Fusionierte Krankenkassen: Leuchtturmprojekt oder Schmähparade?
Jeder Kaufmann lobt seine Ware, jeder Politiker seine Pläne. „Eine Reform, die sich viele vorgenommen, aber nie umgesetzt haben“, rühmte Bundeskanzler Sebastian Kurz die eigene Tatkraft, als er Freitag vergangener Woche das türkis-blaue Konzept zur Neuordnung der Sozialversicherung (SV) präsentierte. „Wir handeln, wir tun“, sagte Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Die Reform der Sozialversicherung aus dem Hause von FP-Ministerin Beate Hartinger-Klein sei „ein Leuchtturmprojekt“.
Ist sie das wirklich oder fabriziert die Regierung Sprechblasen? Kommt es zu einer Umfärbung der Kassen? Werden Unternehmer bevorzugt? Und was bedeutet die Reform für die Patienten?
Worum es eigentlich geht:
Vor allem um viel Geld: Im gesamten Bereich des Sozialversicherungssystems wurden 2017 61,7 Milliarden Euro (83 Prozent davon aus Beitragszahlungen) eingenommen. Und auch wieder ausgegeben: 18,4 Milliarden Euro betrugen die Aufwendungen für die Krankenversicherung, 41,5 Milliarden Euro jene für die Pensionsversicherung und 1,6 Milliarden Euro flossen in die Unfallversicherung. Misst man den Entwicklungsgrad einer Gesellschaft am Ausmaß des Versicherungsschutzes, zählt Österreich zu den fortschrittlichsten Ländern: 8,8 Millionen Personen, 99,9 Prozent der Bevölkerung, sind in der sozialen Krankenversicherung geschützt.
Wo viel Geld im Spiel ist, geht es auch um Macht. Die Politik hat in der Sozialversicherung wenig mitzubestimmen, sie darf bloß die Rahmenbedingungen festlegen. Es herrscht das verfassungsrechtlich abgesicherte Prinzip der Selbstverwaltung. Nicht Behörden, sondern die Betroffenen sollen über ihre Angelegenheiten selbst bestimmen, in der Theorie Dienstgeber und Dienstnehmer, in der österreichischen Praxis Funktionäre von Wirtschaftskammer und ÖGB. Die politische Zurückhaltung in der SV ist keine europäische Normalität: Nur wenige EU-Staaten (darunter Deutschland) haben ein Selbstverwaltungssystem, die meisten (darunter Schweden) ein Staatsmodell. Ob die jetzige Reform das Selbstverwaltungsprinzip verletzt, wird wohl bald der Verfassungsgerichtshof zu prüfen haben.
Wie die Reform im Detail aussieht:
Aus den bisherigen 21 SV-Trägern werden ab dem Jahr 2020 fünf. Kernstück der Reform ist die Zusammenlegung der neun Gebietskrankenkassen zu einer Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Diese wird über neun Landesstellen verfügen. Merke: Wichtiger als die Idee der Selbstverwaltung ist das eherne Prinzip des Föderalismus. Die Beiträge werden zwar zentral von der ÖGK eingehoben, im Anschluss aber wieder auf den Cent genau in jenen Bundesländern ausgegeben, wo sie erwirtschaftet wurden. „Das Geld der Oberösterreicherinnen und Oberösterreicher bleibt auch nach der Kassenreform im Land“, frohlockte Landeshauptmann Thomas Stelzer.
Was Stelzer nicht erwähnte: Die Versicherten-Beiträge machen derzeit nur 80 Prozent der Budgets der Gebietskrankenkassen aus, der Rest stammt aus Sondereinnahmen wie der Rezeptgebühr. Diese Sondereinnahmen werden bei der zukünftigen ÖGK-Zentrale in Wien bleiben, die damit ein Druckmittel zur Steuerung der Regionalstellen erhält.
Beamte und Eisenbahn/Bergbau werden zu einer Dreispartenversicherung (Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung) mit sieben Landesstellen unter dem Monsterkürzel „BVAEB“ fusioniert, Bauern und Selbstständige zur Sozialversicherung für Selbstständige (SVS) mit neun Landesstellen. Pensionsversicherungsanstalt (PVA) und Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) bleiben erhalten. Der Hauptverband als oberstes Steuerungsorgan des SV-Systems wird de facto abgeschafft.
Was die Reform für die Patienten bedeutet:
ÖVP-Verhandler August Wöginger lieferte bei der Präsentation der SV-Reform eine unbeabsichtigte, aber gelungene Formulierung: „Die Patienten werden nichts spüren.“ Was der Klubobmann der ÖVP damit meinte: Weder würden Spitäler geschlossen, noch Leistungen für die Versicherten gekürzt. Laut Kanzler Kurz werde das System sogar „gerechter“.
Derzeit zahlen die Krankenversicherten der neun Gebietskrankenkassen zwar gleich hohe Beiträge, erhalten aber nicht die gleichen Leistungen, etwa, so Kurz vergangenen Freitag, bei der Mundhygiene. Ein kleiner Irrtum des Kanzlers: Mundhygiene ist bei Erwachsenen ohnehin keine Kassenleistung.
In den vergangenen Jahren gab es bereits Harmonisierungen bei den Leistungen der Gebietskrankenkassen. Einen allgemeingültigen Katalog muss die neue ÖGK allerdings erst final ausverhandeln. Die Ärztekammer hielt freilich bereits fest, dieser Katalog müsse „den Bundesländern Platz für regionale Anpassungen“ bieten. Dass die verschiedenen Leistungen dabei nach unten angepasst werden, ist politisch nicht umsetzbar. Ein Aufstand der Versicherten wäre die Folge. Eine Anhebung auf das jeweils höchste Niveau würde laut Berechnungen der London School of Economics freilich bis zu 400 Millionen Euro pro Jahr kosten. Eine radikale Leistungsharmonisierung, die alle unselbstständig Beschäftigten, Selbstständigen und vor allem auch die Beamten erfasst, wurde in den Verhandlungen kaum ernsthaft erwogen.
Wie realistisch die geplanten Einsparungen sind:
Die verbale Verpackung einer Reform ist fast so wichig wie ihr Inhalt. Man werde aus einer „Funktionärsmilliarde“ eine „Patientenmilliarde“ machen, jubelte Vizekanzler Strache vergangene Woche. 2021 sollen 200 Millionen Euro, 2022 300 Millionen und 2023 sogar 500 Millionen durch die SV-Reform eingespart werden. Der Regierung kommt ein Zeitfenster zugute. In den kommenenden Jahren gehen rund 30 Prozent der 28.000 Mitarbeiter in der Sozialversicherung in Pension. Vor allem die Posten in der Verwaltung werden nicht nachbesetzt. Kündigungen hat die Koalition ausgeschlossen. Die Anzahl der Funktionäre soll von 2000 auf 480 verkleinert werden. Statt 90 Gremien wird es nur noch 50 geben. Dennoch sprach der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer von einer „oberflächlichen“ Reform. Eine ernstzunehmende „Kompetenzbereinigung“ in der SV-Verwaltung würde nicht stattfinden. Offen ist zudem, wie hoch die bei der Fusion der Kassen anfallenden Kosten sein werden.
Was die Reform machtpolitisch bedeutet:
Die Arbeitgeberseite durfte sich vergange Woche als Gewinner fühlen. Im neuen Verwaltungsrat der ÖGK werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich stark sein – eine Zumutung für ÖGB und Abeiterkammer, denn derzeit haben die Arbeitnehmervertreter in den Gebietskrankenkassen die Mehrheit. „Die Wirtschaft erhält eine Machtfülle über die Arbeitgeber, die ihr so nicht zusteht“, kritisiert ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian. Da laut Gesetzesentwurf die Obmannschaft in der ÖGK rotieren soll, wird alle sechs Monate sogar ein Arbeitgeber an deren Spitze stehen und die Geschicke von Millionen Unselbstständig-Erwerbstätigen und deren Familien bestimmen. Ein weiteres Übel aus Sicht der Arbeitnehmer: Derzeit prüfen Finanz, Krankenversicherung und Kommunen in einem gemeinsam Verfahren die Abgabengebarung von Betrieben. Dem Gesetzesvorschlag der Regierung zufolge könnte die ÖGK in Zukunft von dieser gemeinsamen Prüfung aller lohnabhängigen Abgaben (GPLA) ausgeschlossen werden. Mächtigster Posten im neu aufgesetzten SV-System wird der Generaldirektor der ÖGK sein. Als Favorit für den Job gilt der bisherige Generaldirektor-Stellvertreter im Hauptverband, der ÖVP-nahe Bernhard Wurzer, 44.
profil-Fazit:
Der türkis-blaue Umbau der Sozialversicherung ist keine „Leuchtturm“-Reform, schneidet aber doch ins Fett und ermöglicht eine weitere Angleichung der Leistungen, allerdings nur für ASVG-Versicherte. Beamte behalten ihre eigenen Kassen und das insgesamt bessere Leistungsangebot (bei höheren Beiträgen). Die geplanten Einsparungen sind halbwegs glaubhaft. Ob sie über reine Kürzungen bei den Personalkosten hinausgehen und tatsächlich eine Milliarde ausmachen, ist aber offen. Insgesamt wird die Machtbalance in der Sozialversicherung von den roten Arbeitnehmern zu den türkisen Arbeitgebern verschoben.