Spielfeld: Am Grenzübergang in der Steiermark wird die Flucht zur Lotterie

Spielfeld: Am Grenzübergang wird die Flucht zur Lotterie

Spielfeld: Am Grenzübergang in der Steiermark wird die Flucht zur Lotterie

Drucken

Schriftgröße

17. Februar, 11 Uhr: Das slowenische Šentilj im Talkessel vor Spielfeld. Eine kleine Gruppe von 29 Flüchtlingen drängt sich am Eingang eines sonst leeren Zeltes zusammen. Sie können noch nicht fassen, dass sie hier gelandet sind. Junge Männer in schwarzen und braunen Lederjacken treten hilflos am Fleck, ringen nach Worten, Frauen weinen. Eine sackt aus Verzweiflung zusammen, eine andere zeigt mit den Worten "Aleppo, Aleppo“ auf sich und dann hinüber zu den Feldbetten: "Baby.“ Dort schaut ein kleiner Junge unter einem Wulst aus Decken hervor.

Hunderttausende Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika waren seit vergangenem Sommer beim Grenzübergang Spielfeld nach Deutschland durchgewinkt worden. Für diese 29 aber ist hier und jetzt Schluss. Sie sagen, sie kommen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Ihre lange Reise endet, weil neuerdings schärfere Grenzkontrollen die Flüchtlingswelle brechen und Menschen zurück auf den Balkan drängen - und danach vielleicht bis ans Ufer des Mittelmeers, das sie unter Lebensgefahr überquert hatten.

Nach Schweden und Deutschland weist auch Österreich Flüchtlinge verstärkt zurück. Eine tägliche Obergrenze von 80 Asylanträgen und 3200 Transitflüchtlingen soll den Tross über die Balkanroute bremsen. 200 Menschen mussten in den vergangenen Tagen bereits vom Grenzzelt zurück nach Šentilj. Wer darf weiter, wer nicht? Wie profil-Recherchen zeigen, gleicht die Auslese einer Lotterie.

16. Februar, 15.15 Uhr: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner steht beim Lokalaugenschein in Spielfeld vor einem Wald aus Mikrofonen. Neben ihr der stämmige Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil. Sie wartet, bis sich das Knattern eines Polizeihubschraubers verflüchtigt, und sagt: "Es wird Schritt für Schritt die Bremse eingelegt. Der Dominoeffekt entlang der Balkanroute entwickelt sich planmäßig.“ Hinter ihrem Rücken schleppen sich Frauen und Männer schwer bepackt in ein Wartezelt. Sie haben es geschafft und werden bald in einem Militärbus Richtung deutscher Grenze sitzen. Andere werden noch von Grenzbeamten befragt und bekommen in der Praxis zu spüren, was Doskozil gerade ins Mikrofon sagt: "Wir können die Hauptlast der Asylströme nicht ein zweites Mal tragen.“

Ein afghanischer Bursch darf nicht weiter nach Deutschland. "Sie haben mich gefragt, was ich dort vorhabe. Ich habe gesagt, ich will weg vom Krieg. Der Übersetzter sagte aber, ich wolle dort das Leben genießen“, erzählt er. Er wird nach Šentilj zurückgeschoben. "Enjoy life?! Taliban!“, ruft er und schüttelt den Kopf. Es könnte gelogen sein, weil er sich bei der Befragung verplappert hat und nun auf einen zweiten Versuch hofft. Dass die Rückschiebung endgültig ist, weiß er noch nicht. Nun muss er entweder auf dem Balkan um Asyl ansuchen oder zurück in die Heimat. Ob Freunde oder Verwandte in Deutschland auf ihn warten? Flüchtlinge wie er, die aber noch willkommen waren?

Die Antwort auf die Frage: "Was wollen Sie in Deutschland?“, scheint in Spielfeld über Schicksale zu entscheiden. Aus unterschiedlichen Quellen ist zu hören, dass die Beamten auf diese Weise Wirtschaftsflüchtlinge von Kriegsflüchtlingen trennen. Der Leiter des Flüchtlingscamps in Šentilj, Rudolf Golob, sagt, dass Menschen zurückgeschickt werden, die in Deutschland "nur arbeiten, lernen, studieren oder Fußballspielen“ wollen. Eine slowenische Flüchtlingshelferin, die anonym bleiben will, weiß aus vielen Gesprächen mit Schützlingen: "Wenn jemand auf die Frage antwortet, ich will ein besseres Leben, oder einen bestimmten Beruf nennt, wird er zurückgeschickt.“

Die richtige Antwort wäre wohl: "Ich will in Deutschland um internationalen Schutz ansuchen.“ Doch wer redet so? Vielleicht wissen die Flüchtlinge, dass die Welcome-Stimmung in Europa gekippt ist, und wollen sich einfach besonders arbeits- und integrationswillig zeigen. "Solche Fangfragen sind bedenklich. Wenn jemand sagt, er will in Deutschland arbeiten, heißt das nicht, dass er nicht Asyl will“, sagt der auf Asyl und Fremdenrecht spezialisierte Grazer Anwalt Ronald Frühwirth.

Er kritisiert eine zweite Auslesepraxis, die in Spielfeld und auf der gesamten Balkanroute verstärkt zur Anwendung kommt: die Dialekt-Prüfung. Dabei entscheidet der Dolmetscher, ob jemand wirklich aus Syrien kommt oder nicht. Zu viele arabisch sprechende Nordafrikaner sind im Windschatten der Syrer nach Deutschland und Österreich gelangt. Frühwirth sieht die Rechte der Flüchtlinge verletzt: "Aufgrund von Sprachweisen kann man nicht auf die Staatsangehörigkeit schließen. Die Eltern könnten zugewandert sein. Es braucht eine Sprachanalyse.“

Die bestens vernetzte slowenische NGO "Are you serious?“ erzählt von fragwürdigen Rückschiebungen. Eine Familie, die sich als christlich vorstellte, habe einen religiösen Feiertag nicht nennen können. Eine andere sei abgewiesen worden, weil der Sohn nicht in der Armee diente. Hunderttausende junge Männer wollen nicht in der Armee des syrischen Diktators Bashar-al-Assad dienen. Vor dem aktiven Kriegsdienst flohen vielleicht mehr als vor der Terrormiliz IS.

16. Februar, 12 Uhr: Vor dem Eintrittstor zum Grenzzelt in Spielfeld bilden sich zwei lange Schlangen. Ein Monteur testet das berühmte "Türl mit Seitenteilen“, wie Bundeskanzler Werner Faymann es getauft hat. Es schließt und öffnet einwandfrei. Er nickt zufrieden und packt das Werkzeug zusammen. Die Flüchtlinge vor dem Zaun sind eben erst dem Sonderzug aus Kroatien entstiegen. Bisher kannten sie nur eine Richtung: "Germany.“ Sie scheinen nicht zu ahnen, wie eng das Nadelöhr ins gelobte Land mittlerweile geworden ist.

Zwei junge Syrer posieren mit dem Victory-Zeichen. Ein Bursche mit brauner Lederjacke hält Distanz und schaut schüchtern unter seinem Kapuzenpulli hervor. Er hat einen helleren Teint als seine Reisegefährten, blaue Augen und einen sauber gestutzten Bart: ein syrischer Kurde aus dem nordsyrischen Qamishli. Seine Stadt ist in der Hand der YPG, die kurdische Miliz hat zuletzt deutliche Gebietsgewinne im Süden errungen. Die Stadt ist sicherer als so manch andere in Syrien. Allerdings droht vom Norden aus Krieg mit der Türkei. Die YPG steht dem Erzfeind PKK nahe. Der junge Kurde landet vielleicht in diesem neuen Krieg. Denn nach Deutschland schafft er es an diesem Tag nicht. Am nächsten Tag steht er mit leerem Blick im Abschiebezelt in Šentilj und wartet, was nun mit ihm passiert.

Ein grauhaariger Mann wartet am Beginn der Schlange mit seiner Frau, die ein Baby im Arm hält. Er kommt aus Bagdad. Warum er fliehe? Er fährt sich mit dem Daumen über die Kehle und ruft mit grimmigen Blick: "Daesh!“ Daesh ist eine abschätzige Bezeichnung für die Terrormiliz IS. Die Daumengeste stellt in dieser Schlange eine gängige Antwort auf die Frage nach dem Fluchtgrund dar. Von Enthauptungsritualen am Hauptplatz ist aber zumindest Bagdad weit entfernt. Die irakischen Truppen halten die Stadt, und die Amerikaner würden eher einmarschieren, bevor sie die Stadt dem IS überlassen. Derzeit wird ein Sicherheitszaun gegen Selbstmordattentäter um die Stadt gebaut. "Welche Pläne haben Sie für Deutschland?“ Der Iraker überlegt lange und sagt dann: "Irgendetwas mit Tieren.“ Den Beamten wird er das nicht erzählt haben. Denn er und seine Familie befinden sich am nächsten Tag nicht unter den 29 Menschen in Šentilj. Sie dürften weitergekommen sein.

Wird hinter dem neuen Zauntor wirklich mit K.o.-Fragen gearbeitet und entscheiden Dolmetscher über Schicksale? Es sieht so aus. "Aus humanitären Gründen ist eine Weiterreise nach Deutschland möglich, wenn angegeben wird, dort einen Asylantrag stellen zu wollen. Alle anderen Angaben führen zu einer Verweigerung der Einreise, und die Personen werden nach Slowenien zurückgewiesen“, sagt der Sprecher der Landespolizeidirektion Steiermark, Fritz Grundnig. Ein weiterer Grund für die Zurückschiebungen: "Falsche Angeben zur Identität, Nationalität oder gefälschte Dokumente.“ Das werde mit Dolmetschern, Fälschungsexperten und technischen Hilfsmitteln überprüft.

Die Polizei hat praktisch freie Hand, wen sie nach Deutschland durchlässt und wen nicht. "Österreich hat keine Verpflichtung, die Leute durchreisen zu lassen“, weiß Ruth Schöffl. Sie ist Sprecherin von Unhcr in Österreich. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen achtet nun darauf, dass jene, die es nicht nach Deutschland schaffen, trotzdem in Österreich, Slowenien oder Kroatien einen Asylantrag stellen können. Ob sie das im ersten Schock über die Zurückweisung tun? Ob sie es in Šentilj tun? Oder im nächsten Flüchlingscamp nahe der kroatischen Grenze? Slowenische Behörden sollen freiwillige Helfer dazu nötigen, Flüchtlinge nicht aktiv über Asyl in Slowenien zu informieren, erzählt man sich in der Helfer-Szene.

Slowenien hat 2015 nur einer Handvoll Menschen Asyl gewährt. Die Skepsis vor fremden Kulturen und dem Islam ist groß. Die Infrastruktur für Flüchtlinge ist umso kleiner. Die Rückschiebungen von Spielfeld reichten, um das Erstaufnahmezentrum in Postojna südwestlich von Laibach zu überlasten. Es fasst 200 Personen. Nun geht es von Šentilj in ein Ausweichcamp nahe Kroatien. Wer hier keinen Asylantrag stellt, wird auch über diese Grenze zurückgeschoben.

In Kroatien dürfte die Kapazität und Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge kaum größer sein. "Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass Flüchtlinge jederzeit die Möglichkeit haben, bereits in anderen Ländern wie Griechenland, Kroatien oder Slowenien einen Asylantrag zu stellen“, sagt Grundnig. Wie viel der Satz wert ist, wird sich in den nächsten Monaten zeigen, wenn der erwartete Rückstau auf dem Balkan eintritt. Schöffl glaubt, dass die Menschen dann verstärkt auf illegale Routen Richtung Norden ausweichen werden.

17. Februar, 11.30 Uhr: Camp-Leiter Golob steht vor dem Ankunftszelt in Šentilj. Über Monate war es der erste Stopp für Menschen, die bei Sonne, Regen oder Schnee hierher marschierten und sich trockneten oder wärmten. Ein Zelt der Hoffnung, das heute leer bleibt. Keine Ankünfte aus Kroatien. Auch nicht am folgenden Tag. Serbien lässt keine Flüchtlings-Züge mehr aus Mazedonien durch.

Dafür herrscht im anderen Zelt Betrieb, aus dem die Reise retour geht. Dort herrscht Verzweiflung, Menschen scheitern an der viel zitierten Festung Europa. Die meisten EU-Länder haben ihre Zugbrücken hochgezogen, und nun möchte Österreich nicht mehr das letzte offene Tor nach Deutschland sein.

"Die Zeiten haben sich geändert“, sagt der Slowene Golob im Burggraben von Šentilj.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.