Bauer sucht Politik: Staffel III, Folge 1

Staatsfeiertag: Wilde sozialistische Symbolik

Für ÖGB und SPÖ ist der 1. Mai ein Zwillingstreffen, für Pamela Rendi-Wagner ein harter Arbeitstag.

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„Wenn die SPÖler und die Gewerkschafter da oben stehen auf ihrer Tribüne und mit roten Tüchern winken wie Mitglieder des ZK – das ist schon eine wilde Symbolik.“ Der Satz stammt von Peter Westenthaler, Ex-Haider-Buberl im Vorruhestand, und er wollte ihn seinerzeit gegenüber dem profil-Reporter nicht spöttisch, sondern anerkennend verstanden wissen. Der „Westi“ war ein Simmeringer Arbeiterkind, landete aber aus einer politischen Laune heraus nicht bei der SPÖ, sondern eben bei Jörg Haiders Freiheitlichen. Die 1. Mai-Feier am Wiener Rathausplatz beeindruckte ihn aber weiterhin. Wie auch nicht: Es handelt sich dabei wahrscheinlich um den größten sozialistischen Aufmarsch der freien Welt.

Die Choreografie ist seit jeher die gleiche. Aus allen Bezirken ziehen Abordnungen im Sternmarsch zu Fuß Richtung Innere Stadt, wo sie am Rathausplatz von den Mitgliedern des Zentralkomitees der Wiener SPÖ empfangen werden. Anders als zu Fuß konnte man das Mekka des roten Wien an diesem Tag auch gar nicht erreichen. Denn so heilig war der Tag der Arbeit, dass am Vormittag per Rathaus-Dekret auch die öffentlichen Verkehrsmittel stillstanden. Erst im letzten Jahr vor der Jahrtausend-Wende dämmerte es SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl, dass ein Fahrverbot für die U-Bahn zwar dem roten Evangelium, aber nicht mehr ganz den modernen Zeiten entsprach. Und so gilt der 1. Mai 1999 noch heute als Tag der Schande, zumindest für die Personalvertretung der Wiener Linien. Immerhin hat das Fahrgebot auch positive Seiten. Die älteren Mitglieder der Wiener SPÖ – und im Gegensatz zu den jüngeren werden diese immer mehr – sparen sich nun den beschwerlichen Fußmarsch und können bequem mit den Öffis von der Vorstadt zum Rathausplatz gelangen.

Rote Zelebranten

Die Kundgebung dort ist das Hochfest von SPÖ und ÖGB; Weihnachten, Ostern und Pfingsten in einem. Die Zelebranten – die jeweiligen Vorsitzenden von Partei, Wiener Landespartei, Arbeiterkammer und Gewerkschaften – stehen auf der Ehrentribüne und wacheln mit roten Tüchern den Abordnungen zu. Man sieht verwitterte rote Fahnen mit drei Pfeilen, Plakate mit klassenkämpferischen Parolen („Eat the Rich“) und Vertreter origineller Teilorganisationen („Red Biker“). Selbst gestandenen Metaller-Gewerkschaftern treibt es da vor Rührung Tränen in die Augen.

Es ist ein anachronistisches Spektakel, das sich hundertprozentig ernst nimmt. Für die SPÖ und die roten Gewerkschafter spricht, dass sie den Spott ihrer Gegner mit Stolz und Würde ertragen. Michael Häupl formulierte das einmal so: „Der 1. Mai ist wichtig, weil er identitätsstiftend ist.“ Gegen SPÖ und Gewerkschaft spricht, dass viele ihrer Mitglieder bei identitätsstiftenden Veranstaltungen Andersgläubiger ihrerseits spotten, wenn etwa der ÖVP-Bauernbund in Wien ein Erntedankfest feiert oder der Erzbischof zu Fronleichnam unterm Himmel prozessiert. Überkommene Folklore ist immer nur, was andere tun.

In den vergangenen Jahren litt die Veranstaltung allerdings unter zwei unvorhersehbaren Phänomenen: zum einen der Pandemie und zum zweiten der Tatsache, dass die SPÖ nicht mehr den Kanzler stellt. Zweiteres wurde dank ersterem etwas kaschiert. Denn 2020 und 2021 fiel der Aufmarsch Corona-bedingt aus – und mit ihm auch die Ansprache von Pamela Rendi-Wagner.

Fehlentwicklung?

Heuer ist alles wie früher. Es sprechen Bürgermeister Michael Ludwig, Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl und - als der Regen einsetzt - die SPÖ-Vorsitzende. Thema sind die arbeitenden Massen und die Teuerung, die arbeitenden Massen und die Ausbeutung sowie die arbeitenden Massen und die Empörung. Als Anlass für die Empörung bietet sich an, dass mit Kurz, Bierlein, Schallenberg und Nehammer bereits vier Kanzler hintereinander nicht von der SPÖ gestellt wurden, oder auch, dass die Grünen mitregieren dürfen. Zum Abschluss werden das Lied der Arbeit und die Internationale intoniert.

Victor Adler nannte Sozialdemokratie und Gewerkschaft einst „siamesische Zwillinge“, weil sie schicksalshaft verbunden wären. Mittlerweile ist der Begriff wohl nicht mehr politisch korrekt, falsch war er schon immer, da er eigentlich eine pathologische Fehlentwicklung beschreibt. Der profil-Reporter würde daher alternativ folgendes Wording vorschlagen: „Sozialdemokratie und Gewerkschaft sind die zwei Seiten einer Viktor-Adler-Plakette.“

 

Sie lesen Folge 1 der dritten Staffel einer Serie von Gernot Bauer über die heimische Innenpolitik. Alle bisher erschienen Teile von “Bauer sucht Politik” können Sie hier nachlesen.

 

Gernot Bauer

Der profil-Redakteur ergründet seit 20 Jahren Wesen und Unwesen der österreichischen Innenpolitik. 

Alle bisher erschienen Folgen von "Bauer sucht Politik" können Sie hier nachlesen. 

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.