Sicherheitspolitik in der Corona-Krise: Die sorglose Republik
"So werden auch im verteidigungspolitischen Risikobild Pandemien als Ereignisse mit zunehmender Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungen von an die 100 Prozent auf die Sicherheit unserer Republik beurteilt. Pandemien können verheerende Folgen auf die Gesellschaft als Ganzes haben. Neben unzähligen Behandlungsbedürftigen und Todesopfern können auch staatliche Dienstleistungen und die Wirtschaft zum Erliegen kommen." Der Kassandraruf stammt von Brigadierin Sylvia-Carolina Sperandio, Leiterin des Militärischen Gesundheitswesens im Verteidigungsministerium (siehe profil 13/2020). Veröffentlicht wurde die Warnung in der "Sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2020". Heute weiß ganz Österreich nur allzu gut: Die "Eintrittswahrscheinlichkeit" der Pandemie betrug nicht "an die", sondern exakt 100 Prozent.
Sperandios Beitrag liefert den Nachweis dafür, dass man hierzulande nicht nur hinterher, sondern schon in der Vorschau gescheiter sein kann. Aber keine noch so stringente Analyse wird helfen, wenn daraus keine Handlung folgt. Österreich im globalisierten 21. Jahrhundert ist keine Insel der Seligen mehr, aber immer noch eine Republik der Sorglosen, in der etwas passieren muss, bevor etwas passiert. Schuld daran tragen Politik und Bevölkerung gleichermaßen.
Die sorglose Mentalität des Landes zeigt sich exemplarisch in der jetzigen Corona-Krise. Ein umfassender aktueller Pandemie-Plan existiert schlicht nicht. Das Krisenmanagement basiert auf entschlossener Improvisation. Die Regierung schliff das Land per Vollbremsung ein und versucht nun, es wieder auf Spur zu bringen. Die vorgegebenen Strukturen, etwa im staatlichen Krisen-und Katastrophenschutzmanagement, das die Bundesbehörden untereinander und die Zusammenarbeit mit den Ländern koordiniert, erwies sich als halbwegs tauglich.
Detailanalysen im Umgang mit der Pandemie zeigen aber eklatante Schwächen, vor allem bei der Bevorratung. Bis heute, vier Wochen nach dem Lockdown, ist noch immer nicht genug Schutz-Equipment (Anzüge, Brillen, Masken) für Ärzte und Pfleger in den Krankenhäusern vorhanden. Welches Personal etwa in den Notquartieren wie in der Wiener Messehalle eingesetzt würde, war lange Zeit unklar. Zuletzt versagte auch die so wichtige Krisenkommunikation, als der berüchtigte Ostererlass des Gesundheitsministeriums das halbe Land verwirrte.
Notwendigkeit eines Pandemieplans
Dass sich Bund und Stadt Wien wochenlang nicht über die Öffnung der Bundesgärten einigen konnten, beweist die Notwendigkeit eines Pandemieplans, der derartige Details im Vorhinein regelt. Auch Kontrolle und Einstellung des Zugverkehrs zwischen Italien und Österreich zu Beginn der Krise folgten keiner festgelegten Strategie, sondern Ad-hoc-Einschätzungen. Brigadierin Sylvia-Carolina Sperandio fasst die Ist-Situation in der "Sicherheitspolitischen Jahresvorschau" nüchtern zusammen: "Stetige Evaluierung, Aktualisierung der Pandemiepläne und regelmäßige Übungen des Zusammenwirkens aller Beteiligten dürfen in Österreich nicht länger verabsäumt werden."
Zivile Forscher sitzen mitunter gern im Elfenbeinturm, die Experten des Bundesheeres und im Verteidigungsministerium sind seine unfreiwilligen Bewohner. Auf ihr Wissen greift maximal der eigene Ressortchef zurück. Nur bei Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats wird der Generalstabschef auch von Kanzler und anderen Fachministern gehört. Aktuell werden in den Diensten und Denkfabriken des Verteidigungsministeriums bereits neue Bedrohungsszenarien in Zusammenhang mit der Corona-Krise entworfen. Denn während die staatlichen Stellen noch mit dem inländischen Krisenmanagement ausgelastet sind, bahnen sich weiter entfernt neue Probleme an.
In Griechenland wurden bereits zwei Flüchtlingslager auf dem Festland wegen Corona-Infektionen abgeriegelt. Kommt es zum Ausbruch der Seuche in einem der überfüllten Lager auf den Inseln, drohen Unruhen. In den Lagern an der türkischgriechischen Grenze kam es ebenfalls zu Infektionen. Bricht die Corona-Pandemie auch flächendeckend in Afrika aus, wird die Seuche -neben Krieg, Armut und Klimawandel -zu einem weiteren Trigger für mögliche Massenmigrationen Richtung Europa.
Schon die Flüchtlingsströme des Jahres 2015 wurden im BMLV präzise vorhergesagt. So heißt es in einer Analyse der Landesverteidigungsakademie aus dem Jahr 2011: "Durch die verstärkte Migration aus Krisengebieten und wirtschaftlich benachteiligten Regionen Afrikas und Asiens ist bereits heute absehbar, dass sich bis weit nach dem Jahr 2015 höchste Belastungen für die Grenzsicherheit ergeben werden. Derzeit kommt es wie in den vergangenen zehn Jahren insbesondere an den südlichen Außengrenzen der EU wiederholt zu Massenanstürmen Zehntausender einwanderungswilliger Migranten aus Afrika, Afghanistan und dem Irak."
Neben der Pandemie sehen die heimischen Militärs den internationalen Terror, Cyber-Angriffe und ein sogenanntes Blackout (den Zusammenbruch des Stromnetzes und in der Folge sämtlicher Versorgungs- und Kommunikationsketten) als größte und plausibelste Bedrohungen. Allerdings sei "die österreichische Gesellschaft so gut wie nicht" auf ein Blackout vorbereitet, wie es in Analysen des Bundesheeres heißt.
Ob die Warnungen außerhalb militärischer Kreise wirklich ernstgenommen werden, ist ungewiss. In einem gemeinsamen Beitrag für die "Sicherheitspolitische Vorschau 2020" kritisieren die Offiziere Johann Frank und Gustav Gustenau "mangelndes Verständnis der Komplexität und Volatilität sicherheitspolitischer Zusammenhänge sowie kaum ausgeprägtes strategisches Denken und Handeln" als Hauptmankos der österreichischen Sicherheitspolitik.
Politiker denken in Legislaturperioden, Militärs auch in Jahrzehnten. Geringe Eintrittswahrscheinlichkeiten sind trügerisch. Die Lawine in Galtür 1999 (38 Tote) war ein Jahrhundertereignis, das große Hochwasser von 2002 ebenso. Auf beide Katastrophen war die Republik nur mangelhaft vorbereitet. Auch das Militär konnte nur bedingt helfen. Die notwendigen Transporthubschrauber erhielt das Bundesheer erst nach der Lawinenkatastrophe. US-Army und deutsche Bundeswehr mussten die Opfer aus dem Paznaun ausfliegen. Beim Hochwasser 2002 und 2009 waren Tausende Soldaten im Einsatz. Eine derartige Mannstärke wäre angesichts der beschränkten Mittel heute nicht mehr möglich.
Das mangelnde Interesse der Politik für Sicherheitsfragen (abseits von Kriminalitätsstatistiken) entspricht der Sorglosigkeit in der Bevölkerung. In der öffentlichen Diskussion spielen sicherheitspolitische Fragen keine Rolle, auch in Wahlkämpfen sind sie irrelevant. Vertreter der Armutskonferenz treten regelmäßig im TV auf, Teilnehmer an Sicherheitskonferenzen so gut wie nie. Das Heer und seine Soldaten werden durchaus geschätzt, freilich vor allem als schwere Feuerwehr im Assistenzeinsatz. Der Schutz des Luftraums und die militärische Verteidigung der Landesgrenzen werden mangels real empfundener Bedrohungen nicht ernstgenommen - bis auf einmal wieder ein Jahrhundertrisiko schlagend wird. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einem "Sicherheitsparadoxon". Je sicherer ein System erscheint, desto anfälliger ist es, da niemand Vorsorge für größere Störungen trifft. Und Kassandrarufe werden ignoriert.
In einem Beitrag zur sicherheitspolitischen Vorschau schreibt der Politikwissenschafter Peter Filzmaier: "Expertise macht nur Sinn, wenn sie gehört wird. Experten haben zweifellos eine Bringschuld, ihre Kenntnisse zu teilen. Die Bereitschaft, ihnen zuzuhören, ist aber eine Holschuld der Politiker."
Offiziere kritisieren "mangelndes Verständnis der Komplexität sicherheitspolitischer Zusammenhänge sowie kaum ausgeprägtes strategisches Denken" in der Politik.