Sprachwissenschaftlerin: „Bei Goethe war auch von Studierenden die Rede“
Das generische Maskulinum funktioniert nicht, sagt die Sprachhistorikerin Damaris Nübling. Dennoch glaubt sie nicht, dass sich eine einheitliche Form für geschlechtergerechte Sprache durchsetzen wird.
Zu Beginn würde ich Sie um eine Prognose bitten: Wird es im deutschsprachigen Raum jemals einheitliche Formen für geschlechtergerechte Sprache geben?
Nübling
Das glaube ich nicht. Meine Prognose ist, dass geschlechtersensible Sprache zunehmen wird, und sie wird variantenreich bleiben. Das Deutsche ist ohnehin sehr variantenreich und elastisch, auf vielen Ebenen. Manche benutzen viele Nebensätze, Fremdwörter oder haben einen dialektalen Einschlag.
Derzeit regiert ohnehin das generische Maskulinum – also die grammatikalisch männliche Form, die für beide Geschlechter stehen soll. Gibt es Situationen, in denen es besser funktioniert als in anderen?
Nübling
In der Linguistik haben wir mittlerweile über 40 Experimente durchgeführt, nach allen Standards der Wissenschaft. Es zeigt sich, dass maskuline Formen verstärkt mit Männern assoziiert werden – aber in unterschiedlichem Grad. Das generische Maskulinum funktioniert insgesamt schlecht, denken Sie nur an den Buchtitel „Der Neandertaler – unser Bruder“. Der generische Neandertaler wird im nächsten Moment männlich gedacht. Es kommt dabei auf viele Faktoren an.
Welche Faktoren sind das?
Nübling
Es macht einen Unterschied, ob ich von einem Wissenschaftler im Singular spreche oder von Wissenschaftlern im Plural. Im Plural gibt es zwar auch noch einen male bias, also mehr männliche Assoziationen unter den Versuchspersonen, sie sind allerdings weniger stark ausgeprägt als im Singular. Das männliche Übergewicht stellt sich fast immer ein.
Fast?
Nübling
Es gibt Bezeichnungen wie „Erzieher“ für Berufe, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten. Hier kommt das soziale Geschlecht hinzu, also reale Geschlechteranteile und Geschlechterrollen.
Wenn ich also sage „ich gehe zum Friseur“, stellen sich viele eine Friseurin vor.
Nübling
Ja, der male bias ist hier nicht so stark wie bei Berufsbezeichnungen in männlich dominierten Branchen. Dazu kommen noch weitere Faktoren. Salopp formuliert gibt es unterschiedliche Egalheits-Grade. Wenn ich sage, ich gehe zum Friseur oder zum Arzt, gehe ich in eine Praxis oder einen Salon. Die Person dahinter interessiert mich weniger. In diesen Fällen funktioniert ein Maskulinum ganz gut.
Je abstrakter die Personengruppe, desto schwächer ist also der male bias – aber er ist trotzdem da.
Nübling
Genau. Wenn man auf konkrete Personen Bezug nimmt, dann spielt das grammatische Geschlecht eine größere Rolle. Wenn ein Mann zu seiner Frau sagt, er trifft heute Abend einen Kollegen, bezieht er sich auf eine konkrete Person. Wenn sich herausstellt, dass das eine Frau ist, hat er die Unwahrheit gesagt.
Sind Sprachreformen oder Bewegungen, die mit der heutigen vergleichbar sind, in der Geschichte der deutschen Sprache erfolgreich gewesen?
Nübling
Es gibt keine Reform. Das klingt so, als würde das Deutsche durch eine neue Sprache ersetzt. Niemand muss irgendwas, das ist Unsinn. Es gibt das Bedürfnis von Menschen, sich inklusiv auszudrücken. Diesen Leuten sollte man die Möglichkeit dazu geben. Es ist auch eine Generationen-Frage.
Politiker und Politikerinnen gendern oft, auch an Unis wird gegendert.
Nübling
Ich kenne aber keine Uni, die das vorschreibt. Unis haben Empfehlungen entwickelt für die, die möchten. Es gibt keine Belege, dass es zu einem Notenabzug kommt. Das wird gerne von der Gegenseite behauptet.
In Österreich geben manche Unis die Möglichkeit, Gendern von Studierenden zu verlangen.
Nübling
Mit Konsequenzen? Wenn es so ist, dann wäre das zu kritisieren. Ich halte das für falsch.
Dennoch haben viele das Gefühl, ihnen wird das Gendern oktroyiert und sie können nicht mehr sprechen, wie sie möchten. In Österreich lehnt laut vielen Umfragen eine Mehrheit das Gendern ab.
Nübling
In Deutschland auch. Wobei es viele Formen des Genderns gibt, auch unauffällige. Diejenigen, die das empfinden, haben immer das Maskulinum verwendet und finden, dass bei „Politikern“ ebenso weibliche Personen aufscheinen. Sie haben das Gefühl, dass ihr Sprechen legitimationsbedürftig wird, sie müssen sich reflektieren. Dieses Unwohlsein kann ich gut nachvollziehen.
Wird dieses Unwohlsein durch die verschiedenen Arten des Genderns verschärft?
Nübling
Ja, das ist für viele verwirrend. Ich sehe es aber auch als kollektive Suche nach einem Kompromiss: Die Sonderzeichen werden immer unauffälliger und kleiner. Der Unterstrich hat die Wörter aufgetrennt und war sehr auffällig, das Sternchen prangt oben. Der Doppelpunkt ist hingegen schlank, mittig, und nicht so auffällig wie seine Vorgänger. Man kennt ihn auch schon. Es gibt noch den einen Punkt in der Mitte, den Mediopunkt – das wäre eine weitere Verunauffälligung. Aber er ist auf der Tastatur schwer zu finden.
Wird ein Sonderzeichen gewinnen?
Nübling
Wir werden abwarten müssen, was gewinnt, aber ich glaube, es ist der Doppelpunkt. Eine reine Monokultur wird es aber nicht geben.
Was ist mit geschlechtsneutralen Bezeichnungen wie Studierende?
Nübling
Diese Präsens Partizipien funktionieren im Plural sehr gut und nehmen im Moment stark zu. Schon Goethe sprach von Studierenden. Diese vermeintliche Regel, dass sie in dem Moment studieren müssen, um Studierende zu sein, ist übrigens Unsinn. Bei Goethe war auch von Studierenden die Rede, während sie sich am Abend mit Polizisten geschlagen haben.
Wird sich in Sprachen, in denen es einfacher ist, das Gendern durchsetzen und in anderen nicht?
Nübling
Das kann sein. Im Schwedischen und Englischen ist es viel einfacher als im Deutschen, denn Englisch hat z.B. kein grammatisches Genus, also grammatisches Geschlecht. Viele romanische Sprachen wie Spanisch oder Französisch haben außerdem eine starke Akademie, die sehr konservativ ist. In Deutschland und Österreich gibt es diese normativen Institutionen nicht. Auch der Duden ist keine Instanz, die etwas vorschreibt. Er beschreibt das Deutsche, und wenn sich da etwas verändert, verändert sich auch die Grammatikschreibung, also zum Beispiel früher „der Schade“, heute „der Schaden“. Der einzige Bereich, der wirklich normiert ist, ist die Orthografie – also das Schreiben des Deutschen.
Wenn die Gleichheit der Geschlechter in der realen Welt erreicht wäre, würde das die Bedeutung der Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache verringern – oder bedingt das eine das andere?
Nübling
Es bedingt sich gegenseitig. Dass die Gesellschaft egalitärer wird und dadurch die Sprache auch, stimmt nur bedingt. Wir arbeiten uns in der Sprache noch immer an den Verhältnissen des 18. und 19. Jahrhunderts ab. Wir nennen Männer unterbewusst sehr oft vor Frauen und sagen eben Mann und Frau, Vater und Mutter, Bruder und Schwester. Noch heute „gewinnt“ in Deutschland bei der Heirat zu über 70 Prozent der Männer- und nur zu sechs Prozent der Frauenname. Bezeichnungen von Männern sind grammatisch immer maskulin: Der Junge, der Mann. Bei Frauen sorgt vor allem die Heirat dafür, dass ihre Wörter feminines Genus haben. Davor sind sie Neutra, das Mädchen, das Fräulein, das Groupie. Das zeigt, dass Frauen vor ihrer Heirat noch keine vollgültigen Gesellschaftsmitglieder waren. Wir haben dafür viel Belege.
Das hat sich aber gesellschaftlich geändert.
Nübling
Ja, dennoch hinkt die Grammatik hinterher. Das „Fräulein“ wurde in den 1980er-Jahren auch tatsächlich abgeschafft. Innenminister Hans-Dietrich Genscher hat das Fräulein nach langen Kontroversen in einem Erlass rausgeschmissen.
Es ist nicht ganz klar, wann sich das generische Maskulinum durchgesetzt hat, es galt nicht schon immer. Aber was galt davor?
Nübling
Es funktioniert ja auch heute nicht. Als Sprachhistorikerin sage ich: Das ist sehr schwierig zu beantworten. Das generische Maskulinum wird in Grammatiken erstmals in den 1960er-Jahren erwähnt. Es entsteht eine vielversprechende Doktorarbeit, die erstmals dieser Frage nachgeht: Gibt es in historischen Rechtstexten maskuline Formen, die sich eindeutig auf alle Geschlechter beziehen? Es gibt sehr viele Indizien, dass das generische Maskulinum auch historisch nicht gegolten hat.
Damaris Nübling
Die 60-Jährige ist Professorin für Historische Sprachwissenschaft des Deutschen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. war sie Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Deutsche Sprache.