Steigende Suizid-Zahlen in Gefängnissen: Kritik an Ministerium
Justizministerin Alma Zadic von den Grünen ist in den letzten Wochen ihrer Amtszeit mit besorgniserregenden Zahlen aus den Justizanstalten konfrontiert.
profil liegt eine Statistik über Suizidversuche und vollendete Suizide in Österreichs Gefängnissen vor, von der auch das Ministerium Kenntnis hat. Laut den vorliegenden Daten wurden im Jahr 2024 in Summe 48 Suizidversuche und zwölf vollendete Suizide in Haftanstalten registriert – insgesamt 60 Fälle. Es ist der höchste Wert seit vielen Jahren. Zum Vergleich: Im Jahr 2023 lag die Gesamtzahl bei 46 (33 Suizidversuche, 13 Suizide), während es 2022 insgesamt 47 Fälle waren (42 Suizidversuche, 5 Suizide). 2021 war die Gesamtzahl zwar gleich wie im Folgejahr, bedauerlicherweise wurden allerdings mehr Suizide vollendet (32 Suizidversuche, 15 Suizide).
Besonders auffällig ist der deutliche Anstieg im Vergleich zu 2019. Während damals nur 13 Fälle (9 Suizidversuche, 4 Suizide) in Justizanstalten dokumentiert wurden, hat sich die Zahl bis 2024 mehr als vervierfacht. Auch 2020 war die Situation mit 28 Fällen (21 Suizidversuche, 7 Suizide) deutlich besser. Die Zahl der Inhaftierten ist in all den Jahren nicht merklich gestiegen.
Suizid-Prävention: Das Ministerium mauert
Dem Justizressort ist das Problem zwar bewusst, es gibt aber Zweifel daran, ob ausreichend dagegen unternommen wurde. Im Februar 2022 setzte das Ministerium die Arbeitsgruppe „Sicherheits- und Betreuungssettings in krisenhaften Situationen“ ein. Beteiligt waren namhafte Psychiater und die Volksanwaltschaft. Das Ergebnis war eine Liste mit 48 Empfehlungen. Allerdings hält das Ministerium diese Liste auf Anfrage lieber geheim.
Wie sind die steigenden Zahlen von Suizidversuchen zu erklären? Und was würde dagegen helfen?
Das Justizministerium weiß von dem Problem nicht erst seit gestern.
Die von der ÖVP nominierte Volksanwältin Gaby Schwarz, sie ist für die Justizanstalten zuständig, sieht strukturelle Probleme: „Der Druck durch die Überbelegung kann ein Brandbeschleuniger sein. Viele Häftlinge sitzen dort ohne Beschäftigung und haben unendlich viel Zeit, darüber nachzudenken, was mit ihnen gerade geschieht.“ Dabei seien Betreuung und Beschäftigung „das Um und Auf“. Zum Beispiel: Arbeitsmöglichkeiten. Wenn das nicht gewährleistet sei, werde „nichts anderes nutzen“, sagt Schwarz zu profil.
Aus ihrer Sicht tut das zuständige Ressort zu wenig: „Die wissen von dem Problem nicht erst seit gestern.“
Die Vielzahl von Suizidvorfällen erklärt die Volksanwältin auch damit, „dass es sich vorwiegend um Menschen mit schwersten psychischen Krankheitsbildern handelt“. Für diese Menschen mangle es an medizinischer und psychiatrischer Betreuung.
Wir haben heute fast vier Mal mehr psychisch Kranke in Haftanstalten als noch vor 15 Jahren, die wir dort aber nicht fachgerecht versorgen können.
Patrick Frottier ist Psychiater und Berater für Suizidprävention in Haftanstalten. Er merkt an, dass die Suizidrate von Häftlingen in der Langzeitbetrachtung von 30 Jahren rückläufig sei. Für die zuletzt gehäuften Selbstmorde und -versuche sieht er einen Hauptgrund: „Die steigende Suizidrate in Haftanstalten ist ein Abbild einer noch immer nicht gelungenen Maßnahmenvollzugsreform. Denn wir haben heute fast vier Mal mehr psychisch Kranke in Haftanstalten als noch vor 15 Jahren, die wir dort aber nicht fachgerecht versorgen können. Im Jahr 2023 wurden alle Suizide in Haft von Menschen mit psychischer Erkrankung durchgeführt.“
Frottier sieht das „wesentliches Problem“ in der unzureichenden psychiatrisch-fachärztlichen Versorgung: „Wir haben in den Haftanstalten nicht die Anzahl an Psychiaterinnen und Psychiatern, um eine Versorgung wie draußen anzubieten.“ Ein Verlust der Freiheit dürfe nicht einen Verlust der Versorgung bedeuten, sagt Frottier. Aus seiner Sicht könne man dafür nicht alleine das Justizministerium verantwortlich machen. Es sei eine politische Frage: „Wohin stecken wir wie viele Ressourcen?“
Zudem fehle es an Kontinuität im Personal: „Es gibt keine Sicherheit, dass sich immer die gleichen Personen mit den Häftlingen auseinandersetzen. Ein Mensch mit einer psychotischen Entgleisung kann an einem Tag an einen Beamten geraten, der das erkennt, und am nächsten an einen, der es übersieht. Gerade bei Menschen mit psychiatrischem Bedarf bräuchte es aber Kontinuität, damit die Mitarbeiter Dynamiken von Veränderungen erkennen können. Wenn es zu wenig Personal gibt und die immer da und dort hingeschickt werden, übersehen sie es.“
Justizministerium verweist auf Schulungen und Pilotprojekte
Das Justizministerium bestätigt, dass der Anstieg der Suizidversuche eine Folge des hohen Anteils an Personen mit schweren psychischen Erkrankungen im Straf- und Maßnahmenvollzug sei. „Zum anderen ist die Zunahme auch auf die Sensibilisierung der Bediensteten zurückzuführen“, so das Ministerium in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber profil. Im vergangenen Jahr habe es Suizidpräventionsschulungen für Nachtdienstkommandanten gegeben. Aufgrund dieser Sensibilisierungsmaßnahme würden Suizidversuche verstärkt als solche erkannt werden.
Wie erwähnt will das Ministerium die Liste der Empfehlungen der Arbeitsgruppe zur Suizid-Prävention nicht herausrücken. Lieber redet das Ressort über jene Maßnahmen, die bereits umgesetzt wurden: So sei nun erlassmäßig klargestellt, dass im Falle einer Absonderung aufgrund akuter Selbstgefährdung bestimmte Kontaktrechte aufrechtzuerhalten seien, wenn dies der Suizidprävention diene. Zudem laufe ein Pilotprojekt zur besseren Gestaltung der sogenannten Zugangshafträume, in denen neu eingelieferte Insassen untergebracht werden.
Und schließlich verweist das Justizressort auch darauf, dass „ein besserer Informationsaustausch mit dem Gesundheitsministerium angestoßen worden“ sei, um medizinische Daten der Inhaftierten effizienter zu nutzen. Auch e-Learning-Tools zur Suizidprävention für Bedienstete will das Ressort entwickeln, in Zusammenarbeit mit der Schweiz.
Das heikle Thema wird wohl auch den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Zadic beschäftigen.
Hilfe bei Krisen
- Anlaufstellen für Menschen in akuten Krisensituationen findet man auf www.suizid-praevention.gv.at
- Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr, 01/31 330), online unter: psd-wien.at
- Österreichische Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos unter 142), online unter: telefonseelsorge.at
- Kriseninterventionszentrum (Montag bis Freitag 10-17 Uhr, 01 406 95 95), anonyme E-Mail-Beratung (kriseninterventionszentrum.at)
- Gesprächs- und Verhaltenstipps: bittelebe.at