Mehrere Kandidaten zur Wien-Wahl haben Probleme mit der Justiz: Mahrer, Nepp, Strache, Nevrivy
Ermittlungen

Skandal egal? In Wien stehen viele Beschuldigte zur Wahl

Drei von sieben Wiener Spitzenkandidaten und ein Bezirkschef werden von der Justiz als Beschuldigte oder Angeklagte geführt. Der Wahlkampf läuft trotzdem weiter, als wäre nichts passiert. Haben die Parteien ein Compliance-Problem?

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Was macht eigentlich der Ethikrat der ÖVP den ganzen Tag? Gibt es ihn noch? „Ja, der VP Ethikrat ist selbstverständlich aktiv und beobachtet die Entwicklungen aufmerksam“, antwortet die frühere steirische Landeshauptfrau Waltraud Klasnic, die dem Rat seit seiner Gründung im Jahr 2012 vorsitzt, per Mail.

Der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer, der im Februar von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in der Causa um die insolvente Immobiliengesellschaft Wienwert angeklagt wurde, wäre von der Papierform her ein interessanter Fall für den Ethikrat.

Denn das PR-Unternehmen von Mahrers Frau bekam von der Wienwert 84.000 Euro überwiesen, laut WKStA „ohne entsprechend werthaltige Gegenleistungen”. In den Honorarnoten ist von der Erstellung eines Werbelogos die Rede. Der Verdacht: Politische Kontaktpflege. Karl Mahrer war damals Vizepräsident der Wiener Polizei, später ging er in die Politik. Die Mahrers sind von ihrer Unschuld überzeugt und beteuern, dass sehr wohl eine Leistung erbracht wurde.

Der Verhaltenskodex der ÖVP, über dessen Einhaltung der Ethikrat wacht, schreibt vor, dass Amtsträger keine Vorteile annehmen dürfen, „die ihre Unabhängigkeit und Integrität beeinflussen oder dahingehend aufgefasst werden können“.

Ob Mahrer dagegen verstoßen hat, könnte der Ethikrat in einer Untersuchung klären. Allein, das Gremium fühlt sich – noch – nicht zuständig: „Solange keine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung getroffen ist, besteht aus der Sicht des Ethikrates aktuell kein Handlungsbedarf“, schreibt Klasnic.

Auch bei FPÖ und Team HC kandidieren Beschuldigte

Damit sind Mahrer und die ÖVP in bester Gesellschaft. Er ist einer von drei Spitzenkandidaten zur Wien-Wahl, die im Visier der Justiz stehen. Auch gegen Wiens FPÖ-Chef Dominik Nepp und seinen Vorgänger Heinz-Christian Strache, nunmehr bei der Namensliste Team HC Strache aktiv, laufen Ermittlungen in der blauen Spesenaffäre. Für beide gilt die Unschuldsvermutung. Das Verfahren zieht sich bereits seit der Wien-Wahl 2020.

In mehreren Parteien gilt das Prinzip: Skandal? Egal! Ob Ermittlungen oder gar Anklagen: Funktionäre machen weiter, als wäre nichts gewesen, ihre Fraktionen schließen die Reihen. Ist das angesichts der zahlreichen Verfahren gegen Politikerinnen und Politiker und einer Änderung der Strafprozessordnung verständlich – oder haben die Parteien ein Compliance-Problem?

Nicht alles, was gerade noch legal ist, muss für Politiker legitim sein.

Martin Kreutner

Antikorruptionsexperte

„Man kann keine klare Trennlinie mit dem Skalpell ziehen, bis zu welcher Grenze noch kein Rücktritt zu erfolgen hat und ab welcher schon. Das macht es komplizierter, soll aber nicht als Ausrede dienen, um sich jeglicher Diskussion zu entziehen. Es bleibt jedenfalls eine obligatorische Einzelfallbeurteilung“, sagt Antikorruptionsexperte Martin Kreutner.

Eine reflektierte Rücktrittskultur habe sich in Österreich nie etabliert, bemängelt Kreutner: „Nicht alles, was gerade noch legal ist, muss für Politiker legitim sein.“

Die juristische Grenze ist klar: Bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu mehr als einem halben Jahr Haft oder bei einer bedingten Freiheitsstrafe von mehr als zwölf Monaten droht der Verlust des Mandats. Für Politikerinnen und Politiker mit Vorbildfunktion gelte ein höherer Maßstab als das Strafrecht: „Ich glaube nicht, dass in einer Partei jemand, bei dem es etwa eine Anklage wegen Pädophilie gibt, Jugendreferent bleiben könnte. Umgekehrt wird man Politikern schon zubilligen müssen, dass sie eine Anzeige wegen übler Nachrede haben. Das ist zwar nicht wünschenswert, kann aber im politischen Kontext relativ schnell passieren.“

Roter Compliance-Officer

Neben Mahrer wird der Donaustädter SPÖ-Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy bald auf der Anklagebank Platz nehmen müssen. Ihm wird vorgeworfen, Insiderinformationen über Bauvorhaben der Stadt an die Wienwert-Manager durchgestochen zu haben – sodass diese einen Wettbewerbsvorteil beim Kauf von Grundstücken hatten, die später im Wert stiegen. Als Gegenleistung soll Nevrivy VIP-Tickets für Fußballspiele erhalten haben. Nevrivys Anwalt dementiert, die Anklage weise kein strafrechtlich relevantes Substrat auf. Für den Bezirkschef und die Mahrers gilt die Unschuldsvermutung.

Die SPÖ hält dem Bezirkschef die Treue – obwohl er schon zum zweiten Mal für Negativschlagzeilen sorgt. Der Donaustädter war bereits einer der Hauptdarsteller in der Kleingartenaffäre Ende 2023. Die Wiener Landespartei kündigte damals an, binnen zwei Jahren einen „Compliance Officer“ einzusetzen und Richtlinien für Funktionäre zu erarbeiten. Seit Oktober 2024 sind die Richtlinien laut SPÖ Wien durch einen Beschluss des Erweiterten Vorstandes in Kraft, die Inhalte werden den Funktionären in Schulungen vermittelt, erklärt die Landespartei auf profil-Anfrage. Ein „Compliance Officer“ sei ebenfalls eingesetzt worden, auf wen die Wahl fiel, will die Partei allerdings nicht bekanntgeben. Nur soviel: Es handle sich um eine Person, die neben der Rechtsanwaltsprüfung auch Compliance-Schulungen absoluviert habe, aber keine Person des öffentlichen Lebens sei.

Die Freiheitlichen haben sich infolge der Ibiza-Affäre zwar Compliance-Regeln zugelegt, in ihrem Parteistatut heißen sie „Kontrollmaßnahmen“. Ermittlungsverfahren gegen Parteifunktionäre wie Nepp sind davon aber nicht umfasst. Das „interne Kontrollsystem“ zielt etwa darauf ab, dass Mitglieder des Parteipräsidiums Einblick in die Spesenabrechnung von Parteichef Herbert Kickl und seinen Generalsekretären nehmen können – das soll missbräuchliche Spesenabrechnungen verhindern wie sie Ex-FPÖ-Chef Strache vorgeworfen werden.

Beschuldigte feiern Wahlsiege

Trotz der drohenden juristischen Probleme können die Parteien relativ entspannt auf den Wahltag warten: Die Wählerinnen und Wähler scheinen sich von derlei Ermittlungen nicht mehr abzuschrecken zu lassen. In der Steiermark wurde mit Mario Kunasek im Vorjahr ein Mann auf Platz eins gewählt, gegen den ein Verfahren läuft. In Vösendorf siegte der inzwischen zurückgetretene Bürgermeister Hannes Koza nach juristischen Malversationen haushoch. Und der Bludenzer Bürgermeister Simon Tschann konnte sein Amt bei der Wahl im März trotz einem erstinstanzlichen Urteil wegen Amtsmissbrauch verteidigen.

Kreutner sieht eine gewisse „Abgestumpftheit“ beim Publikum. Das Diktum „sind eh alle gleich“ sei gefährlich, könne zu Politikfrust beitragen und Populismus befördern: „Das heißt, dass man nicht mehr differenzieren muss – gefährlich!“

Differenzierung – das klingt leichter als es ist.

Würde ich mich ohne mein Wissen von heute nochmal zurückbeamen, würde ich wieder zurücktreten.

Christoph Chorherr

Der Ex-Grüne wurde angeklagt und freigesprochen

Nachfrage bei einem Betroffenen: Der langjährige Planungssprecher der Wiener Grünen, Christoph Chorherr, wurde im Zusammenhang mit Bauprojekten der Korruption verdächtigt. Spendengelder aus der Bauwirtschaft für seinen Sozialverein, der eine Schule in Südafrika finanzierte, waren der Ausgangspunkt für die Ermittlungen. Die Spendenannahme wurde auch parteiintern kritisiert. Der Prozess endete zwar mit einem Freispruch. Die Ermittlungen waren für Chorherr aber ein Mitgrund, die Politik im Jahr 2019 zu verlassen – und zwischenzeitlich sogar aus der grünen Partei auszutreten. 

„Würde ich mich ohne mein Wissen von heute nochmal zurückbeamen, würde ich es wieder so machen und zurücktreten. Weil ich damals nicht wissen konnte, wie das ausgeht“, sagt Chorherr im Gespräch mit profil.

„Ich glaube nicht an Verschwörungen. Wenn ich dem Justizsystem grundsätzlich vertraue, und das tue ich, wissend, dass auch dort Fehler passieren können, dann muss ich aus einer Anklage die Konsequenzen ziehen“. Nebenbemerkung: Die grüne Basis sei strenger als andere, er habe sich nicht als korrupt beschimpfen lassen wollen.

Wo würde Chorherr die Grenze ziehen? Der Grüne schickt voraus, dass er nicht anderen seine „Individualmoral oktroyieren“ möchte, allerdings: „Würde Leonore Gewessler ein Strafverfahren kriegen, es käme zur Anklage und sie würde mich fragen, was sie tun soll, dann würde ich sagen: Lass es mit der Politik lieber sein.“

Noch mehr Beschuldigte und noch mehr Einstellungen

Aus den zahlreichen Verfahren gegen Spitzen der Politik lässt sich auch ein positiver Befund ableiten: Ein Beißhemmung gegenüber Mächtigen dürfte es innerhalb der Justiz kaum noch geben. Eine Tatsache, die manchen Parteien nicht zu gefallen scheint. Zuletzt forderten vor allem FPÖ und ÖVP vehement die Stärkung von Beschuldigtenrechten. Zumindest ein Teil der Forderungen hat sich in der Reform der Strafprozessordnung – umgesetzt um den Jahreswechsel – niedergeschlagen.

Früher konnten Staatsanwaltschaften weitreichende Vorermittlungen zur Prüfung eines Anfangsverdachts durchführen, diese Möglichkeiten wurden stark eingeschränkt. Der Hintergedanke: Beschuldigte sollten frühzeitig über Ermittlungen informiert werden, der Rechtsschutz gestärkt werden.

Die Begleiterscheinung erläutert Elena Haslinger, die Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung so: „Wenn schneller Ermittlungen eingeleitet werden, heißt das, dass viel mehr Personen als formell Beschuldigte gelten, die früher nur als Angezeigte gegolten haben. Es heißt auch, dass mehr Verfahren eingestellt werden.“

Das macht die politisch-ethische Grenzziehung nicht unbedingt einfacher.

Hinweis

In einer früheren Version des Artikels war zu lesen, die SPÖ Wien hätte ihre Compliance-Richtlinien noch nicht umgesetzt. Tatsächlich sind die Richtlinien im Oktober 2024 nicht medienöffentlich beschlossen worden, wie die Landespartei nach Veröffentlichung des Artikels mitteilte.

Jakob Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef und seit 2025 Mitglied der Chefredaktion bei profil. Gründete und leitet den Faktencheck faktiv.