Warum wir uns vom Gefühl des permanenten Notstands verabschieden sollten
Weißes Hemd, graues Sakko, blaue Krawatte: So stemmt sich der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl gegen die Massen – ein Mensch gewordenes Bollwerk gegen junge, kräftige Männer sonder Zahl. Wie viele nachdrängen, ist auf dem Bild nicht zu erkennen. Man soll sich vielleicht auch gar keine Vorstellung davon machen können.
Mit dieser Fotomontage illustrierte die Online-Ausgabe der „Kronen Zeitung“ kürzlich einen Beitrag zur Mindestsicherung. Darin sprach Niessl sich für Kürzungen aus, für mehr Druck auf Flüchtlinge, Deutsch zu lernen, und für besseren Grenzschutz. Der Themenmix war etwas wild geraten, aber nicht unüblich für viele Debatten des vergangenen Wahlkampfjahres. Elf Monate lang dauert der Versuch nun schon, einen neuen Bundespräsidenten zu küren. In einer Umfrage nannte in der Vorwoche eine Mehrheit der Befragten „Flüchtlinge und Zuwanderung“ als das wichtigste Thema bei der Bundespräsidentschaftswahl.
Es gäbe über Integration viel zu sagen: etwa dass manches überraschend gut klappt, einiges aber im Argen liegt und das vordringlichste Problem wohl nicht darin besteht, dass Einwanderer sich weigern, Deutsch zu lernen. Auch die sozialpolitische Einrichtung Mindestsicherung wäre es wert, aus diversen Blickwinkeln beleuchtet zu werden. Stoff für anspruchsvolle Debatten wäre reichlich vorhanden.
Unsere Sicherheit geht vor, für Wenn und Aber ist nicht die richtige Zeit.
Wir aber haben eine Krise. Unsere Sicherheit geht vor, für Wenn und Aber ist nicht die richtige Zeit. Deutlicher als in der erwähnten Fotomontage kann man es kaum ausdrücken: Wir erleben eine Invasion – und es drohen weitere! Die Frage, ob wir mehr Soldaten brauchen oder vielleicht doch eher mehr Sozialarbeiter und Deutschlehrerinnen, stellt sich nun nicht mehr.
Wirklich? Das „Wenn und Aber“ ist das Salz der Demokratie. Keine Zeit mehr, sich mit den Folgen von Kürzungen zu beschäftigen, keine Zeit, genauer hinzuschauen, woran es bei der Integration krankt, keine Zeit mehr für Verständigung und Ausgleich?
Der moderne, souveräne Staat legitimiert sich durch sein Sicherheitsversprechen. Nach Einschätzung vieler Menschen löst er es schon lange nicht mehr ein. Er schützt sie nicht davor, dass ihre Jobs in Niedriglohnländer abwandern oder die Löhne sinken. Das war schon so, bevor die Flüchtlinge im Vorjahr in Nickelsdorf und Spielberg auftauchten. Doch damit wurde das Unbehagen fassbar. Es gab Verursacher, denen man ins Gesicht schauen konnte, als sie – vorbei an ein paar Ordnungshütern in neongelben Warnwesten, die noch hilflos die Arme ausbreiteten und schließlich zur Seite wichen – über die Grenze liefen. Die Szene gefror zum Symbolbild und beeinflusste in der Folge politische Debatten und Entscheidungen.
Derselbe Staat, der zuvor keine Vorkehrungen für die Flüchtlingskrise getroffen hatte, legte den Schalter auf Notstand um.
In dem vor einigen Monaten auf Deutsch erschienenen Essay „Die Angst vor den anderen“ schrieb der polnische Soziologe Zygmunt Bauman über die „impulsive Angst angesichts von Fremden, die unergründliche Gefahren mit sich bringen“. Sie liege „im Wettstreit mit dem moralischen Impuls, den der Anblick menschlichen Elends auslöst“.
Immer noch ertrinken Tausende im Mittelmeer. Flüchtlinge, die es an eine europäische Küste schaffen, werden monatelang in überfüllen Lagern festgehalten. Das erzeugt Gewissensbisse. Davon aber kann man sich befreien, wenn aus bedauernswerten Menschen amorphe Mächte werden, die es auf „unseren Wohlstand“, „unsere Werte“ und „unsere Frauen“ abgesehen haben.
Alle Spannungen, die mit einer bedeutsamen Einwanderung innerhalb kurzer Zeit einhergehen, verlagern sich fortan in den Bereich der Sicherheit, werden zu einer Angelegenheit der öffentlichen Ordnung und der Abwehr feindlicher Angriffe. Derselbe Staat, der zuvor keine Vorkehrungen für die Flüchtlingskrise getroffen hatte, legte den Schalter auf Notstand um. Das bestimmte Themen wie Türken-Demos, Terroranschläge und Asyl, aber auch Mindestsicherung oder junge Muslime in Wien.
Worüber auf dem politischen Markt der Ideen normalerweise ausführlich gestritten wird, geht nun manchmal fast handstreichartig durch: Obergrenzen für Asylanträge, die erwähnten Kürzungen der Mindestsicherung, Wachesoldaten vor Botschaften. Der Soziologe Bauman spricht von einer „Versicherheitlichung“ der Politik.
Für Sozialarbeiter, Therapeutinnen, Psychologen und Deutschlehrerinnen ist kaum mehr Geld vorhanden.
Nachvollziehbar ist das allemal. Die Bevölkerung sehnt sich nach einer Macht, die für ihre Sicherheit sorgt. Wenn die Regierung es schon nicht schafft, Vollbeschäftigung und den verlorenen Glauben, in allen Lebenslagen weich zu fallen, wiederherzustellen, so kann sie immerhin den Kampf gegen Einwanderung, Terrorismus und durchlässige Grenzen aufnehmen.
Das ist mehr als symbolische Politik. Unter dieser Prämisse fallen Entscheidungen mit weit reichenden Folgen. Das über viele Jahre ausgehungerte Bundesheer darf in den nächsten drei Jahren 1,7 Milliarden Euro in Ausrüstung, Geräte und Infrastruktur investieren. Österreich entsandte einige Dutzend Soldaten nach Ungarn, die ihren Kollegen beim Sichern der Grenze zur Hand gehen. Die Polizei bekommt 440 Millionen Euro mehr Budget und wird personell aufgestockt.
Für Sozialarbeiter, Therapeutinnen, Psychologen und Deutschlehrerinnen ist kaum mehr Geld vorhanden. Es gäbe durchaus Argumente dafür, öffentliche Mittel hier sinnvoll einzusetzen. Paradoxerweise könnte dieser eingeengte sicherheitspolitische Fokus auf mittlere und längere Sicht sogar zum Problem für die Sicherheit werden. Wenn Flüchtlinge nur mehr als Bedrohung wahrgenommen werden, die es abzuwehren gilt, gibt es weniger Menschen, die sich persönlich mit ihnen abgeben, mehr Vorurteile und Entfremdung. All das spielt dem Terrorismus geradewegs in die Hände.
Auch die Pläne der rot-schwarzen Regierung für ein „Sicherheitskabinett“ wurden fügsam abgenickt, samt der ins Paket mit hineingepackten Befugnisse für das Bundesheer. Im Sinne einer noch etwas diffusen neuen „umfassenden inneren Sicherheit“ sollen Soldaten künftig auch im Landesinneren zum Einsatz kommen. Zumindest für die SPÖ war das bisher ein Tabu.
Es wäre aber Zeit, sich allmählich wieder vom permanenten Notstand in unserem Kopf zu verabschieden.
Die von Boulevardmedien befeuerte Alarmstimmung hat mittlerweile weite Teile der Bevölkerung erreicht. Vor zwei Monaten präsentierte das Meinungsforschungsinstitut Ifes die Ergebnisse des jüngsten Sicherheitsmonitorings. Das allgemeine Gefühl, nicht sicher zu sein, hat sich deutlich verstärkt. Der Frieden in Europa erscheint brüchig. Österreich gilt nicht mehr als Insel der Seligen. Der öffentliche Raum macht zunehmend Angst. 61 Prozent der Befragten meinten, das Land sei in den vergangenen fünf Jahren unsicherer geworden. Auch hier: Zuwanderung ist zum zentralen Sicherheitsthema geworden.
Besonders stark betroffen sind die 30- bis 39-Jährigen, die mitten im Berufsleben stehen. Fragt man die Österreicherinnen und Österreicher, wer im Land für Sicherheit sorgt, nennen sie – wenig überraschend – zuerst Rettung und Feuerwehr, gefolgt von der Polizei. Die Bevölkerung aber rangiert gleich dahinter. Das Vertrauen in internationale Institutionen und die EU hingegen schmilzt rapide. Die von Ulrich Beck vor 30 Jahren beschriebene „Risikogesellschaft“ scheint nun endgültig Realität geworden zu sein. Der Einzelne spürt den Druck gesellschaftlicher Probleme, die er nicht beheben kann.
Es spricht nichts dagegen, Grenzen zu kontrollieren, internationale Allianzen zu schmieden, neue Aufgaben für das Bundesheer ins Auge zu fassen, Fehlanreize bei der Mindestsicherung zu beheben. Es wäre aber Zeit, sich allmählich wieder vom permanenten Notstand in unserem Kopf zu verabschieden. Migration wird es weiter geben – so wie Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, Probleme in den Schulen oder Spitälern und vieles andere mehr. Und wenn sich neben dem Innenminister, dem Außenminister und dem Verteidigungsminister noch ein paar Menschen mit anderen Sichtweisen in die Debatten einbringen, besteht die begründete Hoffnung, dass sie besser werden.