Spanische Grippe: Wie die Pandemie die Gesellschaft veränderte
Eine mysteriöse Krankheit geht um. Als im April 1918 die ersten Frühlingsknospen durchbrechen, werden in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges massenhaft junge und starke Männer von Fieberschüben heimgesucht. Ganze Kompanien liegen danieder. Noch sterben nicht viele.
Die ersten Nachrichten kamen aus dem neutralen Spanien, dessen Presse keiner Militärzensur unterlag. In Wirklichkeit grassierte das Fieber bereits überall in Europa, auf beiden Seiten der Front, und es machte die Menschen kriegsmüde. Wie ein Schatten folgte es den Truppenbewegungen, den Strömen entlassener Kriegsgefangener, die nach dem Friedensschluss des Deutschen Reichs mit Russland im März 1918 quer über den Kontinent transportiert worden waren. Nachdem die geheimnisvolle Krankheit im Mai 1918 den spanischen König Alfons XIII. und andere Prominente befallen hatte, wurde sie "Spanische Grippe" genannt und galt fälschlicherweise als Krankheit der vornehmen Leute.
Allmählich drang Beunruhigendes aus anderen Weltgegenden auf den europäischen Kriegsschauplatz: In Japan, China, auf den Philippinen, in Australien und Russland erkrankten die Menschen. Schon im Oktober 1917 hatte es im mittleren Westen der USA Fälle gegeben, und kurz danach hatte es Soldaten in einem US-Ausbildungslager erwischt. Die lokalen Vorfälle wurden in keinen Zusammenhang gestellt. Später stellte sich heraus, dass Abertausende chinesische Arbeiter zur Unterstützung der kriegführenden Entente-Mächte nach Europa und in die USA verschifft worden waren. Amerika hatten sie über die Ostroute wie über die Westroute und zahlreiche Häfen erreicht.
Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, wo die Spanische Grippe ihren Ausgang genommen hat, wer der Patient Null gewesen war. Wodurch sie hervorgerufen wurde, darüber wurde freilich wild spekuliert. Die Wissenschafter der damaligen Zeit vertraten die Ansicht, dass der Mensch durch Keime infiziert werde, doch wie diese Keime aussehen und übertragen werden, wussten sie nicht.
Die Existenz von Viren, die sich über Wirtszellen vermehren und verbreiten, war noch unbekannt und alte Vorstellungen allzu mächtig: Giftige Ausdünstungen über den Schlachtfeldern seien die Ursache für das unbekannte Böse, das in starken Winden über die Welt geblasen werde. So las man es in populären Zeitschriften. Der kühle und regnerische Juni sei schuld am grassierenden Fieber, so mutmaßte der Wiener Stadtphysikus, der die Maßnahmen in der Reichshauptstadt der Monarchie zu verantworten hatte. Eine Strafe Gottes, so wurde von den Kanzeln gepredigt. Im Verlauf des Sommers wurde es ruhiger um die Krankheit, doch Anfang September war sie plötzlich wieder da. Mit neuer Kraft und Wucht, und die Menschen starben wie die Fliegen, ohnehin schon geschwächt von vier Jahren des Krieges, des Hungers, der Kälte und des Elends.
Alkohol galt als Prophylaxe gegen die Spanische Grippe. In England wurde Whisky auf Rezept verschrieben. In Turin bekamen die Reichen Champagner, die Armen Landwein verabreicht.
Bevor der Tod eintrat, bekamen die Befallenen dunkle Flecken am Körper; Lippen, Ohren und Nägel verfärbten sich blau, die Leichen waren oft schwarz. In den Wiener Zeitungen war nun täglich vom Sterben die Rede. Anfangs wurden noch die Namen der Opfer genannt, doch dann wurden es zu viele, und die Inseratenseiten bestanden immer häufiger aus Todesanzeigen und Werbeeinschaltungen für Karbollösungen, Schutzmasken, Dauerinfektionsmittel und diverse Schnäpse, Cognac und Weinbrände. Alkohol galt als Prophylaxe gegen die Spanische Grippe. In England wurde Whisky auf Rezept verschrieben. In Turin bekamen die Reichen Champagner, die Armen Landwein verabreicht. Ärzte gaben auch Morphium oder Kokain. Im Iran schwor man auf Opium. Chinin und Strychnin in kleinen Dosen wurden empfohlen. Homöopathen und Heiler aller Art hatten großen Zulauf. Der mittelalterliche Aderlass kam wieder in Mode.
Ein fiebersenkendes Mittel, das in großem Maßstab vom deutschen Pharmahersteller Bayer produziert wurde, war Aspirin. Doch bald kam das Gerücht auf, die Deutschen hätten, um den Weltkrieg zu gewinnen, dem Aspirin etwas zugesetzt, das die Menschen krank mache. Ein US-Oberst wurde in amerikanischen Zeitungen zitiert, Deutsche seien in amerikanischen Häfen heimlich an Land gegangen, um Keime freizusetzen. Fake News hielten sich schon damals hartnäckig.
In der Geschichte der Menschheit gab es bei Seuchen immer schon einen Cordon sanitaire, der die Kranken von den Gesunden schied, die Türen der Infizierten markierte. Damals gingen die ersten harten Maßnahmen von den USA aus. In der Herbst-Grippewelle, die weitaus gefährlicher verlief als die des Frühjahrs, wurden in amerikanischen Städten Schulen und Kindergärten gesperrt, Wirtshäuser und Vergnügungslokale, Konzertsäle und Theater. Man rief die Bevölkerung auf, die Benützung von Straßenbahnen auf ein Minimum zu beschränken, nicht in Büchern öffentlicher Bibliotheken zu blättern und den gewohnten Handschlag ausnahmslos zu unterlassen. Die Bewohner von San Francisco wurden im Oktober 1918 bei hohen Strafen zum Tragen einer Schutzmaske aus Gaze verpflichtet. In Paris musste ein paar Wochen später die Schutzmaske sogar die Augen bedecken.
Die Maßnahmen waren zum Teil umstritten. Kinder aus ärmeren Stadtvierteln und feuchten Wohnlöchern würden sich erst recht anstecken, wenn die Schulen geschlossen seien, so lautete ein Einwand. Kritik an der Einschränkung von Bürgerrechten wurde laut. Nicht nur aus liberalen Motiven. "Befinden wir uns in einer Diktatur der Wissenschaft?", fragte der Kommentator einer brasilianischen Tageszeitung und meinte, die Vorstellung von durch die Luft fliegenden Mikroben sei heller Unsinn.
Es scheint, als sei alles schon einmal dagewesen.
Trotz aller Verbote breitete sich die Grippe weltweit aus. Der Krieg half mit. Nach wie vor wurden Truppenteile verschifft, Güter mit der Eisenbahn transportiert, Postschiffe fuhren von Hafen zu Hafen. Auf jedem Kontinent. Mit der Eisenbahn, auf Kanus, auf dem Rücken von Kamelen gelangte das Virus in das Landesinnere Afrikas. Es erreichte Australien, Neuseeland. Zwei Mal umrundete es die Welt. Unter den Inuit wütete es besonders heftig, weil dort niemand immun war. Es forderte massenhaft Opfer in Indien.
Europa war nach vier Jahren Krieg nur bedingt handlungsfähig. In den Siegerstaaten wurde das Ende des Ersten Weltkrieges bejubelt und gefeiert. Die Verliererstaaten, das Deutsche Reich und die Österreichisch-Ungarische Monarchie, waren am Zusammenbrechen. Autoritäten lösten sich auf, Behörden hatten nicht mehr viel zu melden; die Menschen gingen auf die Straße; überall Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer, Demonstranten und Städter, die aufs Land fuhren, um Lebensmittel zu bekommen-das Virus mit im Gepäck.
Auch in Wien wurden Schulen und Kaffeehäuser geschlossen, erst für eine Woche, dann eine weitere. Es fehlte an Ärzten, von denen viele im Krieg gefallen waren, und es fehlte an Medikamenten, weil das Deutsche Reich die Ausfuhr nach Österreich verweigerte. Damals schon.
Es wird geschätzt, dass sich jeder dritte Erdenbürger von 1918 bis 1920, als die dritte Grippewelle endgültig abebbte, mit der Spanischen Grippe infiziert hatte und 50 Millionen Menschen daran gestorben waren. Dennoch ist die Katastrophe im kollektiven Bewusstsein der Europäer wenig verankert. Die Opfer der beiden Weltkriege wiegen schwerer.
Doch könnten uns die Erfahrungen mit der Spanischen Grippe vieles lehren. Im Winter 1918 wurden in Österreich Schulen und Gaststätten bald wieder aufgesperrt und Quarantäne-Maßnahmen gelockert, was eine dritte Grippewelle Anfang 1919 zur Folge hatte. "Derlei Maßnahmen mussten früh verhängt werden und so lange gelten, bis die Gefahr gebannt war. Wurden sie zu früh aufgehoben, bekam das Virus Nachschub an immunologisch naiven Wirten-also Menschen, die noch gar keinen Kontakt mit dem Virus gehabt hatten-, und die Todesrate schnellte wieder nach oben",analysiert die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney in "1918. Die Welt im Fieber". In dieser umfassenden historischen Bestandsaufnahme belegt sie, dass eine Gesellschaft eine Zeitlang sehr gut mit Einschränkungen ihrer Freiheit umgehen kann, dass Menschen in solchen Krisen über sich hinauswachsen und selbstlos Opfer für die Allgemeinheit bringen - Psychologen nennen das kollektive Resilienz. Doch ab "einem bestimmten Punkt löst sich die Gruppenidentität wieder auf, und die betreffenden Personen sehen sich erneut als Individuen.
Vielleicht ist dies der Punkt, wenn das Schlimmste vorbei ist und das Leben allmählich wieder zur Normalität zurückkehrt, wo Menschen sich dann wirklich 'böse' verhalten", schreibt Spinney. Sie untermauert das unter anderem mit Studien, wonach unmittelbar nach Epidemien die Zahl von Vergewaltigungen zunimmt. "Schmerzhafte Neuanpassung, Demoralisierung und Gesetzlosigkeit-das sind bekannte Symptome einer Gesellschaft, die sich allmählich vom Schock einer Seuche erholt", warnt der Historiker Philip Ziegler.