Sozialdemokratie in Europa: Wo sich die SPÖ ein Beispiel nehmen kann
-22 Prozent in Frankreich, -19 in den Niederlanden, -7 in Italien. Sozialdemokratinnen und -demokraten in vielen Ländern Europas kennen die Enttäuschung nach landesweiten Wahlen nur zu gut. Auch in Österreich. Hierzulande erzielte die SPÖ bei der letzten Nationalratswahl 2019 ein Minus von rund -7 Prozent. In Anbetracht des massiven Vertrauensverlustes der Regierungsparteien nach dem Ibiza-Skandal und den ausgerufenen Neuwahlen waren auch dieses Ergebnis bitter. Starke Verluste bei den Landtagswahlen in Kärnten und Niederösterreich folgten.
Die Sozialdemokratie ist europaweit in der Krise. In Frankreich dümpelt sie unter der Wahrnehmungsgrenze. Es gibt aber Ausnahmen.
Dänemark
In der SPÖ schielt man gerne Richtung Kopenhagen. Die dänischen Parteikolleginnen und -kollegen haben im vergangenen November nämlich mit knapp 30 Prozent das beste Ergebnis seit über 20 Jahren eingefahren und stellen mit Mette Frederiksen die Ministerpräsidentin.
Frederiksen hat das Land durch eine der chaotischsten Amtszeiten geführt, die eine dänische Regierung seit Jahrzehnten erlebt hat, und musste sich mit einer Pandemie, einer steigenden Inflation und geopolitischer Unsicherheit auseinandersetzen. So wie die meisten Regierungen Europas. Trotzdem haben sie es geschafft, ihr Ergebnis noch zu verbessern. Frederiksen hat aber etwas anders gemacht: Sie löste ihre bisherige sozialdemokratische Ein-Parteien-Regierung auf und bildete mit den liberal-konservativen und den liberalen Moderaten eine neue. Eine Seltenheit im skandinavischen Land.
Und genau damit konnten die dänischen Genossinnen und Genossen punkten. Sie boten ein Parteiprogramm, das sich ideologisch über die Mittellinie hinweg traute. Und die Bereitschaft der stärksten Parteien, diese jeweilige Grenzüberschreitung einzugehen, hat zum Wahlsieg verholfen. Ebenso ein radikaler Asylkurs weit rechts der Mitte - äußerst unüblich für Sozialdemokraten.
Mette Frederiksen sprang auf den Mitte-Zug auf, in dem sie eine Zusammenarbeit mit den Konservativen nicht dezidiert ausschloss sowie wirtschaftliche Sicherheit, eine bessere Gesundheitsversorgung und eine grüne Agenda ins Wahlprogramm hob. Dass sich die dänischen Sozialdemokraten auf die Mitte konzentrieren, liegt aber auch daran, dass im skandinavischen Land radikale Parteien - egal welcher Ideologie - wie Pilze aus dem Boden sprießen. Man bot Sicherheit, Konsequenz und Staatsraison, was schlussendlich zum Sieg verhalf.
Deutschland
Im Sommer 2019 herrschte in der SPD Orientierungslosigkeit. Mehrmals in kurzer Zeit hatte der Vorsitz gewechselt, und die beiden Parteiflügel – links versus Mitte – drängten jeweils an die Macht. Der logische Ausweg war eine Wahl des Parteivorsitzes durch alle Parteimitglieder. Olaf Scholz wollte der mächtigste Politiker Europas werden. Wie es einst seine Vorgängerin Angela Merkel war. Er wurde zwar deutscher Kanzler, von einer europäischen Säule der Sicherheit und Macht ist er aber weit entfernt. Der SPD-Spitzenkandidat hat aber eine Gemeinsamkeit mit seinen dänischen Parteikollegen: Auch er hat sich auf die politische Mitte konzentriert.
Bei den Bundestagswahlen 2021 wurde die SPD wieder stärkste Kraft in der Bundesrepublik. Zumindest kurzzeitig. Die (wiederholten) Wahlen in Berlin Anfang des Jahres zeigten: Kein Erfolg währt ewig. In der Bundeshauptstadt wurde die SPD (aber auch ihre Regierungspartner) abgewählt. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen oder in Schleswig-Holstein erlebten die Sozialdemokraten weitere Wahlschlappen.
Der Zauber der gewonnenen Bundestagswahl ist somit endgültig vorbei. SPD-Partei-Chef Lars Klingbeil will aber nichts von einer thematischen Neuausrichtung wissen - und gibt der Kommunikation die Schuld: "Ganz offensichtlich haben wir nicht gemerkt, dass wir die Menschen mit unseren Themen nicht erreichen, das kann passieren im Wahlkampf". Man sei zu weit weg gewesen vom “echten Leben”; den Problemen wie Teuerung und Heizkosten. “Offenbar führen wir hier in Berlin Debatten, die mit der Lebenswirklichkeit der Leute vor Ort nichts zu tun haben.” Das dürfte der SPÖ derzeit bekannt vorkommen.
Italien
Links, laut und radikal. Viele Italienerinnen und Italiener waren verwundert, als die 37-Jährige Elly Schlein neue Chefin der Partito Democratico wurde. Sie hat sich bei einer Mitgliederbefragung überraschend gegen ihren Mitbewerber Stefano Bonaccini durchgesetzt.
Sie macht vieles anders als ihre Parteikollegen in Deutschland und Dänemark. Sie fordert einen Mindestlohn, eine stärkere Besteuerung Vermögender und mehr Solidarität mit Geflüchteten - und ist somit weit links der Mitte.
Schlein verkörpert das europaweite Dilemma zwischen postmateriellen Neu-Linken und materiellen Alt-Linken. Diese Neu-Linken Themenschwerpunkte, die auch Schlein setzt, vergrämen die traditionelle Stammwählerschaft; hat aber potential, progressivere Wählerinnen und Wähler zu generieren. Links der Mitte fischt man vor allem in der urban gebildeten Mittelschicht. Ein Novum. Diese neue Mittelschicht - also Menschen mit guter Ausbildung und Einkommen - unterscheidet sich in ihrer Einstellung stark von der alten, unterstützt aber eine gesellschafts- und sozialpolitisch progressive Agenda. Das Dilemma: die Kernwählerschaft der Sozialdemokraten, die “Arbeiterschicht”, tut dies eher nicht.
Ob Elly Schlein dieser Spagat zwischen Kernwählern und progressiv-Linken gelingt, bleibt abzuwarten. Bei Erfolg hätte sie aber Vorbildwirkung auf andere sozialdemokratische Parteien in Europa - und bildet ein oppositionelles Bollwerk gegen Italiens ultrarechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Finnland
Finnland wird derzeit von einem linken Polit-Pop-Star regiert: Sanna Marin, 37, gilt als Prototyp einer jung-liberalen Politikerin. Kompetent, frisch, furchtlos. Laut Umfragen sind das jene Attribute, die ihr Finninnen und Finnen zumuten. Sie teilt ihr Leben offen und bodenständig auf Social-Media, punktet mit klaren, knappen Antworten und einem modernen Verständnis für politische Kommunikation. Sie wird Finnland in die NATO führen und ist pro-Atomkraft. Auch das unterscheidet sie vehement von ihren österreichischen Parteikollegen.
2019 wurde Marin die jüngste Regierungschefin der Welt. Doch im kommenden April muss sie sich den Parlamentswahlen stellen. Und Wahlkampf kann schmutzig sein, auch in Finnland. Die Opposition und allen voran die konservativ-liberale Partei werfen Sanna Marin vor, zu viele Schulden während der Corona-Krise angehäuft zu haben und damit das Sozialsystem zu gefährden. Auch für ihre vehemente Unterstützung der Ukraine wird sie - meist von der rechtsextremen Parteie Wahren Finnen - angekreidet.
Trotzdem ist sie laut Umfragen derzeit die beliebteste Spitzenpolitikerin. Sie spreche neben der traditionell älteren Klientel der Sozialdemokraten auch junge Menschen an, analysierte der Politologe Teivo Teivainen gegenüber Politico.