Shitstorm
Blasenschwäche

Shitstorm: Warum empört die Masse sich so gern?

Warum empört die Masse sich so gern?

Drucken

Schriftgröße

Kennen Sie Götz Schrage? Müssen Sie nicht. Der rote Bezirksrat aus Wien-Neubau hat zwar einen Wikipedia-Eintrag, aber nur wegen eines sexistischen Facebook-Postings, das er gegen die neue ÖVP-Generalsekretärin Elisabeth Köstinger vom Stapel ließ: "Elisabeth Köstinger als neues Gesicht und neue Generalsekretärin einer neuen Bewegung? Aus autobiographischen und stadthistorischen Motiven möchte ich schon anmerken, dass die jungen Damen der ÖVP Innere Stadt aus den frühen 80er Jahren, die mit mir schliefen, weil sie mich wohl für einen talentierten Revolutionär hielten, genauso aussahen, genauso gekleidet waren und genauso sprachen. Da hängt sicher noch ein Burberry Schal im Vorzimmer bei Elisabeth Köstinger. Ich muss das wissen als Experte."

Kennen Sie Daniel Kosak? Müssen Sie nicht. Der Sprecher des Gemeindebundes und ÖVP-Vize-Bürgermeister von Altlengbach ist gar nicht erst auf Wikipedia vertreten. Kosak und Schrage kannten einander bis vergangene Woche ebenfalls nicht. Doch dann entwickelte sich zwischen den beiden eine ganz eigene Dynamik, genannt Shitstorm. Der Ausgangspunkt von digitalen Empörungsgewittern ist mindestens so schwer zu bestimmen wie der Beginn eines echten Unwetters.

Kosak empörte sich auf dem Kurznachrichtendienst Twitter über Schrages Facebook-Posting und traf damit einen Nerv. Die Empörung schwappte in den Boulevard über. "Heute" und "Österreich", die eine besondere Schwäche für Shitstorms aus der Social-Media-Blase haben, räumten ganze Titelseiten für die "Sexismus-Attacke" frei und ließen sogar über Schrages Rücktritt abstimmen.

Die SPÖ beließ es dann doch bei einer Verwarnung. Das Prädikat des bekanntesten SPÖ-Sexisten der jüngeren Parteigeschichte aber pickt. Auch an Kosak ging der Shitstorm nicht spurlos vorüber. Verteidiger von Schrage schickten ihm böse Nachrichten. Aus Angst, sie könnten anhand alter Twitter-Einträge einen Gegen-Shitstorm lostreten, löschte Kosak all seine bisher verfassten 50.000 Tweets. "Man ist Passagier in einer Entwicklung, die man vielleicht angestoßen hat, bei der man aber nicht weiß, wohin der Zug fährt", sagt Kosak.

"Sexismus","Rassismus" oder "Islam"

Warum fährt der Zug der moralischen Entrüstung anscheinend immer schneller und öfter, und warum steigen so viele Passagiere zu? Die Oberflächlichkeit der Berichterstattung in Boulevardmedien ist ein Grund für die neue Dynamik. Storys über Shitstorms mit "Sexismus","Rassismus" oder "Islam" im Titel garantieren Clicks und kommen ohne lästige Recherche aus. Usern geben sie einen speziellen Kick, denn jeder Kommentar könnte abgedruckt und somit selbst zur Story werden. Je mehr User kommentieren, desto stärker gewichtet Facebook die Geschichten. Darunter liegt ein tiefer gehendes, gesellschaftliches Phänomen: die Lust an immer enger gesetzten moralischen Leitplanken.

Shitstorms teilen die Welt in Gut und Böse, Schwarz und Weiß und bringen Ordnung zurück ins Chaos einer zunehmend undurchsichtigen, informationsgefluteten Welt.

Woher weht der Wind? Shitstorms teilen die Welt in Gut und Böse, Schwarz und Weiß und bringen Ordnung zurück ins Chaos einer zunehmend undurchsichtigen, informationsgefluteten Welt. Der Einzelne findet inmitten dieser Meinungskakophonie Halt und Orientierung. Die Masse brauche Gleichheit, Wachstum, Dichte und Richtung, schrieb Elias Canetti in "Masse und Macht". Der Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger war von den Aufmärschen des frühen 20. Jahrhunderts inspiriert. Virtuelle Spontan-Demos im Internet brauchen keine fixen Plätze mehr. Auf Social Media können sich binnen Sekunden wildfremde Menschen zum kleinen Alltagsaufstand für oder gegen etwas zusammenrotten. Meinungsführer weisen den Weg. Jeder kann mitmarschieren und sich den Frühstückskaffee mit dem erhabenen Gefühl garnieren, auf der richtigen Seite zu stehen. "Kein Fußbreit dem Sexismus!"

Politisch könnte man solchen Empörungsgewittern reinigende Kraft zusprechen. Denn beim nächsten Mal überlegen sich Schrage und Konsorten wohl, was sie auf Facebook absondern. Im Unterschied zu Shitstorms gegen Flüchtlinge, Ausländer, Minderheiten haben "gute" Shitstorms immerhin eine bessere Gesellschaft zum Ziel.

Doch sie sind allzu oft persönlich verletzend. Und hier endet schon wieder die positive Kraft der kollektiven Empörung. Zwei Wochen vor Schrage landete der ORF-Journalist Hans Bürger im Gewitter. Dafür reichte ein Satz. Er hatte in einer langen TV-Analyse zum Rücktritt von Eva Glawischnig gemeint, sie müsse im Wahlkampf "auch gegen Männer" bestehen. Seine Erklärung, warum das nicht sexistisch gemeint gewesen sei, ging im Shitstorm unter. Einzelne hervorgehobene Sätze gewinnen im Netz immer gegen Kontext. Auf Twitter beschrieb Bürger, wie sehr es seine Kinder verstöre, dass Papa plötzlich böse sein soll.

Ö3-Moderatorin Elke Lichtenegger erlitt 2014 nach einem Shistorm einen Nervenzusammenbruch. Sie hatte sich in einem Interview für einen kleinen TV-Sender, das ein Jahr davor aufgezeichnet wurde, abschätzig über heimische Musiker geäußert.

Entkoppelt vom persönlichen Hintergrund und Kontext, kann ein Shitstorm die Kraft entwickeln, moralische Straftäter ohne Rücksicht auf Verluste an die Wand zu drücken. Wussten Sie, dass Schrage aktiv in der Flüchtlingshilfe ist und als freier Schriftsteller gern lyrische Grenzgänge auf Facebook unternimmt? Müssen Sie nicht. Es ist nur ein Indiz, dass wir es hier vielleicht doch nicht mit dem roten Mini-Pendant von Donald Trump zu tun haben.

Völlig absurd wird es, wenn der ehemalige Sprecher der Grünen Wirtschaft, Volker Plass, als Teil eines "rot-grünen Sexismus-Kartells" beschimpft wird, nur weil er Schrages Vita verteidigend ins Treffen führt. Braust der Zug Richtung totaler Moral so weiter, müssen dann bald auch Verteidiger und Relativierer von Shitstorm-Zielen um ihren Job zittern? Und werden bald jene als potenzielle Mittäter geächtet, die nicht in die Empörung einstimmen?

Zeit, auf die Bremse zu steigen. Denn die politische Gegenreaktion auf moralische Dauerempörung ist ein Zug, der in die Gegenrichtung fährt: ins moralische Tal. Mit Passagieren, die intellektuell nicht erfassen können, was sie wann, wo, wie noch sagen dürfen; die überzeugt sind, dem herrschenden Moral-Kodex nicht mehr entsprechen zu können; die sich deswegen gegen eine gefühlte "Elite" auflehnen, um sich und ihrer Lebenswelt wieder mehr Luft zu verschaffen. Kurz: Menschen, die Typen wie Donald Trump wählen. Sein Erfolgsrezept besteht darin, Shitstorms am laufenden Band zu produzieren, abseits aller moralischen Leitplanken.

"Mir taugt diese Shitstorm-Mechanik auch nicht. Nach dem ganzen Theater wünsche ich mir, ich hätte das Posting gelassen. Aber jede Herabwürdigung zu ignorieren, ist auch keine Option", sagt Kosak nachdenklich.

Es ist ein schmaler Grat zwischen Ansprechen und Anprangern. Vielleicht hilft es, beim nächsten Ausritt gegen wen auch immer an die Trumps zu denken, um das Augenmaß zu wahren.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.