Klubobmann Philip Kucher und sein unmöglicher Job
Kurz bevor der Moderator Philip Kucher offiziell begrüßt, fragt er zur Sicherheit noch einmal nach: „Was ist jetzt dein Titel? Parlamentssprecher?“ Dann kann er den Gast mit seiner korrekten Bezeichnung ankündigen: „Er ist aufgestiegen zum Klubobmann und wird heute mit allen plaudern.“ Kucher schnappt sich einen sauren Radler und geht zwischen den Bierbänken durch, singt das offizielle Vereinslied mit: „Was kann es Schöneres geben als das Pensionistenleben?“ Das Grillfest der SPÖ-Senioren der kleinen Gemeinde Gurnitz in Ebenthal ist für ihn ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Jetzt eben in neuer Funktion.
Die Gratulationsgrenze für den neuen Job verläuft für Philip Kucher irgendwo zwischen Wien und Klagenfurt. Als Nationalratsabgeordneter aus Kärnten kennt er die Strecke gut. Er fährt sie mehrmals in der Woche, knappe vier Stunden mit dem Zug, meistens telefonierend im Einstiegsbereich des Waggons. Je weiter er von seinem Dienstort entfernt ist, desto begeisterter ist man von dem Karriereschritt. Wien und Gurnitz trennen 232 Kilometer Luftlinie, dementsprechend erfreut sind die Grill-Gäste. „Willst jetzt auch Minister werden?“, fragt ihn ein Mann. „Um Gottes willen, dann bin ich noch mehr in Wien“, antwortet Kucher.
Man darf den Schmäh nicht allzu ernst nehmen. Allen Politikerinnen und Politikern, die nicht aus der Hauptstadt kommen, ist die Verankerung in ihrer Heimat und in ihrem Wahlkreis wichtig – da kann ein Gag auf Kosten Wiens nicht schaden. Aber natürlich wird Kucher viel Zeit dort verbringen, derzeit sind drei Tage die Woche geplant.
Kucher hat einen Job, den niemand wollte. Zunächst auch nicht er selbst. Nicht, dass Klubobmann per se eine undankbare Funktion wäre. Sie ist es nur gerade in dieser Partei und in dieser Zeit: Der neue SPÖ-Vorsitzende Andreas Babler liebt die klare Kante. Alle anderen, die ihn bei der Wahl nicht unterstützt haben, fordern Kompromisse. Dazu gibt es tiefe Wunden und Abneigungen auf persönlicher Ebene. Im Parlamentsklub waren die Präferenzen zwischen Pamela Rendi-Wagner, Hans Peter Doskozil und Babler dreigeteilt, wie in der gesamten SPÖ. Bis Herbst soll die Sozialdemokratie wieder geeint sein, um für die Nationalratswahl gerüstet zu sein. Und das ist auch eine Aufgabe für Philip Kucher. Wie soll das gehen?
Die Gräben sind da, nur leicht verschoben
Einige Genossinnen und Genossen sagen im Gespräch ganz offen: Sie wissen es nicht. Es gibt noch immer verhärtete Fronten in der SPÖ, sie haben sich nur etwas verschoben. Der Frust richtet sich in vielen Fällen nicht gegen Andreas Baber, sondern gegen die Wiener Partei. Sie betreibe reine Machtpolitik, heißt es zum Beispiel, nehme keine Rücksicht auf die Bundesländer – und, wie im Nachsatz betont wird, auch nicht auf Andreas Babler.
Als Beweis wird gerne darauf verwiesen, dass sich der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig skeptisch über Mitgliederbefragungen zu Parteivorsitz und Koalitionen geäußert hat. Dabei ist eine Statutenänderung mit mehr direkter Demokratie die erste große Neuerung, die Babler umsetzen möchte. „Das ist eine erzieherische Maßnahme“, glaubt jemand aus der Partei. „Wien lässt Babler wissen: Du hast uns den Vorsitz zu verdanken.“ Die Stadtpartei hatte nach dem Rückzug von Pamela Rendi-Wagner immerhin in den Gremien lautstark Babler unterstützt. In Wien versteht man die Debatte allerdings nicht. In den eigenen Statuten habe man sich eben auf ein repräsentatives Wahlsystem geeinigt. Was im Bund komme, werde man in aller Ruhe besprechen. Man sei jedenfalls flexibel. Unterschwellige Botschaft an die Kritiker: Hört auf, über uns schlecht zu reden, und beteiligt euch in den Gremiensitzungen.
Die neuen drei Lager in der SPÖ sind die von Babler Überzeugten, die Abwartenden und die Misstrauischen. Einige Vertreter der letzten Gruppe teilen ihren Unmut ganz offen, ohne dass Medien ihn herauskitzeln müssten. Am lautesten war zuletzt Günter Kovacs aus dem Burgenland, der Babler im ORF unter anderem ausrichtete: Tempo 100 „wird’s mit den Ländern sicher nicht spielen“. Auch in der oberösterreichischen Parteispitze beäugt man den neuen Chef offenbar noch skeptisch. Der Linzer Bürgermeister Klaus Luger kam nicht zur „Roten Nacht“ mit
Babler, weil er ein Treffen mit dem Fußballverein Blau-Weiß Linz hatte. Und zu den „Oberösterreichischen Nachrichten“ sagte er: „Der neue Parteichef hat die Eigenart, seine persönliche Meinung zur Parteimeinung zu machen.“
Wegen all dem sind sich in Wien viele nicht sicher, ob sie Philip Kucher zur neuen Funktion gratulieren sollen. Auch in seiner eigenen Partei.
Der Verbindungsmann
Dass Kucher Klubobmann wurde, hat einige Gründe. Der erste ist: Niemand wollte Klubobfrau sein. Eva- Maria Holzleitner konzentriert sich auf ihre Rolle als SPÖ-Frauenchefin, Umweltsprecherin Julia Herr möchte nicht in der ersten Reihe stehen. Babler selbst hat nur ein Bundesrats-Mandat und kann im Nationalrat nicht auftreten. Er wollte dafür jemanden, der als Verbinder in alle Lager agieren kann. Er brauchte ein Signal an all jene, die ihn nicht unterstützt hatten. Er fragte Kucher.
Es gibt zwei Merkmale, die Beobachter erwähnen, wenn man sie nach Kucher fragt. Das erste ist für seine Funktion nicht relevant: Es sind karierte Hemden, die Kucher zum Leidwesen seines Pressesprechers sehr oft trägt. Als „fideler Hüttenwirt“ wurde Kucher deswegen schon einmal beschrieben. Das passt auch zu seinem zweiten Merkmal und dem zweiten Grund, warum er wohl Klubobmann wurde: seine Umgänglichkeit. Im FPÖ-Klub rechnet man ihm hoch an, dass er die Abgeordneten schon ein, zwei Mal „auf ein Bierchen besucht hat“. Ein Kollege aus einer anderen Partei erzählt: „Man kann mit dem Kucher Schmäh führen, manchmal rollt man ja auch die Augen über eine Position der eigenen Partei – und umgekehrt. Er verwendet das nicht gegen dich.“ Auch im Klagenfurter Gemeinderat, in dem Kucher bis 2015 saß, nennt ihn der politische Mitbewerber einen „leutseligen Kerl“.
2017, in seiner zweiten Amtsperiode im Nationalrat, startete Kucher mit Abgeordneten aus anderen Parteien eine „Initiative für politische Qualität“ und schrieb eine „Charta für die politische Vernunft“. Die Nationalratskollegen halten seine Reden für angriffig, aber nicht untergriffig. Kucher mag bei den Reden aufgebracht wirken, am Ende formuliert er die Botschaften dann eher sanft, wie einmal Richtung Ärztekammerchef: „Steinharts Reformfreude ist so klein, sie passt auf einen kleinen Teelöffel.“ Dabei ist Gesundheit vermutlich das Thema, das Kucher am meisten emotionalisiert. Er ist Gesundheitssprecher, sein Zivildienst beim Roten Kreuz hat ihn stark geprägt.
Über Kucher spricht man im Parlament nicht schlecht, über seine Position sehr wohl: „Er hat den schwierigsten Job. Und ich glaube, er betrachtet ihn auch als Bürde.“
Ein bisschen Skepsis
Der dritte Grund für seine jetzige Funktion ist paradox: Kucher unterstützte den jetzigen Parteichef nicht. Er hätte auf den Sieg von Pamela Rendi-Wagner getippt, wählte Hans Peter Doskozil und ist jetzt eben ein wichtiger Mitarbeiter von Andreas Babler. „Mir hat Doskozils Mut imponiert, innerhalb der Sozialdemokratie unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Ich wollte in der Frage nicht herumeiern. Aus Respekt gegenüber allen Leuten, die mir ihre Stimme gegeben haben.“ Bevor er ja zu seinem neuen Job sagte, telefonierte Kucher auch lange mit dem burgenländischen Landeshauptmann. Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser soll ihm auch gut zugeredet haben. Jetzt, sagt Kucher, stehe er klar hinter Babler.
In Gurnitz muss Kucher allerdings noch Überzeugungsarbeit leisten. „Wie ist der Neue so?“, fragt ihn ein Mann. „Ich mag ihn“, sagt Kucher. „Es ist so wie in jeder Familie.“ Manchmal gebe es weniger gute Momente, „aber jetzt müssen wir zusammenhalten.“ Eine Frau, die seit 55 Jahren Parteimitglied ist, ist noch vorsichtig: „Ich kenne Andreas Babler nicht, aber ich lasse mich überraschen.“ Später wird Kucher noch einem Bekannten sagen: „Ich weiß, du bist skeptisch dem Babler gegenüber. Aber er ist ein lieber Kerl.“ Zum Abschied gibt der Pensionistenverband Kucher noch einen Wunsch mit: „Bitte schön bring die SPÖ wieder dorthin, wo sie hingehört.“
Im Auto von einem Termin zum nächsten fragt sich Kucher, ob sich die Stimmung drehen könnte. Ob die Kärntner es hier irgendwann doch nicht so gut finden werden, was er in Wien macht.
Als er im Klagenfurter Gemeinderat bei einem gemalten Porträt von Maria-Luise Mathiaschitz vorbeikommt, zeigt Kucher darauf und meint: „Das war unsere Bürgermeisterin.“ Vor zwei Jahren verlor sie die mühsam zurückeroberte Stadtspitze in einer die Direktwahl gegen Christian Scheider vom Team Kärnten. Heute wird der Bürgermeister wegen Angriffen auf die Pressefreiheit und üppigen Überstundenzahlungen an den Magistratsdirektor massiv kritisiert, die SPÖ kündigt deswegen auch die Koalition auf. Damals, 2021, war Scheider noch Wahlsieger.
Kucher übernahm die Klagenfurter SPÖ nach der Niederlage in einer schwierigen Situation und sollte die Stadtpartei wieder aufbauen.
Heute versucht Kucher, in der Bundespartei alle zu befrieden und zu vereinen. Bei Tempo 100 sagt er zum Beispiel: „Wir müssen akzeptieren, dass es unterschiedliche Lebensrealitäten gibt.“ Die Jungen in der Stadt, die keinen Führerschein mehr wollen. Und die Alleinerziehende am Land, die im alten Pkw in die Arbeit fahren muss. „Solange die Regierung an einem Klimaschutzgesetz scheitert, brauchen wir nicht über Einzelmaßnahmen wie Tempo 100 zu diskutieren. Wenn man Menschen mitnehmen möchte, geht das nur mit einem Gesamtpaket.“
Im Sozialbereich wünscht er sich, Teile des Doskozil-Zugangs im Bund aufzunehmen. „Die Pflege darf keine Geldmacherei sein.“ Dabei wird die öffentliche Anstellung pflegender Angehöriger, wie sie im Burgenland stattfindet, von den SPÖ-Frauen deutlich abgelehnt. „Man muss genaue Konzepte ausarbeiten“, sagt Kucher und meint auch hier: „Die Umsetzung kann im städtischen nicht gleich wie im ländlichen Raum sein.“ Es soll also auf alle Rücksicht genommen werden, aber genau deswegen gibt es auch keine deutliche bundespolitische Vorgabe.
Zugespitzt am Parteitag
Spätestens am nächsten Parteitag will sich die Parteispitze auf Linien geeinigt haben. „Über den Sommer möchten wir die inhaltliche Klärung vorantreiben.“ Babler bringe seine Vorschläge mit, andere werden gesammelt. „Ich finde es gut, dass wir bereit sind, über inhaltliche Linien nachzudenken, dass es Politikerinnen und Politiker gibt, die Positionen beziehen.“
Die Botschaften müssten zugespitzter sein, Vermögenssteuern als Koalitionsbedingung bleiben. Auch in seinem Bereich, der Gesundheit, will Kucher pointierte Forderungen. Als Beispiel nennt er Termingarantien bei der Versorgung und eine Ausweitung der Anzahl der Medizinstudienplätze. Damit die Botschaften in der Bevölkerung gehört werden, dürfen sie aber nicht von Querschüssen übertönt werden. Kuchers Hoffnung ist, dass die lauten Zwischenrufe in den nächsten Wochen verstummen. „Es gibt einzelne Personen, bei denen die Verwundungen noch tief sind. Aber das werden wir hinkriegen im Sommer.“
Im August soll die Tour von Andreas Babler so richtig beginnen, um die Partei wieder zu einen. Der Klub hat vor der Sitzungspause ein Get-together organisiert. Die Stimmung soll gut gewesen sein, als Beweis wird von einer Gesangseinlage berichtet: Der Abgeordnete Josef Muchitsch sang „Tage wie diese“ von den Toten Hosen.
Kucher glaubt, dass sich einiges ändern wird, ändern wird müssen. Im Klub versuche man, mehr Abgeordneten Sichtbarkeit zu geben. Die Redezeit soll über mehr Personen verteilt werden, auch zu prominenteren Themen. Bei der Verantwortung soll es ähnlich sein. Babler nutzt die kleine Bühne im Bundesrat und die größere auf Social Media. Kuchers Stellvertreterinnen Holzleitner und Herr sollen eine wichtigere Rolle spielen. Die Bürde des Jobs teilt man sich auf. Die Tour-Termine teilen sie sich auf, am Donnerstag war Herr in Salzburg.
Auch Kucher hat schon Besuche in Bundesländern geplant, weit jenseits seiner Gratulationsgrenze. Seinen Job als Vermittler soll er nicht nur im Parlament machen.
Foto: Alexandra Unger
Korr.: In einer früheren Version des Artikels hatten wir ein Zitat von Klaus Luger fälschlicherweise dem oberösterreichischen SPÖ-Chef, Michael Lindner, zugeordnet. Wir entschuldigen uns für den Fehler.