Interview
SPÖ-Stadtrat Peter Hacker: „Die Folge wäre Armut oder Beschaffungskriminalität“
Familiennachzug aus Syrien: Der Wiener Sozial-Stadtrat Peter Hacker (SPÖ) verteidigt die höhere Sozialhilfe für Flüchtlinge und lehnt Kürzungen wie in anderen Bundesländern ab.
Von Clemens Neuhold
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Die Debatte über eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge, damit nicht alle nach Wien kommen, scheint sie bisher eher genervt zu haben. Jetzt gibt es einen Wiener Gemeinderatsbeschluss von SPÖ und Neos dazu. Haben Sie ihre Meinung geändert?
Hacker
Wenn wir wollen, dass Flüchtlinge besser in der EU aufgeteilt werden, sollten wir das auch innerhalb Österreichs hinbekommen. Warum sich gerade die ÖVP, die immer alles regulieren will, gegen eine Wohnsitzauflage sträubt, erschließt sich mir nicht. Was mich an der Debatte gestört hat - es geht immer um einzelne Häppchen. Wichtiger noch als eine Wohnsitzauflage ist eine Gesamtstrategie des Bundes für Integration. Und die sehe ich nirgends.
Wie sollte diese aussehen?
Hacker
Für Asylwerber mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit braucht es Deutschkurse und Ausbildungsmöglichkeiten ab dem ersten Tag ihrer Ankunft in Österreich. Es ist doch absurd, dass Flüchtlinge von Oberösterreich oder Salzburg nach Wien gehen und dann kommt das AMS Wien und will sie wieder nach Oberösterreich und Salzburg zurückvermitteln, weil es im Tourismus und in der Industrie viele offene Jobs gibt.
Und wo soll diese Integration ab dem ersten Tag stattfinden?
Hacker
Bereits in den Flüchtlingsquartieren der Asylwerber. Aber bitte nicht irgendwo im Wald. Kurse, Ausbildungsplätze oder Jobs gibt es eher in der Nähe von Ballungsräumen. Deswegen wäre es besser, wenn Asylquartiere auch dort liegen, und nicht hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Ich unterstelle aber, dass es der ÖVP und sowieso der FPÖ eher darum geht, es den Zuwanderern so ungemütlich wie möglich zu machen, in der Hoffnung, dass sich das „Gsindel wieder schleicht“.
Die ÖVP sagt, Flüchtlinge zieht es wegen der höheren Sozialleistungen nach Wien.
Hacker
Das ist der ewige Irrtum von ÖVP und FPÖ. Diese Geschichte vom angeblichen „Pull-Faktor“ bekommen die Rechten nicht aus dem Kopf. Flüchtlinge suchen nicht die Sozialhilfe, sondern die Möglichkeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie gehen deswegen in die Städte, weil dort ihre Community ist. Die hilft den Menschen beim Ankommen. Ich vergleiche das gerne mit einer Selbsthilfegruppe. Man fühlt sich weniger fremd und kann sich orientieren im neuen Leben. Dass ein Mensch aus Ghana, um nicht immer Syrien und Afghanistan zu strapazieren, eher in Wien, Linz oder Graz nach seiner Community sucht als im Waldviertel, kann wenig verwundern. Das war bei den Burgenländern, die Anfang des letzten Jahrhunderts nach Chicago gingen, genauso.
Beleidigt das nicht die Intelligenz von Flüchtlingen, wenn sie unterstellen, sie rechnen nicht nach?
Hacker
in Vorarlberg sind Familienleistungen in der Mindestsicherung höher. Gibt es eine Familienwanderung nach Bregenz? Nein. Tirol zahlt subsidiär Schutzberechtigten genauso die volle Sozialhilfe aus wie Wien. Über einen Exodus nach Tirol wäre mir nichts bekannt.
Diese sogenannten Subsidiär Schutzberechtigten* bekommen in Wien Sozialhilfe wie anerkannte Flüchtlinge in der Höhe von 1156 Euro pro Person; in allen anderen Bundesländern (außer Tirol) nur Grundversorgung von rund 300 Euro. 800 Euro Unterschied im Monat sollen für diese Menschen keine Rolle spielen?
*Subsidiär Schutzberechtigte bekommen kein Asyl, dürfen aber bleiben, solange es daheim zu unsicher ist. In der Wiener Mindestsicherung leben aktuell 10.200 subsidiär Schutzberechtigte, bei 52.000 Asylberechtigten und insgesamt 136.000 Mindestsicherungsbeziehern (Kinder und Erwachsene).
Hacker
Wir wissen aus gründlichen Untersuchungen, dass die Perspektive, von der eigenen Community dabei unterstützt zu werden, einen einfachen Job als Essenslieferant, Zeitungszusteller bis hin zum Lagerarbeiter die wichtigere Motivation ist, nach Wien zu ziehen als die Sozialhilfe. Und vergessen wir nicht, dass die wichtigste Unterstützung für Familien die Familienbeihilfe ist. Und die ist in ganz Österreich gleich.
Hacker
Und noch etwas: Früher oder später wird es allen anderen Bundesländern nicht erspart bleiben, auch subsidiär Schutzberechtigten ebenfalls die Mindestsicherung auszubezahlen. Das werden die Höchstgerichte regeln.
Integrationsministerin Susanne Raab sagt, die niedrigeren Geldleistungen sind vom Verfassungsgerichtshof mehrfach geprüft.
Hacker
Das werden wir sehen. Ich halte aber auch nichts davon, das Leid des einen mit dem Leid des anderen aufzurechnen und die Gesellschaft dort zu spalten, wo es am meisten weh tut. Bei der Armut.
AMS-Chef Johannes Kopf hat im „profil“ vorgeschlagen, dass Sozialhilfe nur noch im Bundesland ausgezahlt wird, wo der Flüchtling Asyl erhalten. Wenn jemand beispielsweise danach vom Burgenland nach Wien geht, wäre die Sozialhilfe weg. In diese Richtung geht auch der Beschluss des Wiener Gemeinderats. Stehen Sie voll dahinter?
Hacker
In dem Beschluss steht kein Wort von Sozialhilfe. Wie gesagt, eine bessere Verteilung ist sicher sinnvoll. Ich bin nur skeptisch, wenn existenzsichernde Maßnahmen zur Armutsbekämpfung als politisches Steuerungsinstrument dienen sollen. In der Realität werden viele Asylberechtigte trotzdem nach Wien gehen und können dann ihre Rechnung nicht mehr zahlen. Die Folge wäre noch größere Armut oder sogar steigende Beschaffungskriminalität.
Ein syrischer Vater, der seine Frau und vier Kinder nach Wien nachholt, bekommt für sich und die Familie 2820 Euro Mindestsicherung. Das kann er – oft noch ohne Ausbildung und Deutschkenntnisse – doch nie verdienen.
Hacker
Einkommen sind immer unabhängig von der Zahl der Kinder. Das gilt ja auch für eine österreichische Familie. Deswegen sind Mindesteinkommen, treffsichere Familienleistungen, kostenfreie Kindergärten und Ganztagesschulen so wichtig. Angesichts der jüngsten Armutsentwicklung bei Kindern sollten die Familienleistungen nach oben gehen. Wie soll eine ukrainische Mutter mit ihren Kindern von 330 Euro Grundversorgung leben, die vielleicht auch noch die Kinder der Freundin im Schlepptau hatte? Wie ein subsidiär schutzberechtigter Syrer?
Österreich ist EU-weit bereits auf Platz 1 bei den Familienleistungen.
Hacker
Auch deswegen, weil wir über den Familienbonus Steuerzuckerl austeilen. Beim kostenfreien Kindergarten, bei der Ganztagesbetreuung von Kindern oder der Deckung von Alltagskosten durch Familien, sind uns sogar manch konservative Länder weit voraus.
Die Wiener Schulen wissen nicht, wohin mit den vielen neuen Schülern aus Syrien. Wie überfordert ist Wien?
Hacker
Wir sind nicht überfordert, aber extrem gefordert. Ich verstehe meinen Kollegen, Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr, dass er angefressen ist und sich vom Bund allein gelassen fühlt. Wo ist die Integrationsministerin, wo der Bildungsminister, die sagen, „ja, es gibt eine Welle beim Familiennachzug nach Wien. Da sind eure 200 zusätzlichen Lehrerinnen und Lehrer, die 500 zusätzlichen Integrationsbegleiter.“
Auch der Wohnraum ist knapp. Wenn Väter noch keine Wohnungen für die nachgeholte Familie gefunden haben, braucht es Auffangwohnungen der Stadt. Gibt es die noch?
Hacker
Das ist eine echte Herausforderung, günstigen Wohnraum aufzustellen. Es gibt aber Gott sei Dank nicht nur die grindigen Hüttn, mit ihren windigen Geschäftemachern, die aus dem Leid der Flüchtlinge Profit schlagen – da bin ich froh, dass die Stadt da jetzt mit Razzien gegensteuert. Es gibt auch passable Unterkünfte, die hilfsbereite Privatpersonen zur Verfügung stellen.
Und davon gibt es genug? Auch in der nötigen Größe?
Hacker
Nein. Sehr viele, aber nicht genug. Das ist eine Herausforderung. Der Fonds Soziales Wien muss sich enorm anstrengen und herumschlichten.
Gibt es eine Strategie für die Zukunft?
Hacker
Die Strategie ist klar. Wir werden nicht tatenlos zuschauen, wenn Familien aus Flüchtlingslagern dann in Wien auf der Straße sitzen. Darum auch die Forderung an den Bund, endlich aktiv zu werden.
Aber was macht Wien konkret?
Hacker
Wir verhandeln mit Wohnbauträgern, damit sie auch leistbare Wohnungen bauen, die den Mindeststandards entsprechen, ohne Sauna und Swimmingpool am Dach. Manche von ihnen verfügen auch über Immobilien aus den 50er Jahren, die nicht mehr den modernen Anforderungen entsprechen, aber sehr passabel sind.
Auf eine Gemeindebauwohnung müssen Flüchtlinge zwei Jahre warten.
Hacker
Das ist so, weil wir schon jetzt eine lange Warteliste haben. Wir sollten nicht alles dem Gemeindebau umhängen.
Wenn es dann aber so weit ist, haben knapp 50 Prozent der Wohnungen höchstens zwei Zimmer.
Hacker
Dann wird es künftig größere Wohnungen geben. Das ist eine Challenge. Aber auch normal für eine wachsende Stadt.
Die Stadt als Dauerbaustelle.
Hacker
Mir ist eine wachsende Stadt lieber als eine schrumpfende. Auch das hab‘ ich schon erlebt in den 1980er Jahren. Davor würde ich mich mehr fürchten als vor den aktuellen Herausforderungen. Viele Gemeinden in Österreich können davon ein Lied singen, wie frustrierend es ist, zu schrumpfen.
Und wenn auch bei den nächsten Flüchtlingswellen fast alle nach Wien gehen?
Hacker
Wir sehen Flüchtlingswellen etwa alle zehn Jahre. Die größte war jene aus Ungarn 1952. Auch das haben wir geschafft. Das „ungarische Temperament“ ist bis heute legendär. Einige von damals sind berühmte Österreicher geworden.
Ein Großteil der Ungarn zog damals rasch weiter. Und kulturell fiel Ungarn die Integration viel leichter als Syrern. Oder spielen kulturelle Aspekte für Sie keine Rolle?
Hacker
Natürlich spielen sie ebenfalls eine Rolle. Deshalb vermisse ich ja eine offensive und engagierte Integrationspolitik. Aber ob es genügend Wohnungen und Schulplätze gibt, hat mit „kulturellen Aspekten“ herzlich wenig zu tun.
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Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.