Krieg und Frieden
Von Natalia Anders und Clara Peterlik
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„Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nicht von dort“, sagt Fadi. Er heißt in Wirklichkeit anders, ist unter 30 und sitzt in einem kleinen Café zwischen Gemeindebauten in Wien-Brigittenau. Am Nachbartisch hört ein Mann eine Rede der deutschen rechtsradikalen Partei AfD in voller Lautstärke, Fadi erzählt derweil über seinen Familienclan. Fadi ist in Deir Ezzor in Ostsyrien aufgewachsen, seine Familie gehört zur Gruppe Al-Aqidat, bekannt unter der Nummer 505 – diese Chiffre war in den vergangenen Wochen immer wieder in den Schlagzeilen, weil syrische Jugendliche unter diesem Code Bandenkriege anzettelten. Fadi kann sich mit dem Al-Aqidat-Clan jedoch nicht identifizieren: „Sie machen nur Probleme, ich will damit nichts mehr zu tun haben.“
Viele Menschen aus den tschetschenischen und syrischen Communities sind sauer. Sie wollen nicht als „die Problemmacher“ dastehen. Die tschetschenische Diaspora hat damit schon Erfahrung. Vor acht Jahren, als monatelang Schlägereien zwischen Tschetschenen und Afghanen tobten, schlichteten Ältestenräte den Konflikt. Eine sehr patriarchale Konfliktlösung, aber es hat funktioniert.
In den vergangenen Wochen gerieten Jugendliche mit syrischen und tschetschenischen Wurzeln innerhalb von 48 Stunden drei Mal massiv aneinander, danach folgten Scharmützel. In der syrischen Community stellt sich die Frage: Wer kann hier vermitteln? Die syrische Gruppe ist sozial durchmischt. Akademiker aus Großstädten, die jetzt schon bald zehn Jahre hier sind, Jugendliche mit vom Krieg gebeutelten Lebensläufen, die erst später kamen, und konservativere Großfamilien vom Land. Wessen Autorität erkennen die Jungen an?
Ruf Schaikhi an
Das ist eine Geschichte, in der vor allem Männer vorkommen. Männer, die streiten, und Männer, die schlichten. In der Denisgasse im 20. Wiener Gemeindebezirk laufen die Drähte zusammen, hier ist das Vereinslokal des Rats der Tschetschenen. Passend dazu hängt eine Fototapete, sie zeigt einen Verteidigungsturm mitten in bergiger Landschaft hinter dem 67 Jahre alten Schaikhi Musaitov an der Wand. Musaitov ist Vorsitzender des Rats der Tschetschenen. Eine kleine Turmstatue steht vor ihm, daneben auch eine aus Glas. Die Symbolik ist klar, der tschetschenische Widerstand ist ungebrochen – die Statue wirkt fast phallisch.
Hier bei Schaikhi Musaitov kamen vor Kurzem tschetschenische und syrische Vermittler zusammen. Ein Segensspruch an der Wand zeugt noch von den Verständigungsversuchen. Auch die „Capos“ von der Bande 505 hätten sich bei ihm gemeldet, erzählt er. Er habe sie an die Syrer, die er kannte, weitervermittelt, erzählt der ältere Mann mit grau-weißem Bart und einer traditionellen Häkelmütze.
Musaitov spricht mit allen, auch mit Polizisten und Behörden. Der sogenannte Rat der Tschetschenen hat sich etabliert. „Manchmal rufen bei uns Schulen an, wenn es Probleme gibt“, erzählt Musaitov. Die Jungen hören auf Ältere, sie hätten Respekt. Die Community habe sich aber in den letzten Jahren auch verändert. „Das Gute ist, es arbeiten viel mehr von uns. Das merke ich, weil sie haben weniger Zeit, mir zu helfen. Wer beschäftigt ist, dem bleibt für Schlechtes weniger Zeit.“ Bei ihrem Verhandlungspartner ist es anders: „Die Syrer suchen gerade jemanden, der für sie sprechen kann.“
„Die Syrer suchen gerade jemanden, der für sie sprechen kann“, sagt Schaikhi Musaitov vom Rat der Tschetschenen.
„Ich kannte diesen Teil von Syrien nicht“
Drei syrische Vertreter trafen vor ein paar Tagen bei Musaitov ein. Einer davon, er will anonym bleiben, erzählt von den Versuchen: „Wir treffen uns morgen unter Syrern.“ Noch kennen sie einander kaum und kommen aus verschiedenen Welten.
Er ist nicht der einzige Syrer, der das sagt. profil trifft Marie-Therese Kiriaky im Café Orient im 9. Bezirk. Sie ist in Damaskus geboren, lebt seit über 30 Jahren in Wien und gründete den Verein für österreichische arabische Frauen. „Dass sich junge Menschen auf Stämme berufen, das habe ich erst in Österreich erfahren. Ich kannte diesen Teil von Syrien nicht“, erzählt sie.
Wie viele in der Diaspora spricht Kiriaky von zwei Gruppen. „Die Menschen, die 2015 aus Syrien kamen, haben innerhalb von drei Jahren ihren Platz gefunden, unterstützt von Syrern, die schon lange hier leben.“ Doch mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ab 2019 kamen, sei es anders: „Wir haben sie verloren. Sie sind vom Krieg traumatisiert, viele haben allein in der Türkei gelebt, sie warteten hier jahrelang , ob sie Asyl bekommen und ihre Familie nachholen können. Sie brauchen Unterstützung bei der Ausbildung und Hilfe von Psychiatern.“
In Wien besucht sie oft Hotspots, an denen sich Syrer sammeln, wie den Keplerplatz und den Reumannplatz in Wien-Favoriten. Dort spricht die pensionierte UNO-Mitarbeiterin mit jungen Menschen, lehrt sie gemeinsam mit anderen Vereinsmitgliedern Deutsch und Arabisch. Hilfe von österreichischen zivilgesellschaftlichen Organisationen bekommt sie dabei kaum, ihre Vorschläge seien verhallt.
Angst vor schlechtem Ruf
Zurück nach Brigittenau. Fadi trinkt noch einen Schluck Kaffee. Auch er ist unter 30, er hatte keinen linearen Lebensweg. Er floh minderjährig vor dem syrischen Bürgerkrieg, verbrachte viele Jahre in der Türkei, arbeitete hart und wurde oft schlecht behandelt. Jetzt hat er in Wien einen Job als Essenslieferant und will nichts mehr von Fahnen, Gruppen und Allianzen wissen. Aber er hat vor allem Angst, dass sich der schlechte Ruf „der Syrer“ auch auf sein Leben auswirken könnte – mit Gewaltausbrüchen wie in der Türkei.
Die Chiffre 505 taucht nicht nur in Wien auf, auch in Deutschland, Schweden und der Türkei wurde sie auf Wände gesprüht. In türkischen Medien wird die offenbar lose Gruppierung beschuldigt, an Drogen- und Menschenhandel beteiligt zu sein. Dass diese Gruppen wirklich ein europaweites Netzwerk bilden, bezweifelt die Polizei. In Wien wirken viele, die sich mit 505 brüsten, sehr jung. Aber: „Wir gehen davon aus, dass es Bandengruppierungen sind, die durchaus hierarchisch gegliedert sind“, sagt Stefan Csefan, Leiter der Einsatzgruppe gegen Jugendkriminalität im Bundeskriminalamt.
Wie Talahons mit den Klischees spielen
Während Fadi im Café sitzt, geht es auf TikTok weiter. Junge Syrer schreiben stolz über ihren Clan, der angebliche Capo von Brigittenau textet über sittliche Liebe, Religion und postet dazwischen Bilder von seiner Katze. Gleichzeitig gehen Videos der Subkultur „Talahons“ viral. Das Wort ist ein Neologismus, der aus den syrischen Worten „tael huna“ („komm her“) entstand. Die inoffizielle Uniform der Talahons: Gucci-Umhängetaschen, Skinny Jeans, Kappen und Pullover der Luxusmarke Kenzo. In TikTok-Videos sieht man Talahons beim Schattenboxen, im Hintergrund läuft das Lied „Ta3al Lahon“ des deutschen Rappers Hassan. Die bekannteste Line des Rapsongs: „Talahon, ich geb dir ein’ Stich, ich bin der Patron.“ Sie bedienen damit Vorurteile, die vor allem Konservative gegenüber jungen Männern mit – meist arabischem – Migrationshintergrund haben. Wie ernst die Talahons diese Glorifizierung von Schlägereien und Machogehabe meinen, ist unklar. Viele junge Männer scheinen sich mit der teils ironisch gemeinten Subkultur zu identifizieren.
Keine fixen Clans
Die Bandenkriege zwischen den Jugendlichen haben sich – vorerst? – beruhigt. In einer Großstadt wie Wien kommen Konflikte vor. Die Polizei zeigt Präsenz, Bürgermeister Michael Ludwig sprach sich nach den Schlägereien für ein Waffenverbot für die gesamte Stadt aus. Er fordert mehr Polizisten für Wien – und kann sich auch vorstellen, dass die Stadt für mehr Sicherheitskräfte sorgt. Auch die Rechtsprechung bei Abschiebungen nach Syrien könnte sich bald ändern, vermuten Juristen, zumindest nach Damaskus könnten Rückführungen zulässig werden. Dafür müsste noch ein Abkommen mit Syrien geschlossen werden.
Aktuell ist entscheidend, dass aus den losen Jugendbanden keine fixen Clans werden. Die Vermittlung durch ältere Respektspersonen ist zentral, auch für Polizei und Behörden. Erste Zwischenergebnisse: Die älteren Vermittler haben den jungen Syrern über andere ältere Vermittler aus dem Clan ausrichten lassen, sie sollen gewisse Parks und Orte meiden, keinen Streit mit den Tschetschenen anfangen und nichts Provokantes posten. Klingt banal, scheint aber zwischenzeitlich für Beruhigung gesorgt zu haben.
Auch in der Denisgasse in Wien-Brigittenau zeigt sich der Älteste Musaitov durchaus optimistisch. An der Tür sagt er: „Wenn viele neue Leute in eine Stadt kommen, gibt es manchmal Probleme. Wien hat es früher geschafft und wird es jetzt schaffen.“
Natalia Anders
ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.