Straftäter Teichtmeister: Der Ruf der Straße
Nach vier Stunden Verhandlung kommentierte Richter Stefan Apostol die Entscheidung am 5. September knapp und klar: „Das Urteil ist nicht dem Ruf der Straße gefolgt.“ Stattdessen folgte der Schöffensenat am Wiener Landesgericht für Strafsachen dem Gesetz, verurteilte den Schauspieler Florian Teichtmeister zu zwei Jahren Freiheitsstrafe und verfügte die Einweisung in ein forensisch-therapeutisches Zentrum. Beide Sanktionen wurde ihm unter Setzung einer fünfjährigen Probezeit bedingt nachgesehen. Teichtmeister muss sich in eine fachpsychiatrische Behandlung begeben und dem Gericht alle zwei Monate nachweisen, weder Alkohol noch Drogen zu konsumieren. Verstößt er gegen die Anordnungen, droht ihm der Maßnahmenvollzug.
Der frühere Burgschauspieler hatte von 2008 bis 2021 pornografische Darstellungen und Bilder von missbrauchten Kindern und Jugendlichen gehortet, insgesamt 76.000 Dateien auf 22 Speichermedien. Vor dem Gericht – also auf der Straße – versammelte sich schon vor Prozessbeginn eine Handvoll Demonstranten. Dazu hatten sie einen Galgen mitgebracht, auf dessen Querbalken der Name „Teichtmeister“ eingekerbt war.
Nach der Aussage von Juristen fiel die Strafe für Teichtmeister – zwei Jahre bei einer Strafdrohung von bis zu drei Jahren – relativ hart aus. Die bedingte Strafnachsicht sei bei einem geständigen Ersttäter Usus. Dass Teichtmeister für seine Taten keinen einzigen Tag ins Gefängnis muss, sorgte dennoch für heftige Debatten. Die ÖVP forderte härtere Strafen, die vom Justizministerium ohnehin geplant sind.
Emotionalisierte Debatten
Allerdings sprechen sich Experten dagegen aus. Höhere Strafen hätten bei Taten, hinter denen ein Suchtverhalten stehe, keine präventive Wirkung, meinte die Strafrechtsprofessorin Katharina Beclin gegenüber der APA. Wichtiger als Anlassgesetzgebung wären „bewusstseinsbildende Maßnahmen“, die dazu beitragen, „dass Täter überführt und verurteilt werden können“. Vor einer weiteren Emotionalisierung der Debatte sei zu warnen.
Doch Emotion ist einer der wichtigsten Treiber der Politik. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker, im Zivilberuf Anwalt, hielt fest, das Urteil sei „ein fatales Signal sowohl an Täter und auch an die Opfer“. Die Wiener Gemeinderätin Laura Sachslehner, Stockers Vorgängerin im Generalsekretariat, nannte es gar „einen Schlag ins Gesicht für jeden, der an Gerechtigkeit in unserem Rechtssystem glaubt“. Die radikalste Reaktion kam vom Wiener FPÖ-Obmann Dominik Nepp: „Wenn der Rechtsstaat so versagt, braucht man sich in Zukunft über Selbstjustiz nicht wundern.“
Das Gegenteil von Nepps Behauptung ist wahr. Der Rechtsstaat hat im Fall Teichtmeister nicht versagt, sondern funktioniert. Und gefühlte Gerechtigkeit herzustellen, wie Laura Sachslehner meint, zählt nicht zu den Aufgaben eines Gerichts.
Gerechtigkeit bedeutet in der Justiz, ohne Ansehen der Person nach Gesetzeslage zu urteilen – und nicht nach dem Glauben der Rechtsunterworfenen. Wer „absolute Gerechtigkeit“ finden will, so schrieb Hans Kelsen 1953 in einem Aufsatz, müsse sich „zur Religion und Metaphysik“ wenden.
Offen ist, ob Stocker und Sachslehner wirklich glauben, was sie sagen, oder nur der Vox populi folgen. Anwalt Stocker weiß wahrscheinlich, auf welch dünnem Eis er sich bewegt, wohingegen Sachslehner und Nepp aus tiefer Überzeugung emotionalisieren.
Law & Order
Derselbe Mechanismus – wenn auch unter völlig anderen Umständen – greift auch im Umgang mit Klimaklebern und Klimakleberinnen, die seit Monaten auf Österreichs Straßen für mühsame Staus und Ärger bei betroffenen Autofahrern sorgen. Auch ihre Delikte werden sanktioniert, wie es der Rechtsstaat vorsieht. Eine Klebeaktion führt zu einer Verwaltungsstrafe. Gefährden Aktivisten Menschen oder verursachen sie gar Schaden an Leib und Leben, drohen strafrechtliche Konsequenzen. Auch der Tatbestand der Nötigung kann schlagend werden.
Dennoch tut sich etwa Niederösterreichs ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner mit der Forderung nach schwereren Strafen für Klimakleber hervor. Durch eine Änderung im Versammlungsgesetz sollen diese künftig mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfall mit bis zu einem Jahr Haft sanktioniert werden. Innenminister Gerhard Karner signalisierte Zustimmung.
Auch in diesem Fall ignoriert die ÖVP die Wissenschaft. Aktivisten handeln aus Überzeugung und lassen sich durch Strafverschärfungen nicht abschrecken. Lieber werden sie zu Märtyrern. Daher lehnt etwa Andreas Venier von der Universität Innsbruck eine eigene „Lex Klimakleber“ im Strafrecht ab. Dieses solle sich auf die schwersten sozial schädlichen Aktionen beschränken.
Das Volk weiß die ÖVP mit Law & Order auf ihrer Seite. In einer profil-Umfrage im August gaben mehr als drei Viertel der Befragten an, Haftstrafen gegen „Klimakleber“ zu befürworten, wenn diese Rettungseinsätze behindern. Mangelnde Sensibilität im Umgang mit der Verfassung zeigte die ÖVP, vor allem Ex-Kanzler Sebastian Kurz, auch beim Corona-Management. Der Zweck, die Eindämmung des Virus, heiligte die Mittel und das Tempo ihres Einsatzes. Sinngemäß meinte Kurz einmal, er könne mit Anti-Corona-Maßnahmen nicht auf den Verfassungsgerichtshof (VfGH) warten.
Absichtliche Verfassungsbeugung?
Das Höchstgericht wies viele Beschwerden ab, beanstandete aber sehr wohl einzelne Pandemie-Maßnahmen als Verstoß gegen die Verfassung. So hob er etwa eine Bestimmung auf, welche die Zahl der Teilnehmer bei Begräbnissen auf 50 Personen begrenzte. Das Betretungsverbot für Sportplätze während des ersten Lockdowns im März und April 2020 war ebenfalls gesetzwidrig, ebenso eine dauerhafte Ausgangsbeschränkung für Ungeimpfte im zweiten Lockdown.
Die von der Regierung beschlossene, aber nie scharf gestellte Impfpflicht erklärte der VfGH im Juni 2022 wohl nur deswegen für verfassungskonform, da diese eben ausgesetzt war, worauf das Höchstgericht in seiner Begründung explizit hinwies und überdies festhielt: „Die Impfpflicht ist ein besonders schwerer Eingriff in die körperliche Integrität und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen.“
Mildernd muss man für die Regierung ins Treffen führen, dass in der Corona-Phase tatsächlich rasch gehandelt werden musste und die Krise auch rechtlich Neuland war. Ein Vorsatz zum Verfassungsbruch war nicht gegeben.
Anders verhält es sich bei einer umstrittenen Regelung aus der Zeit der türkis-blauen Regierung. Im Oktober 2018 führte die Koalition die Indexierung der Familienbeihilfe für in Österreich arbeitende EU-Bürger ein. Die Höhe der Familienleistungen wurde an die Lebenshaltungskosten in jenem Land angepasst, in dem die Kinder wohnen. Im Ergebnis erhielten etwa Pflegerinnen aus Rumänien und Bulgarien deutlich weniger Geld als zuvor. Schon vor der Einführung war die Regierung von vielen Seiten gewarnt worden, die Regelung sei EU-rechtswidrig. Sie nahm es in Kauf. Im Juni 2022 stellte der Europäische Gerichtshof fest, die Indexierung verstoße gegen Unionsrecht.
Recht folgt Politik
Doch offenbar will die ÖVP aus dem Reputationsschaden nicht klug werden. In einem Entwurf zu ihrem von Parteichef Karl Nehammer angekündigten „Zukunftsplan 2030“ wird vorgeschlagen, dass Zuwanderer erst nach fünf Jahren legalen Aufenthalts volle Sozialleistungen erhalten sollen. Wieder warnen Rechtsexperten vor rechtlichen Problemen.
Wie schnell die ÖVP bereit ist, unter dem „Verfassungsbogen“ (Ex-Nationalratspräsident Andreas Khol) durchzuschlüpfen, bewies Klubchef August Wöginger im November 2022, als er in Zusammenhang mit dem Asylrecht davon sprach, „die Menschenrechtskonvention überarbeiten“ zu wollen. Seine Parteifreundin, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, wies das Ansinnen zurück. Die Europäische Menschenrechtskonvention sei „nicht verhandelbar“.
Eine ähnliche Idee zur Asylreform wie Wöginger hatte zuvor Herbert Kickl formuliert. Der FPÖ-Chef rechtfertigte die mögliche Beugung von Menschenrechtskonvention und Verfassungsbestimmungen – er nannte sie „irgendwelche seltsamen rechtlichen Konstruktionen“ – so: „Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht.“