Stift Klosterneuburg: Ein Ex-Angestellter erhebt neue, schwere Vorwürfe
(Dieser Artikel erschien in profil Nr. 03 / 2019 vom 13.01.2019)
Er möge Orte, wo man unter Leuten und trotzdem ungestört ist, hatte Roman R.* am Telefon erklärt. Nun sitzt er in der Lobby eines Hotels in Wien, rührt mit einer Hand Zucker in seinen Kaffee, während die andere nach dem Motorradhelm auf der Sitzbank tastet, als suche sie etwas zum Anhalten. R. hatte das Treffen lange vor sich hergeschoben. Lässt er die Geschichte heraus, die er vor Jahrzehnten in sich einschloss, wird seine Welt nicht mehr sein wie vorher. Will er das? Ist es eine Notwendigkeit?
Im Herbst 2017 machte profil einen Missbrauchsfall im Stift Klosterneuburg öffentlich. Ein Augustiner-Chorherr hatte 1993 einen minderjährigen Messdiener auf sein Zimmer gelockt, ihn betrunken gemacht und zu sexuellen Handlungen genötigt. Das Kloster warf den Ordensmann hinaus, seine Karriere aber ging danach weiter. M., wie profil den Mann abkürzte, wohnte jahrelang in einer Wohnung des Stiftes in Wien, beendete sein Theologiestudium und wurde in Rumänien zum Priester geweiht. In Deutschland übernahm er eine Pfarre und griff dort 2002 einem Elfjährigen in die Hose.
Stift Klosterneuburg: Abwehr und Klagsdrohungen
Bis dahin hatte nie jemand versucht, den vermutlich pädophilen Würdenträger zu stoppen, Rom einzuschalten, andere Stellen zu warnen. Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ zitierte den Personalreferenten des Bistums: „So wie es mir scheint, war es das erste Mal.“ Genau diese Nonchalance hatte Täter geschützt und ihnen erlaubt, wieder und wieder – „wie es scheint zum ersten Mal“ – aus der Rolle zu fallen. In Irland, Australien, Amerika, ab 2010 auch in Deutschland und Österreich, aperten Fälle von Missbrauch und Gewalt aus, die Jahrzehnte zurücklagen. Man hatte die Opfer zum Schweigen gebracht, ihre Akten verschwinden lassen, fast immer waren die Täter glimpflich davongekommen. Erst unter öffentlichem Druck stellte sich die Kirche der Geschichte.
Mit Tätern in den eigenen Reihen hat sie bis heute ihre Not. Als der verstörende Werdegang des ehemaligen Augustiner-Chorherrn M. aufflog, zeigte jeder mit dem Finger auf andere. Auch das Stift Klosterneuburg reagierte auf die profil- Geschichte zunächst mit Abwehr und Klagsdrohungen, wollte sich dann aber doch mit der Vergangenheit befassen und Lehren für die Zukunft ziehen. Im November des Vorjahres legte das Kloster den Bericht einer „externen, unabhängigen und weisungsfreien“ Expertenkommission vor. Diese räumt bloß „strukturelle Schwächen“ ein, die den „gegenständlichen Anlassfall begünstigt haben könnten“. Gemeint ist der Übergriff 1993. Die Frage aber, wer M. danach half, Seelsorger zu werden, blieb offen. So wie vieles andere. „Beweise für bewusstes und zielgerichtetes Fehlverhalten des Stiftes oder einzelner seiner Verantwortungsträger“ habe man nicht gefunden, liest man in dem 14-seitigen Dossier. Viele Zeitzeugen seien verstorben oder stünden nicht zur Verfügung.
Der heutige Propst des Stiftes, Bernhard Backovsky, war seinerzeit für den Nachwuchs zuständig. Er hatte das Amt des Novizenmeisters 1983 von einem Chorherrn übernommen, dessen gestrenges Regime angehende Ordensbrüder vertrieben hatte. Backovsky sollte das Haus mit neuem Leben füllen. In den 1980er-Jahren zog das prachtvolle Kloster viele stockkonservative Deutsche an. Backovsky, der sie in geistlichen und weltlichen Belangen anleiten soll, ließ ihnen sämtliche Freiheiten. Das gefiel Hermann Groër, der seit 1986 als Erzbischof von Wien amtierte, und Kurt Krenn, der in St. Pölten ab 1991 das Zepter führte. Den etwas gesetzteren und liberalen Augustiner-Chorherren graute vor einer reaktionären Wende.
„Die Chorherren konnten sich alles erlauben"
Fast ein Dutzend Deutsche mussten bald gehen; der übergriffige M. war nicht darunter. Auf profil-Anfrage und in späteren Stellungnahmen wies Backovsky jede Mitwirkung an M.s Fortkommen von sich. Der Expertenbericht hält fest, M.s Aufnahme habe dem „damals gültigen Standard-Prozess“ entsprochen. Zur obskuren Priesterweihe in Rumänien vermerkt er: „Eine Involvierung des Stifts könne, anhand der vorliegenden Informationen, nicht verifiziert werden.“
Damit gedachten die Augustiner-Chorherren, das leidige Kapitel zu schließen und ihre Anstrengungen darauf zu richten, Übergriffe künftig zu verhindern. Bei Roman R. aber brach eine alte Wunde auf. Er ist inzwischen über 50. „Die Chorherren konnten sich alles erlauben, wie Fürsten im Mittelalter“, sagt er zu Beginn des Gesprächs. Am Ende wird er die Episode seines Lebens mit der Feststellung quittieren: „Wahrscheinlich habe ich einen Knacks davongetragen.“
Ende der 1980er-Jahre hatte Roman R. über verwandtschaftliche Beziehungen eine gute Arbeit im Stift gefunden und hier den Nachwuchs-Chorherren M. kennengelernt, einen jungen Deutschen mit einer Schwäche für schnelle Autos, schwere Weine und dicke Zigarren. Er habe sich gefreut, als der Novize ihn eines Abends auf sein Zimmer einlud. M. habe in einer grauen Trainingshose aufgemacht und hinter seinem Gast zugesperrt. Das habe ihn kurz irritiert, aber er habe sich nichts Böses gedacht. M. habe Schweinsbraten, Püree und Rotwein kredenzt: „Plötzlich hat er mich von hinten gepackt und auf sein Bett gedrückt. Ich habe kaum mehr Luft bekommen. Ich war spindeldürr, er hatte über 100 Kilo und war ziemlich kräftig.“ Er habe lange versucht, sich seinem Griff zu entwinden und zum Fenster zu gelangen: „Das war vergittert. Ich habe um Hilfe geschrien.“
M.s Lachen klinge ihm noch im Ohr: „Du kommst hier nicht raus. Heute gehörst du mir.“ Der Krach habe draußen jemanden aufgeschreckt. „Was ist hier los?“, habe eine Stimme gerufen. M. habe aufgemacht. „Vor der Tür stand ein Mann, ich bin an ihm vorbei in den Hof gelaufen.“
„Meine Eltern haben ihm vertraut“
Roman R. sagt, er habe in M.s Zimmer bloß zwei Gläser Wein getrunken, sei aber „völlig benommen“ gewesen und habe „am ganzen Körper gezittert“. Etwa eine Stunde sei er auf den Kirchenstufen gesessen. Der Mann, der ihn an diesem Abend rettete, habe nicht nach ihm gesehen. Anhand alter Fotos identifiziert R. einen Klosterbruder namens Gregor, der im Stockwerk über M. wohnte und nicht mehr lebt. M. selbst wollte auf Anraten seiner Anwälte – wie auch schon die letzten Male – nicht mit profil reden. Roman R. kündigte bald darauf seine Stelle, ging ins Ausland und bemühte sich zu vergessen. Es war nicht das erste „Geheimnis“. Etwa eine Dekade zuvor sei er, von einem weit über das Kloster hinaus geachteten Chorherrn missbraucht worden. Jene Geschichte ist noch tiefer in ihm vergraben. Er war damals 13. Erst vor einem Jahr weihte er seine Mutter und seinen älteren Bruder ein. Sie seien aus allen Wolken gefallen, so Roman R. Sein Bruder habe ihm eröffnet, dass sich derselbe Chorherr zuvor an ihm vergriffen hatte.
Der Ordensmann kann sich zu den Anschuldigungen nicht äußern. Er verstarb vor einigen Jahren. Hunderte Trauergäste mit Pfadfinder-Halstüchern erwiesen ihm die letzte Ehre. Er war ein hochrangiger Funktionär der Bewegung, Uniprofessor, Autor zahlreicher Bücher und Träger von Auszeichnungen. Roman R. traf ihn als „kleiner Ministrant“, junger Pfadfinder und daheim, wo er als Freund der Familie ein und aus ging. „Er war für mich ganz oben, eine Respektsperson“, sagt er. Seine Eltern seien geschmeichelt gewesen, als er anbot, ihren Buben auf eine Reise zu Kunstschätzen in Deutschland und Frankreich mitzunehmen. Ihr Älterer war mit ihm auf Pfadfinderlager gewesen. Dass er schlechte Erfahrungen mit dem Mann gemacht hatte, habe niemand ahnen können. „Meine Eltern haben ihm vertraut“, sagt Roman R. Deshalb hätten sie eingewilligt, als der Chorherr vorschlug, ihr Bub möge am Vorabend im Stift übernachten, „damit wir am nächsten Morgen zeitig aufbrechen können“.
Stift Klosterneuburg weiß von den Vorwürfen
Der Professor wohnte unter dem Dach. Roman R. sagt, er habe auf der Couch schlafen wollen, der Chorherr habe darauf gedrängt, dass er zu ihm ins Bett schlüpfe. „Ich wusste nicht, dass er nackt war. Dann hat er mich überall berührt. Ich war völlig weggetreten“, sagt er. „Am nächsten Tag sind wir weggefahren. Ich war so jung, was sollte ich machen?“ Im französischen Perpignon sei der Chorherr mit ihm in eine FKK-Anlage gefahren. Ein Mal noch habe er in betrunkenem Zustand versucht, ihn abzuküssen. Er habe ihn „mit einem Fußtritt weggestoßen“. Roman R. sagt, er habe später erst verstanden, dass der Geistliche „eine Zuneigung zu mir gefasst hat, zu der er nicht stehen konnte“. Das erkläre die zwei Gesichter: „Wenn ich ihn im Stift besucht habe, um mit ihm Karten zu spielen, war er normal. Wenn ich ihn privat getroffen habe, hat er so getan, als würde er mich nicht kennen.“ Roman R. sagt, damals habe jemand das Gerücht in die Welt gesetzt, dass er schwul sei: „Ich war total abgestempelt.“ Das Gerede hinter seinem Rücken, die soziale Ächtung habe ihn mehr als alles andere geschmerzt. Er habe sich nach einer eigenen Familie gesehnt, „es ist jedoch nie eine Beziehung zustande gekommen“.
Das Stift Klosterneuburg weiß von den Vorwürfen. Johannes Heibel, Gründer einer deutschen Opfer-Initiative, reiste Anfang Juli nach Wien, und informierte auch die Expertenkommission darüber: „Man hat mir jedoch gesagt, es geht nur um den Fall M. und die Unterlagen an die Protokollantin weitergereicht.“ Roman R.s Mutter war Monate nach der profil-Geschichte im Kloster und sagte Propst Backovksy auf den Kopf zu, dass der hochangesehene Chorherr ihre Söhne missbraucht habe. Backovsky beauftragte seinen Wirtschaftsdirektor, die Frau an die Opferschutzstellen zu verweisen. „Mein älterer Sohn ist weit weg, der Jüngere hat sich abgewandt. Erst seit Kurzem weiß ich, warum. Man vertraut dem Stift seine Kinder an, und dann passiert das“, sagt sie in einem Telefonat mit profil. Der erwähnte Bericht der Experten geht auf die Causa mit keinem Wort ein.
„Pass auf bei dem!“
Das Stift verweist in einer aktuellen Stellungnahme gegenüber profil darauf, dass es nicht Aufgabe gewesen sei, „eine Privat-Justiz zu etablieren und quasi-gerichtliche Schuld- oder Freisprüche über einzelne Personen abzugeben“, sondern anhand des Übergriffs 1993 „Defizite im Verantwortungsbereich des Stiftes zu identifizieren“ und „rigide Maßnahmen im Sinne der Prävention“ zu setzen. Tatsächlich seien im Zuge der Aufarbeitung „weitere Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs“ zutage getreten, man habe die Betroffenen „über die Möglichkeiten der Opferschutz-Anwaltschaft sowie die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien informiert“. Das gelte auch im Fall Roman R.
Mit R.s älterem Bruder Wolfgang* sprach profil ebenfalls. Er lernte den Augustiner-Chorherrn so wie Roman R. beim Ministrieren und bei den Pfadfindern kennen. Immer sei eine „Clique Buben“ um ihn gewesen. Mit 16 entwickelte sich eine bereichernde Freundschaft zu dem hilfsbereiten und gebildeten älteren Herrn. Wolfgang R. sagt, „ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass da etwas nicht passt. Aber als ich 18 war, hat er sich auf mich gesetzt, mich an den Schenkeln gefasst, geküsst und versucht, mein Geschlechtsteil anzugreifen. Man will das zuerst nicht wahrhaben, ist geschockt, völlig starr.“Nach zwei weiteren, ähnlichen Übergriffen habe er den Kontakt abgebrochen: „Ich war wahnsinnig enttäuscht, habe aber vor langer Zeit damit abgeschlossen.“ Seinen Bruder habe er instruiert, „Pass auf bei dem!“, ihm aber keine Details berichtet. Im Nachhinein ärgere es ihn, „dass ich nicht mehr auf ihn aufgepasst habe“. Wolfgang R. sagt: „Die Chorherren waren eine Instanz, Übergriffe gab es vor allem dort, wo es starke Abhängigkeiten gab. Wenn man versuchte, darüber zu reden, bekam man zu hören, das bilde man sich ein. Man war allein mit sich.“ Auch das schützte die Täter.
Die Geschichte dahinter
Im Herbst 2017 berichtete profil, ein Augustiner-Chorherr habe sich vor 25 Jahren im Stift Klosterneuburg an einem Minderjährigen vergangen. Im Zuge gemeinsamer Nachforschungen von profil, der „Mainpost“-Reporterin Christine Jeske und der von Johannes Heibel gegründeten „Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ im deutschen Montabaur mehrten sich Hinweise, dass dies kein Einzelfall und M. nicht der einzige auffällige Ordensbruder war. Ein Ex-Chorherr erzählte von einem jungen Angestellten, der das Stift Ende der 1980er-Jahre „Hals über Kopf“ verlassen habe. Gemeint war Roman R. Doch nicht einmal sein engstes Umfeld kannte bis vor Kurzem die Hintergründe. Erst nach der profil-Geschichte „Akte M.“ vertraute R. seiner Mutter und seinem Bruder an, was er im Stift erlebt hatte. Das Treffen mit profil fand vor einigen Wochen in einem Hotel in Wien statt.