders bei Menschen, die in ihr Raster fallen."

Nach dem Gesetz dürfen Bürgerwehren nicht mehr als jede Privatperson auch: beobachten und im Verdachtsfall die Polizei rufen. Dies scheint sich jedoch nicht zu allen Mitstreitern durchgesprochen zu haben: "Natürlich kann es zu Gewaltausschreitungen kommen", prognostiziert Bürgerwehrler K. In Situationen wie in Köln etwa, bei der "die Polizei machtlos ist", wäre seine Truppe handlungsbereit zur Stelle. Der Politikwissenschafter Anton Pelinka kennt nicht-staatliche, paramilitärische Organisationen aus Ungarn, wo er einen Lehrstuhl innehat: "Wenn sich Bürgerwehren polizeiliche Funktionen aneignen, auch ohne Waffe, muss der demokratische Rechtsstaat klar und entschieden auf seinem Gewaltmonopol beharren und durchgreifen. Tut er das nicht, ist die Gefahr schon sehr weit fortgeschritten."

K. erklärt, er sei versiert in Würgegriffen; Hände und Füße genügten ihm für die Patrouille. Seine Freunde begnügen sich nicht damit: "Viele meiner Bekannten machen den Waffenschein und kaufen Pistolen. Pfefferspray werden die meisten auf der Streife dabeihaben, einige sicher auch ihre Waffen."

Allein in den vergangenen vier Monaten erhöhte sich die Zahl der Waffenbesitzer in Österreich um knapp 10.000 Personen auf 266.000. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als 20.000 neue Waffen registriert; insgesamt gibt es nun 922.000. Noch deutlicher zeigt sich der Anstieg bei Anträgen auf Waffenbesitzkarten bei der Wiener Polizei. Üblicherweise suchen monatlich etwa 100 Personen darum an. Im November 2015 gingen jedoch 460 Anträge ein, im Dezember gar 660. Wiener Waffengeschäfte nützen den Trend und bieten kostenlose Seminare zum Selbstschutz an. Bei der Wirtschaftskammer spricht man von einer Steigerung der Pfefferspray-Käufe um etwa 50 Prozent.

Paradoxe Unsicherheit

"In Situationen der Angst sind das Versuche, Sicherheit zu kaufen - in völliger Verkennung der Realität", erklärt Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl, der in Wien das Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung betreibt. Die gefühlte Unsicherheit erscheint paradox, sinkt doch die Gesamtkriminalität in Österreich seit zehn Jahren kontinuierlich, während die Aufklärungsquote steigt. Parallel dazu nimmt jedoch die Kriminalitätsfurcht zu, wie Daten des Kuratoriums für Verkehrssicherheit zeigen: 2005 fühlten sich 19 Prozent der Österreicher ab 18 Jahren "sehr unsicher" und "ein bisschen unsicher", wenn sie nach Anbruch der Dunkelheit allein in der Nachbarschaft spazieren gingen, 2011 waren es bereits 26 Prozent. Dass die Kriminalität in den kommenden fünf Jahren bundesweit steigen werde, glaubten damals mehr als die Hälfte der Befragten, während nur acht Prozent davon ausgingen, dass sie sinken werde.

In seiner Forschung stellte Kreissl fest, dass die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, "bei denen am höchsten ist, die die geringste Viktimisierungswahrscheinlichkeit haben". Für Kreissl ist Kriminalitätsfurcht "immer Ausdruck einer tiefer sitzenden Unsicherheit, die mit anderen Ängsten korreliert", wie etwa jener um den Arbeitsplatz. Sicherheit sei, so der Kriminalsoziologe, ein gesellschaftlicher Zustand, der von vielen Faktoren abhänge: "Da geht es um Straßenverkehr, Strom, soziale Absicherung. Die Kriminalität ist nur ein kleiner Puzzlestein, aber eine große Projektionsfläche."

Karin Siebrecht-Janisch bewacht zwar nicht ganze Straßenzüge, sie sorgt sich aber um die Sicherheit in den vier Wänden ihrer Bar "Charly's". Dort, in Bad Ischl, herrscht vergangenen Donnerstag tote Hose. Die Besitzerin erklärte ihr Lokal eine Woche zuvor via Facebook für "asylantenfrei". Zumindest online findet sie Anerkennung: 90 Prozent der E-Mails, die sie erhalten habe, seien Solidaritätsbekundungen gewesen. Siebrecht-Janisch hat, wie Arzt Thomas Unden, schon lange den Glauben an den Staat und dessen Institutionen verloren. Zeitungen lese sie seit Monaten nicht mehr: "Da wirst du nur manipuliert!" Ähnlich wenig Verlass sei auf Polizei und Politiker, deren Untätigkeit die Bürger zwinge, selbst aktiv zu werden. Da Asylwerber des nahegelegenen Flüchtlingsheims ihre weiblichen Gäste belästigt haben sollen, beschloss sie, sich über das Gesetz zu stellen: "1000 Euro kosten mich die Türsteher in der Woche. Aber solange die Polizei nichts unternimmt, gilt immer noch: Mein Haus, meine Regeln."

Die Wutbürger stoßen aber auch auf Gegenwehr: Die aufkeimenden Bürgerwehren stehen unter Beobachtung der Polizei; der Arzt Unden ist bald seinen Kassenvertrag los, und Lokalbetreiberin Siebrecht-Janisch sieht sich mit harscher Kritik vonseiten der lokalen Politik und auch der ortsansässigen Tourismusschüler konfrontiert, die soeben ihre Abschlussfeier im "Charly's" absagten. "In Österreich darf man kaum seine eigene Meinung vertreten", meint Siebrecht-Janisch: "Dabei denken immer größere Teile der Bevölkerung wie ich."

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.