Comeback für Kern: "Ein Wunder müsst’ geschehen"
Moderne Wahlkämpfe sind Gladiatorenkämpfe. Das Publikum liebt den Moment, in dem der am Boden Liegende neue Kräfte schöpft, sich überraschend aufbäumt und dem Gegner den finalen Schlag versetzt. "Comeback Kid" nennt man diese Glücklichen. Der frühere US-Präsident Bill Clinton gab sich selbst diesen Namen, als es ihm 1992 bei den legendären Vorwahlen in New Hampshire gelang, als Präsidentschaftskandidat der Demokraten durchzustarten. Zunächst hatte es gar nicht gut ausgesehen. Clinton hatte Sexskandale und Haschischkonsum am Hals und galt als Drückeberger vor dem Militärdienst. In New Hampshire hatte Clinton den ersten Platz noch knapp verfehlt, doch er hatte gespürt, dass sich die Stimmung dreht.
Im Fall von Christian Kern deutet im Augenblick wenig darauf hin, dass die SPÖ aus den kommenden Wahlen als stärkste Partei hervorgehen wird. In Umfragen liegt Christian Kern seit Wochen konstant hinter Sebastian Kurz - nach internen Daten der SPÖ ist der Abstand kaum geringer als in der aktuellen profil-Umfrage. Da macht er bei der Kanzlerpräferenz zwölf Prozentpunkte aus.
Vergangene Woche hat sich der bisherige Wahlkampfmanager Stefan Sengl aus dem SPÖ-Team zurückgezogen. Er wünsche Kern den "verdienten Erfolg", hat er ihm nachgerufen. Und das ist durchaus zweideutig zu verstehen. Kern hatte sich von Anfang an mit wechselnden Beratern umgeben, von denen keiner recht wusste, wie ernst er genommen wird, welchen Platz in der Hierarchie er einnimmt. Im Wahlkampfteam war es ebenso. Es gab keinen, der ein Machtwort sprach. Das soll in Zukunft Thomas Drozda sein.
Zwischen Mitarbeitern im Kanzleramt und Mitarbeitern der Parteizentrale liegen tiefe Gräben: Zu verschieden sind die Ansichten, wie sich die SPÖ in der Flüchtlingsfrage positionieren, wie sie mit der FPÖ umgehen soll und wie viele Wähler man auf der einen oder anderen Seite vergrault. Aus dem strategischen Dilemma sind mittlerweile persönliche Feindschaften entstanden. Im Kanzleramt soll es unter den Streithähnen gar zu einer groben Rempelei gekommen sein, bei der ein Mann zu Boden ging.
Im Augenblick können wir nur darauf hoffen, dass die FPÖ ihre Wahlkampfmaschinerie anwirft und die Wähler von Sebastian Kurz zur FPÖ zurückgehen. Dann hätten wir eine kleine Atempause
Es werde mehr gebrüllt als diskutiert, so wird berichtet. Es herrsche größte Nervosität und Kopflosigkeit. Der Zustand spiegle den Konflikt in der Wiener SPÖ, in der eine Fraktion erbarmungslos über die andere herziehe, in der die bösesten Geschichten übereinander kursieren. Die Lage sei ebenso verfahren, und man fürchte, dass der Wiener Parteiapparat den Wahlkampf diesmal nicht bestehen werde.
So kündigen sich Niederlagen an. "Im Augenblick können wir nur darauf hoffen, dass die FPÖ ihre Wahlkampfmaschinerie anwirft und die Wähler von Sebastian Kurz zur FPÖ zurückgehen. Dann hätten wir eine kleine Atempause", gesteht ein Mitarbeiter.
Wie konnte es so weit kommen?
Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte ein talentierter 30-Jähriger einen politisch erfahrenen und eloquenten Kanzler, der von seiner Partei auf Händen getragen wird, innerhalb weniger Monate auf den zweiten Platz verdrängen?
Am Anfang waren starke Worte. Als Christian Kern vor etwas mehr als einem Jahr seinen unbeliebten Vorgänger im Bundeskanzleramt, Werner Faymann, ablöste, prangerte er in seiner ersten Rede die Selbstvergessenheit und Machtversessenheit der politischen Kaste an. Er wolle und werde es anders machen, schwor Kern, und sein damaliger Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) stimmte in dieses Lied mit ein. Es kam anders. Bald war man sich am Wiener Ballhausplatz nicht sicher, ob vorgezogene Neuwahlen nicht doch die bessere Option wären. Die Vorwahlkampf-Rallye mit Plan A erwies sich für Kern als großer Erfolg, doch das Zögern und Zaudern ging weiter. Beobachter gewannen den Eindruck, die Einschätzungen wechselten stündlich. Als Mitterlehner entnervt zurücktrat und Sebastian Kurz kaum verhohlen als Brutus hinstellte, hätte die SPÖ das Heft in die Hand nehmen können. Doch sie überließ es Kurz, sich als Entschiedenheitspolitiker zu präsentieren und Neuwahlen auszurufen. Offenbar hing man in der SPÖ dem alten Glauben an, wer dies tue, habe von vornherein schlechte Karten.
Auch Schröder hatte 2005 Neuwahlen provoziert
Weit gefehlt. Auch der deutsche Kanzler Gerhard Schröder hatte 2005 Neuwahlen provoziert. Die SPD war damals 20 Prozentpunkte hinter Angela Merkel gelegen. Die Wirtschaft lag am Boden, die Partei war zerstritten, die Arbeitslosigkeit hochgeschnellt. In einem fulminanten Wahlkampf, in dem das Testosteron nur so spritzte, kam Schröder bis auf einen Prozentpunkt an Merkel heran. Hätte der Wahlkampf ein, zwei Wochen länger gedauert, er wäre als Erster ins Ziel gegangen.
Auch von einer Kampagne ein Jahr darauf könnten die Genossen lernen, obwohl vieles anders war. Der damalige SPÖ-Spitzenkandidat Alfred Gusenbauer startete aus der Opposition heraus, und der Cordon sanitaire zu den Freiheitlichen hielt noch. Mit Wolfgang Schüssel stand ihnen ein mit allen Wassern gewaschener Gegner gegenüber, scheinbar durch nichts zu erschüttern, fast schon Kanzler auf Lebenszeit, während die SPÖ durch den Bawag-Skandal und die verspekulierten Streikgelder moralisch geschwächt war. Gusenbauer hatte damals auf die besten US-Meinungsforscher und Berater gesetzt, auf Stanley Greenberg und sein Team, die schon in Clinton-Wahlkämpfen durchs Feuer gegangen waren. Seit 1999 waren Greenberg-Leute für SPÖ-Wahlkämpfe zu Rate gezogen worden, doch nie zuvor so intensiv. Auch Tal Silberstern, der jetzt Christian Kern berät, war in den letzten Wochen des Wahlkampfs 2006, als alles schon aussichtslos schien, eingeflogen worden.
Politikberater Thomas Hofer hat die Dramatik dieses Wahlkampfs in "Die Tricks der Politiker" (Ueberreuter Verlag, 2010) minutiös geschildert. Greenberg-Mitarbeiter arbeiten mit regelmäßigen Fokusgruppen, in denen die Stimmung abgefragt wird, Themen und Botschaften auf ihre Wirksamkeit getestet werden. Sie kreieren und verstärken Bilder über ihren Kunden und bereiten ihn bis ins Detail auf TV-Debatten vor. Nach dem Vorbild eines Imagevideos von Clinton wurde damals Gusenbauer präsentiert als einer, der es von ganz unten nach oben geschafft hatte: der Vater ein Bauarbeiter, die Mutter eine Putzfrau und der Sohn, der seine Chancen nutzte, die ihm die Sozialdemokratie eingeräumt hatte. Aufstieg durch Fleiß und Bildung. Statt in Arkansas wie Clinton saß Gusenbauer nun unter einer gedimmten Schreibtischlampe in Ybbs, statt John F. Kennedy war Bruno Kreisky das große Vorbild.
Imagevideo von Kern: Die klassische Aufsteigergeschichte
Das Imagevideo von Christian Kern ist nach demselben Muster gestaltet. Er erzählt darin von seiner Kindheit im Arbeiterbezirk Simmering ("Viel Liebe, wenig Geld") von seiner Beschämung, als die Lehrerin in der Schule einmal fragte, wer eine Beihilfe für den Schikurs brauche, und er aufzeigen musste. Vom Traum jedes Jungen, einmal ein berühmter Fußballer zu werden. Und vom Drama, dass man ums Haar sein wahres Talent nicht erkannt hätte, denn die Lehrerin hatte gemeint: "Der Junge wird das Gymnasium nicht schaffen." Kern erzählt, dass er stolz darauf sei, dass sich "die Starken um die Schwachen kümmern", dass er wisse, was Verantwortung bedeute, als Vater von vier Kindern, zeitweise als Alleinerzieher, der in der Nacht über den Büchern saß, um sich tagsüber um den Buben zu kümmern. Es ist eine Meistererzählung, die klassische Aufsteigergeschichte einer ganzen Generation, eine kollektive Legende. Die Botschaft: Wir haben es dank Bruno Kreisky und liebender Eltern geschafft, aber das System ist immer noch ungerecht. Kern öffnete auch sein privates Familienalbum. Jeder kennt mittlerweile das Foto, das aussieht, als ob Kern selbst im Wochenbett läge, seine eben erst geborene Tochter auf dem Bauch. Es zeigt einen modernen Vater, eine schicksalhaft glückliche Beziehung und Spaß am Leben. Würde Kern dafür gewählt werden, wäre er wohl der nächste Kanzler.
Doch es gab auch die Aktion "Pizzabote". Kern ließ sich in eine Lieferantenjacke stecken und trug Pizza aus. Schon der erste überraschte Bürger, an dessen Tür er klingelte, entpuppte sich als Mitarbeiter der SPÖ. Das Video wurde nicht nur deshalb unter den SPÖ-Wahlkämpfern erbittert diskutiert. Darf ein Kanzler so etwas inszenieren? Beschädigt er nicht das Amt? Franz Vranitzky hätte das nie im Leben gemacht.
Seine jüngsten Videos sind dagegen ziemlich langweilig. Eine Runde alter Menschen, neuerdings auch junger Menschen, sitzt mit Kern um einen Tisch. Man befindet sich in einem Raum, der sich zu einer Wiesenfläche hin öffnet, einem Schrebergarten? Kern spricht nicht in die Kamera, sondern zu dem neben ihm Sitzenden. Bei jedem Thema rückt ein anderer Mann, eine andere Frau nach und damit ins Bild und mimt den interessierten Zuhörer, während Kern zu den Themen Verwaltung, Pensionen oder Pflege doziert. Manchmal streift die Kamera eine Person im Hintergrund. Unterdrücktes Gähnen, leere Blicke. Menschen auf der Wartebank machen nie eine besonders gute Figur, auch nicht nickende Zuhörer.
Ein angedachter Spot mit Kern kam nicht zustande, weil Kerns rechte Hand, Kulturminister Thomas Drozda, sein Veto eingelegt hatte. Die Idee wäre gewesen, einen kleinen Bub mit vergnügtem Schrei in die Alte Donau springen zu lassen, dann einen zweiten und am Ende Kern in einem seiner Slimfit-Anzüge.
Sie ziehen in verschiedene Richtungen und keiner spricht ein Machtwort. Es gibt eine Trittunsicherheit. Das sieht man Kern an, während Kurz bisher überhaupt nicht unsicher wirkt.
Doch das alles sind wahltechnisch Kinkerlitzchen. Das eigentliche Problem der SPÖ ist die fehlende oder nicht erkennbare Strategie. Politikberater Thomas Hofer beobachtet "ein strategisches Mäandern." Er könne den Zickzack-Kurs nicht nachvollziehen. Er habe den Eindruck, "sie ziehen in verschiedene Richtungen und keiner spricht ein Machtwort. Es gibt eine Trittunsicherheit. Das sieht man Kern an, während Kurz bisher überhaupt nicht unsicher wirkt."
Am deutlichsten ist das beim Stichwort "Mittelmeer-Route". Hier ist die SPÖ gespalten, und das Durchlavieren stimmt keinen zufrieden. Das sei "populistischer Vollholler", war von Kern zu hören, als Kurz das erste Mal die "Schließung der Mittelmeer-Route" forderte. Es dauerte nicht lang, da gab Kern ein Sieben-Punkte-Programm zur Eindämmung der Migration übers Mittelmeer bekannt. Es gibt Unterschiede in der Tonalität. Doch nicht im Prinzip. Sowohl Kern als auch Kurz haben vergangene Woche den Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron begrüßt, in Libyen Registrierungszentren für Flüchtlinge einzurichten - sofern es die Sicherheitslage erlaube. "Eine gute Initiative und Teil unseres Sieben-Punkte-Plans", teilte Kern mit. Libyen - das bisher als Hölle galt.
"Negative Campaining"
Wenn alles aussichtslos schien, hat in bisherigen Wahlkämpfen eine Strategie immer noch geholfen: "Negative Campaining", wie es im Fachjargon genannt wird. Das Konzept dahinter lautet: Sorge dafür, dass böse Gerüchte über deinen Gegner in Umlauf gesetzt werden. Nütze die schwächste und unsympathischste Seite seines Charakters. Auch Sebastian Kurz wurde vom ersten Augenblick an von Spitzenfunktionären der SPÖ als hart, herzlos und intrigant hingestellt, als Ziehsohn eines alten Feindbildes, des weit über die Reihen der SPÖ hinaus verhassten Wolfgang Schüssel, zweimal Kanzler einer schwarz-blauen Koalition. In den sozialen Medien, auch auf Seiten und Blogs im Umfeld der SPÖ, hat das Kurz-Bashing mittlerweile hysterische Ausmaße angenommen. Das dient der Mobilisierung der eigenen Wählerschaft, doch dort, wo es über die eigene Blase hinausgeht, schadet es Kern und nützt Kurz. Selbst in den Reihen der Freiheitlichen wird schon gejammert, dass man sofort in einen Shitstorm gerate, wenn man Kurz-kritische Postings teile.
"Negative Campaining" kann viel bewirken, wenn es mit feiner Klinge und einer Prise Humor in die Welt gebracht wird. Im Wahlkampf 2006 hatte die SPÖ in den letzten Tagen vor der Wahl Inserate geschaltet: Unter dem Foto eines Eurofighters stand: "Hier fliegt Ihre Pensionsreform."
Die prinzipielle Schwäche, die politische und ideologische Ausdünnung sozialdemokratischer Ideen kann auch das nicht lösen. Nach Ansicht des großen, verstorbenen Liberalen Ralf Dahrendorf war die Sozialdemokratie schon in den 1980er-Jahren an ihr Ende gekommen, hatte ihre Mission erfüllt, ihre Möglichkeiten in der postindustriellen Ära erschöpft. Viele Wahlgänge der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Sozialdemokratie verlor, weil sie die sozialpolitischen Erwartungen ihrer Stammklientel immer weniger einlösen konnte.
Doch das Rennen ist noch offen. Alles ist möglich. Kern könnte in den TV-Debatten mit Lebenserfahrung und Empathie punkten, hoffen die Strategen. Sie sagen: Wenn man schon der Sozialdemokratie nicht mehr glaubt, dann vielleicht Kern? Es könnte ja ein Wunder geschehen.