Start-up: Wie ein Wiener das Gesundheitswesen in Afrika fördert
Tobias Reiter stand um halb sechs auf, fuhr seinen Computer hoch und ersuchte offiziell, das Haus verlassen zu dürfen. So begann seine letzte Woche im Lockdown in Kigali, Ruanda. Normalerweise fährt der 26-jährige Wiener zehn Minuten in die Arbeit. Seit Wochen aber stoppen Polizisten ihn an jeder Kreuzung, lassen sich die Ausgeherlaubnis reichen und richten einen Fieberstift gegen seine Stirn. Anhalten. Ausweisen. Temperatur messen. Fünf Mal. Dann ist er im Büro.
In der Pandemie gelten auch für einen Start-up-Gründer, der nach Afrika kam, um das Gesundheitswesen mit Artificial Intelligence voranzubringen, keine Ausnahmen. Reiter hatte sich als BWL-Student in das Auf und Ab von Aktien und Kryptowährungen vertieft, dabei Parallelen zu den Marktmechanismen bei Sportwetten entdeckt und eine Software entwickelt, die Quoten vorhersagt. Schon mit 19 verdiente er damit ordentlich Geld. Doch etwas fehlte in seinem Leben. Man könnte es Erfüllung nennen. Reiter sagt "Impact" dazu.
Vor zwei Jahren verkaufte er seine Firma samt einträglichem Algorithmus und widmete sich der Fertigstellung seiner Masterarbeit. Sie handelt vom Unternehmertum in Ruanda. In der Hauptstadt Kigali lief er seinem heutigen Partner Alex Musyoka über den Weg. Der gebürtige Kenianer arbeitete für den größten Medizintechnik-Lieferanten Ostafrikas. In Nairobi im größten Slum des Kontinents aufgewachsen, hatte er miterlebt, was fehlende medizinische Versorgung für die Ärmsten heißt. So wie der junge Wiener wollte auch der Kenianer "etwas bewirken". Die Männer fanden zueinander: Musyoka hatte zwölf Jahre Erfahrung im afrikanischen Gesundheitswesen und kannte dessen Schwächen. Reiter brachte Kapital und den Wunsch mit, den Problemen mit Lösungen aus dem Silicon Valley beizukommen.
Lieferengpässe
Gemeinsam tourten sie durch Ruanda, Kenia, Burundi, die Demokratische Republik Kongo. Überall bot sich das gleiche Bild: In einem Spital stapelten sich OP- Handschuhe, dafür fehlte es an Gesichtsmasken. Im nächsten war es umgekehrt. Es lag nicht am Geld, dass es immer zu viel Spritzen, Urinbehälter, Bandagen oder Laborgeräte gab - oder zu wenig. Zwar waren Budgets notorisch knapp. Viele Krankenhäuser können pro Jahr nur wenige Zehntausend Euro ausgeben. Das eigentliche Problem aber waren Lieferengpässe. Kaum ein Produkt wird in Afrika erzeugt. Importware aus Asien oder Europa ist oft monatelang vergriffen. Das führt dazu, dass Güter, die gerade erhältlich sind, in großer Menge gebunkert werden und für andere die Mittel eben nicht mehr reichen.
Dass künstliche Intelligenz dem Missstand abhelfen könnte, war Reiter rasch klar. Vor zwei Jahren gründete er Viebeg Technologies Inc. mit Sitz in Ruanda. Das zentralafrikanische Land gilt als sicher, nahezu korruptionsfrei und deshalb als idealer Standort. Von hier aus lassen sich auch von Armut oder Bürgerkrieg gebeutelte Länder wie Burundi oder die Demokratische Republik Kongo bearbeiten, wo Unternehmen jederzeit damit rechnen müssen, von gewaltbereiten Milizen vertrieben zu werden. Gerade die schwierigsten Länder aber brauchen am dringendsten technologische Hilfe, um medizinische Güter zur richtigen Zeit in der richtigen Menge am richtigen Ort verfügbar zu haben. Das verspricht Reiters Startup. Geht ein Bestand zur Neige, registriert sein Büro in Kigali eine Nachbestellung. Außerdem werden Spitalsbetten mit Sensoren versehen. Entwickeln sich Patientenbelag und Verbrauchsgüter auffällig, schlägt ein Frühwarnsystem an: Achtung, Malaria! Achtung, Corona! So können Hilfsorganisationen, Regierungen und Krankenhäuser Maßnahmen ergreifen und sich mit Ware eindecken. Der nächste Schritt - die frühzeitige Information für Lieferanten, dass im Mai mehr Labortechnik gefragt sein wird, weil sich in der Regenzeit die Malariafälle häufen - ist programmiert.
Unterstützung aus dem Silicon Valley
In den USA suchte der Wiener nach Expertise und Verbündeten. Wieder eilte ihm der Zufall zu Hilfe. Reiters Bruder arbeitet bei eBay. Über ihn lernte er Neville Newey kennen, der als Weißer in Südafrika aufwuchs, als Teenager in Botswana eine IT-Firma gründete und als Director of Data Science bei eBay landete. Natürlich war diese Koryphäe nicht mit Geld zu gewinnen. Davon verdiente Newey im Silicon Valley mehr als an jedem anderen Ort. "Was ihn für uns eingenommen hat, ist die Chance, mit technologischen Innovationen für Verbesserungen in Afrika zu sorgen", sagt Reiter. Seit Kurzem ist Newey fix an Bord.
Bald danach kam die Corona-Pandemie. Als sie vor sieben Wochen zuerst Südafrika erreichte und sich von dort aus verbreitete, zählte Ruanda zu den Ländern, die besonders strikt reagierten. Der Flughafen wurde abgeriegelt, jeder Ankommende festgehalten, mehrfach getestet und im Krankheitsfall isoliert. Gleichzeitig verordnete die Regierung Ausgangsbeschränkungen. Es dauerte eine Weile, bis die Bevölkerung den Ernst begriff. Anfangs, als vornehmlich Einwanderer und Reisende erkrankten, richteten auch Aufklärungskampagnen wenig gegen die Illusion aus, das Virus würde Afrikaner womöglich verschonen. "Erst als die ersten Schwarzen in Amerika starben, bekamen die Menschen Angst", erzählt Reiter.
Letztlich wirkte der eiserne Griff. Als die ruandesische Regierung ihn Anfang dieser Woche lockerte, wies die Statistik keinen Covid-19-Toten aus. Experten halten die Angaben für glaubwürdig, weil im Land ausgiebig getestet wird. Die Ärmsten aber trieb der Lockdown in den Abgrund. Ruanda ist eine Erfolgsstory, dennoch ist die Kluft zwischen Arm und Reich beträchtlich. Die Regierung verteilt Nahrungsmittel und bringt Straßenkinder in Internaten unter. Das lindert die schlimmste Not. In Burundi, Kenia oder der Demokratischen Republik Kongo haben Tagelöhner, Straßenkinder, Prostituierte seit Wochen nicht genug zu essen. Viele Menschen sterben an Hunger. Aus Burundi, wo demnächst Wahlen stattfinden, kursieren Bilder aus einem Stadion, in dem sich Tausende ohne Schutzmasken drängen. Der Präsident wähnt das Land unter höherem Schutz, weil Gott hier "an erster Stelle komme", so seine Erklärung. Auch in Tansania blieben Kirchen für Gottesdienste ohne Mindestabstand geöffnet. Dass es hier offiziell nur wenig Covid-19-Todesfälle gibt, ist laut Experten der Tatsache geschuldet, dass kaum getestet wird.
Software in 230 Krankenhäusern im Einsatz
Die Corona-Krise erwies sich für den jungen Firmengründer als Glück und Unglück zugleich. Spitäler davon zu überzeugen, Einkauf und Inventur in die Hände von weißen Silicon-Valley-Typen zu legen, war harte Arbeit. Dass Reiters Software mittlerweile in 230 Krankenhäusern in Ruanda, Burundi und Kongo im Einsatz ist, ist zu einem erheblichen Teil seinem afrikanischen Kompagnon zu verdanken: "Er kennt die Praxis, und man traut ihm zu, Probleme zu lösen", sagt Reiter. In der Pandemie wurde selbst Skeptikern der Nutzen eines vollautomatisierten Einkaufs und transparenter Beschaffungsbedingungen klar. Andererseits rissen nun sämtliche Lieferketten. Der globale Markt für Schutzkleidung oder Infrarot-Thermometer war über Nacht leergekauft. Nicht nur Reiters Mitarbeiter schafften es nicht, Güter aus China nach Afrika zu verschiffen, selbst Tech-Giganten wie Apple scheiterten. Die Lage spitzte sich zu. Gefälschte Ware überflutete den Markt. Preise explodierten. Gesichtsmasken, die Reiter zuvor um drei Cent einkaufte, kosten mittlerweile einen Euro, 30 Mal so viel. Das entspricht dem Tageslohn in Ländern südlich der Sahara. Auch in der Gesundheitsversorgung regiert die Ungleichheit. In manchen Spitälern werden Lagerbestände noch mit der Hand in ein Heft eingetragen, anderswo sind Computer und Excel-Tabellen gebräuchlich, teure Accounting-Software hingegen findet sich nur in Privatkliniken, in denen die Oberschicht kuriert wird. Die Start-up-Firma stattet Kunden kostenlos mit ihrer Software aus. Ein Laptop genügt, um Daten hochladen. Fehlende Internet-Leitungen werden durch Hotspots über das Mobiltelefon ersetzt. Mittlerweile listet Viebeg Technologies etwa 100 Lieferanten. Sie sollen sich in einem nächsten Schritt mit den Krankenhäusern verlinken. Damit werden Zwischenhändler obsolet, die laut Reiter am Ende dafür sorgen, dass etwa die Anästhesie beim Zahnarzt mehr kostet als in Europa und Patienten qualvolle Wurzelbehandlungen erdulden, weil sie sich keine Betäubung leisten können.
Die Corona-Krise forcierte regionales und lokales Wirtschaften. Textilfirmen begannen, Stoffmasken zu nähen, die 50 Cent kosten und damit halb so viel wie die billigsten chinesischen Masken. Auch Nahrungsmittel werden vermehrt vor Ort produziert. Produzenten und Lieferanten an möglichst vielen Orten rund um den Globus, das ist für Reiter die große Lektion, "um im Falle einer Krise, einer Epidemie, eines Krieges breit aufgestellt zu sein und weiterhin essenzielle Produkte liefern zu können". Reiters Unternehmen importiert derzeit 80 Prozent der Waren aus der Region, vor allem aus Kenia. Der Anteil wird nach der Corona-Krise sinken. Schon aus Kostengründen ist China nicht aus dem Rennen. "Dennoch werden wir stärker als vor der Pandemie mit regionalen Partnern arbeiten", so Reiter.
Bis auf Weiteres geht ein erheblicher Teil seiner Arbeitszeit dafür auf, nachzuhaken, wo bestellte Diagnostikgeräte, Behälter für Blutkonserven, Bohrmaschinen oder Desinfektionsmittel gerade stecken. 30 Zahnarztstühle hingen für Monate in einem Hafen in China fest. Am Dienstag ereilte Reiter die Nachricht, dass sie in Daressalam, Tansania, eingetroffen sind und die sehnsüchtig erwartete Lieferung auf einen LKW umgeladen wird. In einigen Tagen könnte sie in Ruanda sein. Wenn unterwegs keine Brücke bricht und der Fahrer nicht eine Woche warten muss, bis sie repariert ist. Das kommt laut Reiter vor.
Um halb zehn Uhr abends wird die neueste Corona-Statistik veröffentlicht. Von ihr hängt ab, wie gut der Start-up-Chef schläft. Vergangenen Dienstag durfte Reiter auf eine erquickliche Nachtruhe hoffen. Ruanda vermeldete 261 Infizierte, 35.000 durchgeführte Tests, 128 Menschen waren wieder gesund. Niemand war gestorben. Nur zwei Menschen hatten sich neu angesteckt.