"Wir sind nicht so"
Es gibt Momente von Normalität. Sie blödeln, messen ihre Kräfte, tänzeln vor dem Spiegel auf und ab. "Wie stark diese Burschen sind“, denkt Sozialarbeiter Ali Gedik manchmal. Er hat in Wiener Jugendzentren Generationen von Einheimischen und die Kinder der Gastarbeiter heranwachsen sehen. Seit acht Monaten betreut er eine Wohngemeinschaft für junge Flüchtlinge. 16 Syrer, Afghanen, Iraker leben in dem abgewohnten Haus am Viktor-Adler-Markt in Wien-Favoriten. Durch die offenen Fenster dringt das Gesumse der Standler herauf in ihre Welt. Sie ist zerbrechlich. Ein kränkendes Wort ergibt das andere, im Internet taucht ein Video aus Mossul auf, jemand träumt schlecht, plötzlich verfinstern sich die Blicke und eben noch fröhliche Burschen sind nicht mehr ansprechbar. Manchmal möchte Gedik sie umarmen: "Ich weiß, wie kaputt sie sind.“
Das ist Burschenarbeit in Zeiten von Terror und Amok. "Es ist schlimm“, sagte Gedik nach dem Anschlag in Nizza. "Habt ihr es gehört?“, fragte er nach München. Und nach Ansbach, wo sich ein 27-jähriger Syrer am Eingang zu einem Open-Air-Festival in die Luft sprengte. Viel reden wollten die Burschen in der Favoritner Wohngemeinschaft darüber nicht. "Das sind keine Muslime“, sagten sie. Und: "Wir sind nicht so.“ Gedik spürt, wie sie unter Druck geraten, sich zu rechtfertigen, er spürt ihre Panik, mit Mördern in eine Reihe gestellt zu werden, aber auch, dass Bomben und Gewalt schon lange zu ihrem Alltag gehören. In den Debatten nach den Anschlägen in Frankreich und Deutschland ging es um böse Fremde, die vor Kurzem ins Land gekommen sind. Und um böse Fremde, die hier geboren wurden. Es geht um falsche Helden, um junge Männer, die sich radikalisierten, und irgendwie geht es zwischen den Zeilen immer auch um Burschen wie sie.
Schau ich so schlimm aus?
Anderer Ort, andere Jugendliche. Ins XTreff in Traun bei Linz kommen Jugendliche mit türkischen, bosnischen oder tschetschenischen Wurzeln. "Schau ich so schlimm aus?“, fragte vor ein paar Tagen ein über Syrien geflüchteter Palästinenser, der vor Jahren in Oberösterreich landete und eine Lehre macht. Zwei ältere Frauen hatten wegen ihm die Straßenseite gewechselt. Alex Schinko, der Leiter des Jugendzentrums, beruhigte ihn: "Ich würde das nicht machen wegen dir.“ Im Vorjahr sympathisierten einige der Jugendlichen mit der IS-Ideologie. Ein Bosnier schien halb auf dem Sprung ins Kampfgebiet. Schinko und seine Kolleginnen blieben an ihm dran, "um ihn auf den Boden zurückzuholen und ihm klarzumachen, dass er nur Kanonenfutter ist“. Der Zufall sprang ihnen zur Seite: Der Vater verließ die Familie, der Sohn kippte in die Ernährerrolle, und es klappte mit der Arbeit in einem Landgasthaus. Plötzlich war der IS nicht mehr so wichtig.
Sozialarbeiter rufen nicht bei jedem Allahu-Akbar-Schrei nach dem Verfassungsschutz. Aber wenn sich Burschen im Ramadan zu Moralaposteln aufschwingen, bei verhetzenden Postings auf den "Gefällt mir“-Knopf klicken oder "Ein richtiger Mann schlägt seine Frau“-Sprüche klopfen, bohren sie hartnäckig nach. "Warum?“, fragen sie. Und: "Wie genau?“ Gewalt vorbeugen ist Beziehungsarbeit in zahllosen Facetten. In den Alltag eingebaute Irritationen gehören dazu. Die Teams in Jugendzentren bestehen aus Männern, die den Geschirrspüler einräumen und demonstrativ Kaffee kochen, wenn Gäste kommen. Und aus Frauen, die in der Radwerkstatt geplatzte Reifen flicken und Tontechnik-Workshops anleiten.
Wir brauchen Zeit, um Vertrauen aufzubauen und Reibereien auszutragen.
Christian Holzhacker, pädagogischer Bereichsleiter bei den Wiener Jugendzentren, beobachtet seit Jahren, wie der Aggressionspegel in medialen und politischen Auseinandersetzungen steigt: "Das hat auch Einfluss auf junge Menschen.“ Burschen, die weder bei der Bildung noch bei Arbeit und Wohnen mithalten können, greifen auf ihren Körper als Mittel der Durchsetzung zurück. Es ist die große Aufgabe der aktuellen Burschenarbeit, wie junge Männer Aufmerksamkeit und Status erlangen, ohne sich und anderen weh zu tun. Hassprediger versprechen viel für wenig Aufwand. "Das ist ihr Startvorteil“, sagt Holzhacker: "Wir brauchen Zeit, um Vertrauen aufzubauen und Reibereien auszutragen.“ Kein Jugendlicher entflamme von einer Sekunde auf die andere für Amok und Terror. Der Weg dorthin sei mit Kränkungen gepflastert. Der Soziologe und Männlichkeitsforscher Paul Scheibelhofer hält Amokläufer und Terroristen nicht für "Monster von einem anderen Stern, sondern für Männer, die durchaus gängige, traditionelle Geschlechternormen überhöhen und mit großer Gewalt ausagieren“. Gelerntes Machogehabe, das ist die gute Nachricht, kann verlernt werden.
Wenn ihr mich alle für so gefährlich haltet, bin ich es eben.
Kulturelle Spalterei sei kontraproduktiv. Das meint Michael M. Kurzmann, der im Verein für Männer- und Geschlechterthemen für Burschenarbeit zuständig ist: "Wir Fortschrittlichen, ihr Rückständigen, das greifen die Burschen bereitwillig auf und machen es zu ihrem Ding.“ Dann werden Frauen erst recht entwertet, "zum Ficken und für den Haushalt“, oder entrückt, "Jungfrau muss sie sein“. Manchmal schreit einer einem Jugendarbeiter offen ins Gesicht: "Wenn ihr mich alle für so gefährlich haltet, bin ich es eben.“ Um Flucht und Migration zu bewältigen, brauche es einen "Traum“, der dabei helfe, Strapazen durchzustehen. Im Zielland angekommen, sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Auch sie führen mitunter zu aggressiven Entladungen. Wenn Kurzmann in Workshops den Themen auf den Grund geht, rücken dieselben Burschen damit heraus, was sie tatsächlich beschäftigt: Wie lerne ich ein Mädchen kennen? Wie finde ich meinen Platz?
Wenn die Angst hochkriecht, halten sich die Burschen gerne an einfache Antworten. Und weil Jugendliche an sich zu Radikalität neigen, fallen diese oft krass aus. Via soziale Medien sind sie auch noch im Nu verbreitet. Ein Teil der Sozialarbeit hat sich deshalb längst ins Netz verlagert: Wie erkennt man Fälschungen und Propaganda? Wie entstehen Feindbilder? Die Jugendlichen sind Opfer, wenn von Sprenggürteln bis Burkinis alles in Szenarien vom Untergang des Abendlands verschwimmt. Sie sind gleichzeitig Täter, wenn sie über westliche Schlampen herziehen und islamistische Hetze über Facebook weitertragen.
Was habt ihr gegen uns?
Martin Schelm ist für vier Caritas-Heime zuständig. 240 Flüchtlinge leben hier, 90 davon Burschen unter 18 Jahren. In den vergangenen Wochen haben sie in Internet-Foren viel Verstörendes gelesen. Die aufgewühlte Frage "Was habt ihr gegen uns?“ zog sich durch alle Gespräche mit ihren Betreuern. Wenn Ali Gedik in der Wohngemeinschaft mit seinen Flüchtlingen redet, die noch nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht, fällt ihm oft ein, wie er vor 40 Jahren nach Vorarlberg kam, ein Bub aus der Türkei, der kein Wort Deutsch verstand. Hart war das. "Wir haben diese Syrer, Afghanen und Iraker aufgenommen, wir müssen uns mit ihnen austauschen.“ Denn in 40 Jahren werden sie - wenn alles gut geht - das sein, was Gedik heute ist: "Österreicher, Wiener, ein Teil dieser Gesellschaft.“