Das erste "Spotlight": Die Groer-Affäre als historischer Tabubruch
Boston, 1976. Erste Szene, eine Rückblende. Ein Geistlicher sitzt in einem Polizeigebäude zur Einvernahme. Dialog zwischen zwei an der Untersuchung beteiligten Männern. Der eine fragt besorgt: „Bei Anklage wird die Presse da sein.“ Der andere: „Welche Anklage?“
Schnitt. Der Priester wird durch den Seitenausgang zu einem wartenden Auto gebracht.
Boston 2001. Das Investigationsteam des „Boston Globe“ hat seinen Arbeitsplatz im Keller des Redaktionsgebäudes. Die vier Reporter frönen aber als Einzige dem Luxus, sich ihr Rechercheprojekt sorgfältig auswählen und ein Jahr lang daran arbeiten zu können.
„Spotlight“, 2016 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet, ist eine Hommage an die Tugenden des US-Journalismus: check, recheck, double-check. Und ein Hohelied auf die Ära, als Zeitungsredaktionen noch aus dem Vollen schöpfen. Im Newsroom wimmelt es von nachrichtenhungrigen Journalisten. An der Spitze Blattmacher, die sich der Enthüllung von Skandalen und Aufklärung von Missständen verschrieben haben.
Als beim „Boston Globe“ ein neuer Boss einzieht, beauftragt er sein Aufdeckerteam „Spotlight“ mit der Aufklärung eines Missbrauchsfalls in der katholischen Kirche, über den der „Globe“ bisher nur im Lokalteil unter ferner liefen berichtete.
In der Redaktion des profil sind es zu Beginn biografische Zufälle, die 1995 auf die Spur des Missbrauchsfalls Hans Hermann Groer führen. Aus meiner Schulzeit, in der ich Groer als Religionslehrer von Klassenkollegen begegnete, kenne ich Gerüchte, warum Mitschüler Zusammenkünfte unter vier Augen wie den Teufel fürchteten und mieden. Groer galt als zügelloser Grapscher und Greifer.
Konkret darüber reden will niemand – auch nicht, als ihn der Papst zur Überraschung aller 1986 zum Erzbischof von Wien kürt. Ein hochrangiger Kirchenmann malt damals im Hintergrundgespräch ein abgründiges Bild des Innenlebens des engsten Kreises um den nun höchstrangigen Kirchenmann Österreichs, wie es Umberto Eco in „Der Name der Rose“ zeichnete. Er behauptet zudem, ein Kollege im Weihbischofsrang verdanke seine Karriere der erfolgreichen Erpressung Groers. Alle Recherchen enden damit, dass niemand Aussagen wie diese auch öffentlich bezeugen will. Causa Groer – not fit to print.
Anfang 1995 landet ein anonymes Kuvert auf meinem Schreibtisch. Inhalt: der jüngste Hirtenbrief Hans Hermann Groers.
Hubertus Czernin, ab 1992 als Herausgeber gemeinsam mit meinem Chefredakteurskollegen Herbert Lackner und mir für die Führung von profil verantwortlich, wird bald nach Amtsantritt von anderer Seite für das Thema Groer und Missbrauch sensibilisiert. Ein ehemaliger Groer-Schüler und damaliger leitender Diözesanangestellter sitzt mehrmals bei Czernin und mir in der Redaktion und belastet Groer massiv. Er fühlt sich freilich nicht so weit, zu seinen Missbrauchsvorwürfen auch öffentlich zu stehen.
Anfang 1995 landet ein anonymes Kuvert auf meinem Schreibtisch. Inhalt: der jüngste Hirtenbrief Hans Hermann Groers. Dick mit Filzstift unterstrichen darin der von Groer aus der Bibel zitierte Satz: „Weder Knabenschänder noch Lustknaben werden in den Himmel kommen.“
Der Inhalt von bischöflichen Rundschreiben ist in der Regel kein großes profil-Thema. Hubertus Czernin und ich verständigen uns in diesem Fall aber rasch auf eine kleine Kriegslist. Wir platzieren eine Story mit dem „Lustknaben“-Zitat aus Groers Hirtenbrief prominent im Blatt – als eine Art „Annonce“ für Groer-Opfer.
Die Kriegslist geht auf. Josef Hartmann meldet sich voller Empörung mit einer an mich persönlich adressierten Postkarte – unterschrieben mit „Ein ehemaliger Lustknabe“.
Hartmann fühlt sich von Groers Hirtenbrief so massiv provoziert, dass er mehr als 20 Jahre nach den Übergriffen bereit ist, öffentlich zu machen, worüber bisher nur getuschelt wurde: „Groer hat mich sexuell missbraucht.“
Ich erinnere mich nur mehr flüchtig an den ein paar Jahre jüngeren Mitschüler, ziehe Erkundigungen über seine Vertrauenswürdigkeit ein.
Drei Wochen nach dem ersten Gespräch fühlen wir uns „fit to print“. Hartmann hat seine Aussage in einer „eidesstattlichen Erklärung“ beim profil-Anwalt protokolliert und unterschrieben. Bei Recherchen in Hartmanns Umfeld haben sich weitere Groer-Opfer bereit erklärt, mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen.
Was zwei Tage vor Redaktionsschluss noch immer fehlt, ist eine Stellungnahme des Betroffenen. Groer reagiert auf telefonische und Fax-Anfragen nicht.
Stattdessen meldet sich Helmut Schüller, damals als Jugendseelsorger und ehemaliger Zögling ein Vertrauter Groers. Schüller und ich kennen einander aus Schultagen. Unter vier Augen ersucht er mich dringend, die Story sein zu lassen. Denn, versichert er mir, an den Vorwürfen gegen Groer sei nichts dran. Der spätere Caritas-Chef sagt bis heute von sich, er sei offenbar einer der wenigen gewesen, an denen die Gerüchte über Groers Übergriffe spurlos vorbeigegangen waren.
Als profil am 27. März 1995 mit der Coverzeile ‘Kardinal Hans Hermann Groer hat mich sexuell missbraucht‘ in Druck geht, löst das eine Lawine an Repressionsversuchen, Ablehnung und Zuspruch aus (...)
In „Spotlight“ verläuft diese Szene andersrum: Ein alter Bekannter aus Jugendtagen erteilt dem Journalisten erst eine Abfuhr, als dieser ihn um Mithilfe bei der Aufklärung des Falls ersucht; besinnt sich dann aber eines Besseren und wird zum Kronzeugen. Auch was sich sonst in den Tagen vor und nach der Veröffentlichung an Druck und Drohungen abspielt, wird in Hollywood sanft verpackt. Der PR-Berater des Kardinals appelliert an den Bostoner Lokalpatriotismus des Enthüllungsjournalisten. Der Chefredakteur komme aus Florida und ziehe wohl demnächst weiter Richtung New York; er aber werde immer in Boston bleiben: „Die Menschen brauchen die Kirche. Sie müssen das Gute erhalten.“
Als profil am 27. März 1995 mit der Coverzeile „Kardinal Hans Hermann Groer hat mich sexuell missbraucht“ in Druck geht, löst das eine Lawine an Repressionsversuchen, Ablehnung und Zuspruch aus – einmal mehr befeuert durch einen Zufall: Alles, was im katholischen Österreich Rang und Namen hat, findet sich am Wochenende vor Erscheinen der Groer-Titelgeschichte bei der Weihe von Andreas Laun zum Weihbischof von Salzburg ein. Das beherrschende Gesprächsthema beim Festakt für den bekennenden Stockkonservativen: der dräuende profil-Cover.
Einen Kardinal als Kinderschänder zu outen, war 1995 nicht nur innerhalb der Kirche ein totaler Tabubruch. profil kommt damals immer erst Montagfrüh auf den Markt. Das Medienrecht lässt in den 1990er-Jahren noch zu, die Auslieferung von Zeitungen an die Trafiken gerichtlich verbieten zu lassen. Der damalige ÖVP-Klubobmann Andreas Khol mobilisiert noch am Wochenende Parteianwalt Michael Graff, um einen Beschlagnahme-Antrag gegen profil zu verfassen und Groer zur Unterschrift ins Erzbischöfliche Palais zu bringen. Khol empört sich noch Wochen später intern über Groer: „Ich habe alles getan, um das zu verhindern. Aber er unterschreibt den Beschlagnahme-Antrag nicht, er unterschreibt ihn nicht …“
Als Josef Hartmann als Erster das Schweigen bricht, wagen sich nicht nur immer mehr Opfer Groers aus der Deckung – österreichweit melden sich Missbrauchsopfer von Geistlichen.
Das Rechercheteam Spotlight enthüllt am Dreikönigstag 2002, dass der Kardinal von Boston jahrzehntelang von Missbrauchsfällen wusste, ohne mehr dagegen unternommen zu haben, als die Täter in eine andere Kirchengemeinde zu versetzen und damit neue Opfer zu schaffen. Die Weihnachtsstimmung, die wattig über der US-Stadt liegt, ist mit der Feiertagsausgabe des „Boston Globe“ über Nacht dahin. Denn was mit einem Verdachtsfall begann, wurde dank Spotlight eine Story über den nachweisbaren Missbrauch von 87 Kindern. Der „Boston Globe“ tritt damit eine Lawine los: 600 Folge-Storys, 279 überführte Täter und 1000 weitere Opfer. Das Spotlight-Team macht so zunehmend wahr, was es von sich sagt: „Wir müssen zeigen, dass keiner damit durchkommen kann. Kein Priester, kein Kardinal und kein verdammter Papst.“
Als Josef Hartmann als Erster das Schweigen bricht, wagen sich nicht nur immer mehr Opfer Groers aus der Deckung – österreichweit melden sich Missbrauchsopfer von Geistlichen. Nach Hartmanns Outing ist bald die halbe profil-Redaktion mit der Aufarbeitung immer neuer Fälle beschäftigt. Sie sind Stoff für mehrere Titelgeschichten.
Der damalige St. Pöltner Bischof Kurt Krenn sucht derweil in TV-Debatten die Causa als „Bubenstreiche“ abzutun. Die kirchliche Flüsterpropaganda verbreitet, Hartmann habe eine Million Schilling (rund 73.000 Euro) „Judaslohn“ genommen (das Groer-Opfer hatte keinen Groschen erhalten).
Hans Hermann Groer tritt noch vor Ostern 1995 als Erzbischof von Wien zurück. Seine Bischofskollegen brauchen zwei Jahre, bis sie zu einem Eingeständnis der bitteren Wahrheit und einem ersten Wort der Entschuldigung gegenüber den Opfern finden. 500.000 Menschen unterschreiben das „Kirchenvolksbegehren“, das unter anderem ein Ende des Zwangszölibats fordert. Es verläuft im Sande.
15 Jahre danach und zahlreiche weitere Missbrauchsskandale später beginnt 2010 die Klasnic-Kommission im Auftrag von Groer-Nachfolger Kardinal Schönborn mit der systematischen Aufarbeitung von Fällen und Entschädigung von Opfern. Zwischenbilanz: 1455 kirchliche Missbrauchsopfer wurden bisher anerkannt.
Der Fall Groer war das erste „Spotlight“, welches das Dunkel von kirchlichen Missbrauchsfällen prominent journalistisch auszuleuchten suchte. Die Causa ist auch über 20 Jahre danach weder im Vatikan noch in Österreich untersucht und historisch aufgearbeitet worden. Offen ist nach wie vor die Schlüsselfrage, die auch der „Boston Globe“-Chef im Film „Spotlight“ seinen Reportern stellt: Wie gelang es, den „Mord“ an Kinderseelen so lange zu vertuschen?
Die Mutter von Josef Hartmann hatte bei den Recherchen zum ersten Groer-Cover trotz mehrerer Versuche ein Gespräch abgelehnt. Als im März 1995 dann erstmals auf Ö3 stündlich die für viele unfassbare Nachricht vom sexuellen Missbrauch durch den amtierenden Kardinal läuft, versuche ich noch einmal mein Reporter-Glück. Jetzt, wo alles unwiderruflich raus ist, will auch sie nicht mehr schweigen. Hartmanns Mutter gibt mir in einem bewegenden großen Interview ihr Mitwissen preis. Eines Tages sei „der Josef weinend aufgewacht“ und habe ihr „alles erzählt“. Die Übergriffe lagen erst kurze Zeit zurück. Aber: „Wer hätte uns denn geglaubt. Und was hätten wir machen können? Der Herr Groer war damals schon ein mächtiger Mann …“