Die SPÖ-Parteilinke redet Aufweichung der Anti-FPÖ-Doktrin schön
Werner Faymann ist dieser Tage ein großer Abstand zur Tagespolitik zu wünschen, sonst könnte das Pfeifkonzert beim Mai-Aufmarsch auf dem Wiener Rathausplatz als lästiger Tinnitus zurückkehren. Die Parteilinke - von der Sozialistischen Jugend bis hin zum "Team Haltung" - stellte sich damals laut trillernd gegen den SPÖ-Vorsitzenden und läutete seine Ablöse durch Christian Kern ein. Haltung wurde damals so definiert: ein striktes Nein zur FPÖ, Nein zur Asyl-Obergrenze, Ja zur Fortführung der Willkommenskultur. Sechs Monate später ist die Asyl-Obergrenze Parteilinie, die SPÖ erklärt sich bereit, die Mindestsicherung für Flüchtlingsfamilien zu deckeln, und die Tür zur FPÖ steht so weit offen wie seit 30 Jahren nicht mehr.
Seit Bundeskanzler Franz Vranitzky im September 1986 nach Jörg Haiders Wahl zum FPÖ-Obmann die rot-blaue Koalition aufkündigte, galt in der SPÖ die sogenannte Vranitzky-Doktrin, die eine Zusammenarbeit mit der FPÖ ausschloss. Jörg Haider witterte "Ausgrenzung", Vranitzkys Nachfolger Viktor Klima, Alfred Gusenbauer und Werner Faymann nannten es "Abgrenzung". Die FPÖ als "Hetzer" zu bezeichnen, gehörte zu Faymanns konsequentesten Haltungen. Und so musste auch Heinz-Christian Strache damit rechnen, bei der ORF-Diskussion mit Kanzler Kern vergangenen Mittwoch als "Rechtspopulist" oder "Nationalist" gescholten zu werden. Doch Kern schlug im Funkhaus Schalmeientöne an und sprach selbst von einer "amikalen" Diskussion. Er respektiere, "dass es Herrn Strache auch darum geht, das Land voranzubringen". Eine Koalition mit dem FPÖ-Obmann wollte der SPÖ-Chef nicht dezidiert ausschließen.
Der Zeitpunkt der Charmeoffensive (eineinhalb Wochen vor der Bundespräsidentenwahl) überrascht und deutet darauf hin, dass dahinter weniger eine ausgeklügelte Strategie, sondern das Kalkül des Augenblicks steht. Taktisch macht der freundliche Ton Sinn. Die demonstrative Abwehrhaltung von Kerns Vorgängern konnte die Drainage roter Stimmen zur FPÖ nie stoppen. Und die neue Gesprächsbasis mit den Blauen vermindert die Dauerabhängigkeit von der ÖVP als einzigem Koalitionspartner. Unter welchen Bedingungen eine (derzeit nach wie vor unwahrscheinliche) Koalition mit der FPÖ in Zukunft vorstellbar wäre, wird derzeit von einer Gruppe um den Kärntner SPÖ-Landeshauptmann Peter Kaiser anhand eines Kriterienkatalogs erarbeitet. Die roten Rechtsrealos wie Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl und die SPÖ-Chefs in den großen Wiener Bezirken dürfen sich durch Kuschel-Kern bestätigt fühlen. Dass aber auch die Parteilinke auf Kerns Weigerung, eine Kooperation mit der FPÖ auszuschließen, mit fügsamer Zustimmung reagiert, kommt überraschend. Wiens Stadträtin Sonja Wehsely lobte, Kern sei es gelungen, Strache nicht in dessen beliebte Opferrolle schlüpfen zu lassen. Wehselys Schwester Tanja fand es ebenfalls "okay", dass ihr Parteichef mit Strache "in normalem Ton" sprach. Die Schwestern gehören zu den streitbarsten Mitgliedern des Teams Haltung.
Wir gehen keinen Fußbreit in Richtung FPÖ. (Georg Niedermühlbichler, SPÖ-Geschäftsführer)
Kerns softer Umgang mit der FPÖ wird von der Parteilinken nicht einmal hinterfragt. Wolfgang Katzian, Vorsitzender der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG), verweigert jeden Kommentar. Julia Herr, Chefin der Sozialistischen Jugend, hat, so ihre Auskunft, die Kern/Strache-Diskussion nicht verfolgt. Dass der FPÖ-Chef das Land voranbringen will, glaubt auch sie. Zusatz: "Allerdings mit den falschen Methoden." Willi Mernyi, FSG-Bundesgeschäftsführer, will "eine harte politische Auseinandersetzung mit der FPÖ, ohne die Wähler in ein Eck zu drängen". Mernyi: "Ich habe immer gesagt: Wenn ich in einem Ort einen Blauen habe, der kein Rechtsextremer ist, aber einen ÖVPler, der ein Sozifresser ist, warum zwinge ich dann die Leute, mit dem Sozifresser zusammenzuarbeiten?"
SPÖ-Geschäftsführer Georg Niedermühlbichler erklärt den Diskussionsstil so: "Der Kanzler wollte zeigen, dass auch mit Strache ein ordentliches Gespräch möglich ist." Im Juni 2015 hatte Niedermühlbichler als Wiener Landesgeschäftsführer apodiktisch geklungen: "Wir gehen keinen Fußbreit in Richtung FPÖ."
Ex-Vizekanzler Hannes Androsch war von Beginn an Gegner der Vranitzky-Doktrin. Androsch: "Ich kann nicht 20 bis 30 Prozent der Wähler pauschal ausschließen und ausgrenzen. Das machte Haider und die FPÖ groß." Und er ruft sogar Bruno Kreisky als Zeugen für seine These auf. Der Ehrenvorsitzende habe es in einer Sitzung der SPÖ im September 1986 als "schweren politischen Fehler" bezeichnet, dass Vranitzky die SPÖ/FPÖ-Koalition aufgekündigt hatte. Teilnehmer der damaligen Sitzung bestreiten freilich, dass diese Worte gefallen seien.
Franz Vranitzky will sich nicht ausführlich zur Debatte um die Vranitzky- Doktrin äußern. Nur so viel sagt er: "Was heute als Doktrin herumgereicht wird, war ja keine, sondern das Ergebnis eines politischen Kalküls vor 30 Jahren. Die SPÖ hatte damals 43 Prozent der Stimmen, heute hat sie 27 Prozent. Es herrschen vollkommen andere Kräfteverhältnisse, daher kann man die heutige Situation nicht mit der damaligen vergleichen."