Die Geschichte der Grünen ist auch eine der Frauen. Parteigründerin und erste Bundessprecherin war Freda Meissner-Blau, die im Jahr 1986 mit sieben männlichen Kollegen in den Nationalrat einzog. 1994 wurde Madeleine Petrovic Bundessprecherin. Von 2008 bis 2017 führte Eva Glawischnig Partei und Parlamentsklub.
Für die Wahl 2013 holt Glawischnig Sigrid Maurer, 28 Jahre alt, auf die Liste. Wie heute Schilling hat auch Maurer einen Prominenz-Bonus. Als Vorsitzende der GRAS (Grüne und Alternative Student_innen) und der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) führte sie die Studentenproteste des Jahres 2010 an. Unter dem Motto „Uni brennt“ demonstrierten die Studierenden gegen Einschränkungen beim Hochschulzugang. Und ihre ÖH-Vorsitzende trat eloquent im Fernsehen auf. Ein Hauch von Revolution lag über Österreich, landestypisch gemildert durch enge Bekanntschaften. Der damalige Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle (ÖVP) stammte wie die ÖH-Vorsitzende aus demselben Tiroler Dorf: Telfes im Stubaital mit seinen 1500 Einwohnern.
Dort wuchs Maurer als Tochter zweier Lehrer auf, nicht im Wohlstand, nicht in Armut. In der Volksschule spürte sie erstmals, was sie heute ihr „Ungerechtigkeitsempfinden“ nennt. Eine Freundin hatte das schönere Schulheft, war emsiger – und bekam doch nur dieselben Noten wie sie, das Lehrerkind. Nach der Pflichtschule besuchte sie die HBLA in Innsbruck. Damals nannte man es noch „Knödelakademie“. Bei den Praktika durfte Maurers Ungerechtigkeitsempfinden weiter geschärft worden sein. Im Weißen Rössl am Wolfgangsee verbrannte sie sich die Finger an den Tellern, weil ein Kollege sie absichtlich erhitzt hatte. Einmal steckte ihr ein Koch ein Ei am Rücken unter die Uniform und schlug es entzwei.
„Jazzsigi“
Nach der Matura studierte Maurer Musikwissenschaften und Politologie an der Uni Innsbruck, sang als „Jazzsigi“ in einer Uni-Band, engagierte sich für die GRAS in der Studentenvertretung und hatte einen Sitz im Senat der Universität. Wenn sie das Wort ergriff, führten die Magnifizenzen Gespräche. Sie nahmen sie nicht ernst, halfen ihr aber nach den Sitzungen galant in den Mantel. „Damals beschloss ich: Nein, von euch lasse ich mich nicht unterkriegen“, sagte Maurer in einem profil-Interview 2020. Ihr Studium beendete sie nicht, sondern wechselte 2011 nach Wien, um dort Soziologie zu inskribieren. Ihre Bachelor-Arbeit verfasste sie über Adorno.
Als Maurer 2013 in den Nationalrat einzieht, wird sie – passend für eine ehemalige ÖH-Vorsitzende – Wissenschaftssprecherin der Grünen. Ihrer Prägung entsprechen allerdings mehr Sozialpolitik und Gleichberechtigung. Maurer hört es gern, wenn man sie als „linke Feministin“ bezeichnet.
An ihrem Feministen-Status hat sich nichts geändert, ganz so links wie in ihrer Anfangszeit im Parlament ist sie heute nicht mehr. „Mein politisches Ziel ist es, dass alle Menschen eine Chance auf ein gelingendes Leben haben“, sagt sie. Klassenkämpferische Töne sind nicht zu hören.
Karriere-Jojo
2017 ist Maurers politische Karriere schon wieder zu Ende. Die Grünen fliegen nach dem Rücktritt ihrer Parteichefin Glawischnig, internen Querelen und einem missglückten Wahlkampf aus dem Parlament. Maurer schließt ihr Soziologiestudium ab und heuert beim Institut für Höhere Studien an. Dann kommt der 17. Mai 2019. Maurer sieht das Ibiza-Video mit dem betrunkenen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, muss nur kurz abwägen, bevor sie beschließt, wieder in die Politik einzusteigen. Sie kandidiert auf Platz 3 der Wiener Landesliste.
Schon kurz nach der Wahl ahnen Parteichef Werner Kogler und Maurer, dass es auf eine schwarz-grüne Koalition hinauslaufen wird. Am 7. Jänner 2020 wird die neue Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Kogler angelobt. Maurer, einzige grüne Abgeordnete mit Nationalratserfahrung, wird Klubobfrau. Sie ist für 25 weitere Abgeordnete, sechs Bundesräte, drei EU-Abgeordnete und etwa 100 Mitarbeiter verantwortlich. Umgelegt auf die Wirtschaft managt sie ein mittleres Unternehmen.
Es ist zu Beginn ein unmöglicher Job: Die Grünen sind links-ökologischer Juniorpartner in einer Koalition mit einer rechtskonservativen, fast dreimal so starken Partei. Teile der eigenen Partei lehnen das Bündnis ab. Maurer ist in einer Schanierfunktion: zwischen der Regierung und dem Parlament; zwischen der ÖVP-Parlamentsfraktion und der eigenen; zwischen Parteibasis und Klub. Mit ihrem ÖVP-Vis-à-vis August Wöginger – sie nennt ihn den „Guscht“ – sichert sie die parlamentarische Umsetzung des Regierungsprogramms, das allerdings sieben Wochen nach der Angelobung wieder Makulatur ist. In Innsbruck werden die ersten Coronafälle gemeldet. Die folgenden zwei Jahre läuft die Koalition im Pandemie-Modus.
Und wenn nicht das Virus das Regieren erschwert, ist es die Volkspartei. Ausgehend von der Ibiza-Affäre ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ÖVP-Politiker wegen Korruptionsverdacht. Sigrid Maurer ist es, die scharfe öffentliche Kritik am Koalitionspartner übt – gleichzeitig aber ihre Abgeordneten dazu vergattert, gegen die Misstrauensanträge der Opposition gegen ÖVP-Regierungsmitglieder zu stimmen.
Im Oktober 2021 eskaliert die Lage. Nach einer Hausdurchsuchung im Bundeskanzleramt wegen des Verdachts der Inseratenkorruption steht die Koalition vor dem Aus. Kogler und Maurer fordern den Rücktritt von Sebastian Kurz und drohen mit dem Absprung. Es ist abermals Maurer, die den Ton verschärft. Die ÖVP möge für das Kanzleramt „eine untadelige Person“ nominieren. Bis heute haben ihr viele in der Volkspartei das nicht verziehen.
Den Planeten retten
Vergangenen Dienstag sitzt Maurer in ihrem Büro in der Wiener Löwelstraße hinter dem Burgtheater. Der Blick fällt über die Ringstraße direkt auf das prächtige Parlamentsgebäude. Über Sebastian Kurz sagt sie nun, dass sie mit ihm gut zusammengearbeitet habe, so wie mit allen in der Volkspartei. Darin liegt aus ihrer Sicht politische Kunst: „Mein Job ist es, mit einem politischen Partner, von dem ich mich inhaltlich in manchen Bereichen fast zu 100 Prozent unterscheide, konstruktiv zusammenzuarbeiten.“
Spricht man mit Maurer über die Koalition, ist viel von „Professionalität“ zu hören. Das übergeordnete Ziel der Grünen war es, ein für alle Mal die eigene Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, das unmittelbare, „den Planeten zu retten“. So formuliert es Maurer tatsächlich, und natürlich erschwert dieser Anspruch das Regieren mit einer Volkspartei, die nicht die Erde, sondern das Gewerbe, die Bauernschaft und den Verbrennungsmotor schützen will.
Maurer behauptet von sich, Verständnis für andere Positionen aufbringen zu können. Das mag auch so sein, aber gleichzeitig halten viele Grüne die eigenen Themen für die wichtigeren. Und wer das nicht kapiert, gilt nicht nur als „Betonierer“, sondern auch als intellektuell beschränkt. Weltverbesserung und Besserwisserei gehören zusammen.
Die österreichische Welt ist aus Maurers Sicht nach viereinhalb Jahren grüner Regierungsbeteiligung eine bessere: „Wir haben in der Koalition einen Pflock nach dem anderen eingeschlagen.“ Maurer kann die Pflöcke benennen: Valorisierung der Sozialleistungen, Klimaticket, Energiewende, Armutsbekämpfung, ökologische Steuerreform, Pflegepakete, Transparenzregelungen. Sie ist eine Politikerin mit Möglichkeitssinn. Für unerreichbare Ziele vergeudet sie keine Energie. Umso energischer kämpft sie für erreichbare. Das politische Handwerk von Abtausch, Kompromissen und Blockade beherrscht sie perfekt. Als grüne Machiavellistin bezeichnete sie der Präsident des ÖVP-Wirtschaftsbunds Harald Mahrer.
„Witzig“ und „lieb“
Wahrscheinlich ist es ihre Forschheit, die Maurer so viel Widerspruch verschafft. Als „Streitbare“ bezeichnete sie die „Kronen Zeitung“, als eine, deren „Spezialgebiet der Konflikt“ sei. Sie selbst sagt im Interview mit dem „Fleisch“-Magazin, sie sei „witzig“, „lieb“ und führe so auch ihre Fraktion. Manche Grünabgeordnete orten eher Club Control.
Maurer sagt gegenüber profil: „Wir haben hier einen Job zu erledigen.“ Da kann es schon mal vorkommen, dass sie einen Abgeordneten in ihr Büro zitiert und ihm klarmacht, dass diese oder jene Äußerung eher nicht nützlich gewesen sei. Viel Erbarmen kennt sie dann nicht. Wer etwa vor der Bekanntgabe der Kandidatur von Lena Schilling Skepsis äußerte, musste mit einem Rüffel rechnen. Nach dem Desaster um die „Standard“-Artikel und das Krisenmanagement fühlt sich so mancher bestätigt. Maurer will nur grüne Geschlossenheit sehen.
„Führungsarbeit muss man lernen“, sagt sie. Bisweilen trifft Maurers Zorn auch fremde Abgeordnete, über die sie sich gern bei den anderen Klubobleuten beschwert. Sie selbst mag sich als „lieb“ einschätzen, Abgeordnete anderer Fraktionen empfinden sie als „rauflustig“ bis „streitsüchtig“. Man könnte auch sagen: Sie will Boss sein und verhält sich auch so. Politik ist nichts für Softies.
Die Gleichberechtigung hat Fortschritte gemacht, aber kann es sein, dass sie gerade weibliches Verhalten nicht erfasst? Maurer hat dafür einen Beleg. Unlängst hörte sie auf Ö1 einen Bericht über eine Untersuchung aus Deutschland zum Verhalten von Politikern. Das Ergebnis: Von weiblichen Politikern wird erwartet, konsensual und einfühlsam zu sein. Tritt eine Politikerin hart und machtbewusst, wird ihr das negativ ausgelegt. Verhält sich ein männlicher Politiker empathisch und nachgiebig, bringt ihm dies dagegen eine positive Beurteilung ein.
Grüne Herbstkandidaten
Im Juni wählen die Grünen ihre Bundesliste für die Nationalratswahl am 29. September. Maurer wird wohl auf einem vorderen Platz kandidieren. Ein Mandat ist ihr dann sicher. Ihr Jobwunsch bleibt der gleiche: Klubobfrau.
Dass die Grünen wieder Regierungspartei werden, ist anzuzweifeln. Viele in der ÖVP wollen deren Klimaschutz-Kurs nicht mehr ertragen. Immer mehr Schwarze streben wieder eine Koalition mit der SPÖ an – und hoffen, diese werde im Parlament eine Mehrheit haben.
Grüner Spitzenkandidat wird Werner Kogler. Doch dessen Zeit als Parteichef läuft ab. Ein Nachfolger wäre der oberösterreichische Grünen-Vorsitzende Stefan Kaineder. Nach einem Mann sollte nach grüner Logik besser eine Frau Chefin sein. Klimaministerin Leonore Gewessler wird als Favoritin gehandelt, aber natürlich ist auch Maurer Anwärterin, will davon aber nichts wissen. Kogler sei der perfekte Bundessprecher. Intern nennen sie ihn den „Stabilo Boss“.
Sollte sich die Frage irgendwann doch stellen, könnte sich Maurer an die eigene Devise erinnern: „Scheiß drauf. Mach’s.“