Süchtig nach Benzos mit 17: Müssen wir uns Sorgen um Österreichs Jugend machen?
„Ich erzähle euch heute die Geschichte meiner Benzos-Abhängigkeit“, so die deutsche TikTok-Userin Liz in einem Video auf der Kurzvideoplattform. Sie ist gerade einmal 17 Jahre alt, als sie aufgrund einer Panikattacke in die Notaufnahme einer Psychiatrie kommt und ihr Ärzt:innen zum ersten Mal Benzodiazepine verschreiben. Medikamente mit diesem Wirkstoff werden gegen Angststörungen und Schlafprobleme verschrieben und wirken dämpfend auf das Nervensystem.
Liz entwickelt eine Sucht, die zwei Jahre anhält. Sie beginnt damit, zuerst täglich zwei Milligramm zu konsumieren, nach einigen Monaten erhöht sie ihre Dosis auf 16 Milligramm am Tag. Mediziner:innen empfehlen Patient:innen mit schweren Fällen von Schlaf- und Angststörungen eine Dosierung von bis zu maximal zwölf Milligramm pro Tag. In den Kommentaren des Videos, das über 20.000 Mal angeklickt wurde, liest man, dass andere User:innen ähnliche Erfahrungen gemacht haben und auf ähnlichem Weg süchtig nach „Benzos“ geworden sind. Liz spricht auf TikTok offen darüber, wie sie versucht hat aufzuhören, aber immer wieder rückfällig wurde.
27 Prozent der Drogentoten sind unter 25
2023 ist die Anzahl der Drogentoten unter 25 Jahren in Wien immens gestiegen. 2018 waren 18 Prozent der Opfer unter 25 Jahre alt, 2023 stieg diese Zahl auf 27 Prozent.
Dabei ist die Zahl der jungen Österreicher:innen, die Suchtmittel konsumieren, nicht gestiegen, verändert hat sich allerdings der Konsum an sich. Jugendliche nehmen viel exzessiver Drogen. Das heißt: öfter, stärker und in größeren Mengen.
Was ist los mit Österreichs Jugend? profil hat mit Eva Wohllaib, der stellvertretenden Leiterin der Kolping Sucht- und Drogenberatung für Jugendliche und Angehörige, und Ewald Lochner, dem Koordinator für Psychiatrie, Sucht und Drogenfragen der Stadt Wien, gesprochen.
„In den letzten zwei Jahren haben Klient:innen immer wieder von Todesfällen im Freundeskreis erzählt, weil jemand überdosiert hatte“, berichtet Wohllaib: „Bei manchen Klient:innen sind wir glücklich, wenn sie erst mal mit Drogen, die wirklich gefährlich werden können, aufhören und ‚nur kiffen‘.“
Gefährlich ist der Konsum von Benzos insbesondere in Kombination mit Alkohol und Drogen, weil das die dämpfende Wirkung verstärkt. „Auf der einen Seite haben wir das hohe Suchtpotenzial, auf der anderen Seite ist das Problem, dass eine Überdosis, vor allem aber auch der Mischkonsum, etwa mit Alkohol zum Tod führen kann, weil dann eine Atemdepression eintritt“, warnt der Experte. Eine Atemdepression ist eine Atemstörung, die dafür sorgt, dass die Atmung langsamer und weniger effektiv wird.
Billig, niederschwellig und überall erhältlich
Benzos sind günstig, einfach zu bekommen und gelten als besonders „rein“, weil sie meistens in der Apotheke und nicht am Schwarzmarkt gekauft und deshalb nicht mit anderen Stoffen gestreckt werden.
Warum haben Jugendliche ein so großes Bedürfnis danach, müde und entspannt zu sein, dass sie dafür sogar Medikamente missbrauchen? Sowohl Ewald Lochner als auch Eva Wohllaib sind sich hier einig: Das Pandemie-Jahr 2020 war ausschlaggebend für viele jungen Menschen. „Jugendliche hatten keinen Alltag mehr, wie sie ihn gewohnt waren. Keine Schule, konnten Freunde nicht mehr treffen. Die persönliche Lebenswelt, die bisher relativ kontrollierbar gewirkt hatte, wurde mit der Pandemie plötzlich als weniger kontrollierbar erlebt. Das hat viele aus der Bahn geworfen“, so Wohllaib.
Aus der Realität kippen
Ewald Lochner teilt die Motive, Substanzen wie Benzos zu nehmen, in drei Kategorien: Sowohl die multiplen Krisen wie die Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Konflikte im Nahen Osten, als auch die Inflation belasten Jugendliche. Zudem sorgt das verstärkte Aufkommen digitaler Medien wie TikTok oder Instagram für ein verändertes Sozialverhalten bei Jugendlichen, die weniger auf Parties und in den Park gehen, sondern vermehrt zuhause bleiben.
Ging man früher hinaus in den Park oder auf Partys, sitzt man heute viel mehr zuhause und scrollt durch TikTok oder Instagram.
„Diese Faktoren treffen gerade zusammen und bewirken, dass ein Teil der unter 25-Jährigen versucht, die daraus resultierende Angst, depressive Verstimmung und psychische Belastung über den Konsum von unterschiedlichen Substanzen für sich selbst zu lösen“, so Lochner.
Seit dem ersten Corona-Lockdown steigt die Anzahl der Benzodiazepin-Verschreibungen jährlich an, erzählen Lochner und Wohllaib – wie viele Menschen Benzos genau nehmen, ist nicht bekannt, da das Medikament aufgrund seines niedrigen Preises nicht von der ÖGK erfasst wird. Schätzungen zufolge sind jedoch rund 140.000 Personen in Österreich von Benzodiazepinen abhängig.
Laut dem Gesundheitsministerium wurden bei der Verschreibung von Benzodiazepinen im Vergleich zu anderen psychotropen Stoffen Sonderregelungen geschaffen. Auf Rezepten für Medikamente, die Benzodiazepine beinhalten, darf beispielsweise keine wiederholte Abgabe angeordnet werden.
Außerdem sind Apotheker:innen dazu verpflichtet, Ärzt:innen zu melden, wenn Patient:innen Merkmale einer Abhängigkeit aufweisen oder eine Weitergabe der Suchtmittel an Dritter vermutet wird.
Beraterin Wohllaib zeigt sich trotz allem optimistisch: „Ich habe das Gefühl, es wird tendenziell wieder besser, da die Pandemie mittlerweile schon etwas länger her ist“. Ewald Lochner ist jedoch pessimistischer: Er fürchtet, dass in den kommenden Sommermonaten das problematische Konsumverhalten im öffentlichen Raum sichtbarer wird.