Speed thrills: Aufhebung des Tempolimits in der österreichischen Politik

Alles ist in Bewegung geraten, alles scheint möglich. Sven Gächter über die Aufhebung des Tempolimits in der österreichischen Politik.

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Was ist bloß los in diesem Land? Ein Blauer, ein Grüner und eine Unabhängige deklassieren im ersten Durchgang der Bundespräsidentschaftswahl die Kandidaten der alten Großparteien um Längen. Der rote Bundeskanzler wird beim Maiaufmarsch von den eigenen Genossen lautstark ausgepfiffen und wenige Tage später durch einen Manager ersetzt, der gern enge Anzüge trägt und darin sogar leidlich gute Figur macht. Der Grüne gewinnt die Stichwahl hauchdünn, woraufhin die Blauen deren Wiederholung erwirken, die der Grüne am Ende klar für sich entscheidet. Zwei schwarze Landesfürsten treten freiwillig ab; ein roter ziert sich und wird deshalb in den eigenen Reihen öffentlich angezählt. Ein schwarzer Parteichef und Vizekanzler schmeißt entnervt hin und wird durch einen blutjungen Strahlestramm ersetzt, der ebenfalls gern figurbetont geschnittene Anzüge trägt und der Partei im Gegenzug für seine Bereitschaft, sie in den Wahlkampf zu führen, einen Strukturbruch bis hin zur Selbstverleugnung abfordert. Eine grüne Parteichefin schmeißt entkräftet hin.

Österreich ist nicht wiederzuerkennen. Die Republik, die über Jahrzehnte hinweg durch tonnenschwere Trägheitsmomente in einer prekären Balance gehalten wurde, hat es plötzlich atemberaubend eilig, sich neu zu erfinden. Alles ist in Bewegung geraten, alles scheint möglich – insbesondere auch das Gegenteil dessen, was bisher als undenkbar galt. Der lähmende Stillstand, gemeinsam mit dem kollektiven Lamentieren darüber ein Wesensmerkmal der binnendemokratischen Verfasstheit, hat unversehens ein munteres Spiel der Kräfte freigesetzt, wobei derzeit niemand so recht weiß, in welchem Verhältnis die Kräfte zueinander stehen und wie sie sich mittel- bis langfristig entwickeln werden.

Das ist erstens einigermaßen verwirrend, zumindest in dieser arg zugespitzten Dramaturgie, zweitens aber vor allem erfreulich aufregend. Politik wird wieder lebendig – um nicht zu sagen: sexy –, weil sie die ausgetretenen Pfade verlässt – auch auf die Gefahr hin, sich dabei zu verirren. Die unmittelbar Beteiligten mögen so viel rauschhafter Dynamik teilweise weniger abgewinnen als das breite Publikum, das nach Jahren resignativer Verdrossenheit unverhofft Frischluft wittert. Passiert da nicht gerade Außergewöhnliches, über den sattsam bekannten Anschein von Aktion und Reaktion weit Hinausweisendes? Und wenn ja: Sollte man diesen Prozess nicht umso freudiger begrüßen, als er das Potenzial birgt, dass sich in Österreich ernsthaft ­ etwas ändert, womöglich sogar zum Guten?

Das lange Zeit bedrückend unfreie Spiel der Kräfte erscheint auf einmal geradezu entfesselt.

Anderswo haben vergleichbare Stimmungslagen schon zu massiven Verschiebungen in der politischen Tektonik geführt – mit unterschiedlich beglückendem Ausgang. Die Briten votierten knapp, aber grimmig für den Austritt aus der Europäischen Union. Amerika ist seit vier Monaten dem Wahnwitz eines erratischen Selbstdarstellers im Weißen Haus ausgesetzt. Frankreich wählte einen Mann zum Präsidenten, der die gängigen Links-rechts-Schemata forsch durcheinanderwirbelt und damit entweder grandios reüssieren oder kolossal scheitern wird. Anything goes, das Beste wie das Schlimmste. Man muss es nur zulassen.

So weit hat es nun auch Österreich gebracht. Das lange Zeit bedrückend unfreie Spiel der Kräfte erscheint auf einmal geradezu entfesselt. Die ÖVP erlebt in den ersten Umfragen nach der Obmann- und Spitzenkandidatenkür von Sebastian Kurz einen fulminanten Höhenflug. Bundeskanzler Christian Kern sucht sichtlich irritiert nach Bodenhaftung im stürmischen Windschatten seines jungen Herausforderers. Heinz-Christian Strache, mittlerweile der mit Abstand dienstälteste Parteichef des Landes, ringt hinter seiner neumodischen Brille staatstragend um Fassung: Er muss fürchten, im Infight zwischen den beiden Soft-Populisten als ewiger Hardliner am Ende auf der Strecke zu bleiben. Die Grünen sind im Moment vollauf mit parteiinternen Reibungsverlusten ausgelastet, was sie bis auf Weiteres daran hindert, sich konsequent (und rechtzeitig vor den Neuwahlen) gegen die drei Schwergewichte in Position zu bringen. Die NEOS schließlich arbeiten seit jeher so emsig wie erfolglos daran, ihr parteipolitisches Profil erkennbar zu schärfen, und werden deshalb möglicherweise den Wiedereinzug ins Parlament nicht schaffen.

Es kann natürlich alles auch ganz anders kommen, womit die Besonderheit – und Faszination – der aktuellen Lage nahezu erschöpfend beschrieben wird. In der Tat scheint nichts mehr unmöglich zu sein, und das bedeutet nach vielen, vielen Jahren der öde und streng vorgestanzten Möglichkeiten eine echte Verheißung. Österreichs Politik hat vom Modus der (großkoalitionären) Stagnation in jenen der Bewegung gewechselt und nimmt, weil es sich gerade so gut anfühlt, mehr und mehr Fahrt auf. Einige bequeme Übereinkünfte und hehre Hoffnungen werden im Vollrausch der Geschwindigkeit zwangsläufig unter die Räder kommen, doch das ist nun einmal der Preis, den man für unerschrockene Beschleunigungsvorgänge zu zahlen hat.

Wir Zuschauer verfolgen das Geschehen jedenfalls gebannt. Demokratie kann ziemlich spektakulär sein.

Sven   Gächter

Sven Gächter