Interview

Susanne Raab: „Eine Frau ist niemals schuld“

Susanne Raab versteht die Angst von Frauen, sexuelle Übergriffe öffentlich zu machen: „Mein Appell ist aber, genau das zu tun“. Die ÖVP-Ministerin will beim Ausbau der Kinderbetreuung „mehr Gas geben“ und eine Wartefrist für die Ausbezahlung der Mindestsicherung – für alle.

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Hören Sie gerne Rammstein?
Raab
Das ist nicht ganz mein Musikgeschmack. Bei den Liedtexten ist auch viel Problematisches dabei.
Mehrere Frauen werfen Sänger Till Lindemann sexuelle Übergriffe vor. Wären Sie in Wien auf ein Konzert gegangen?
Raab
Nein. Die Berichte der Frauen haben mich sehr erschüttert. Deshalb war es mir wichtig, dass die Konzerte unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden.
Verstehen Sie, dass Frauen Angst haben, sexuelle Übergriffe öffentlich zu machen?
Raab
Ja, natürlich, als Frauenministerin habe ich auch oft gehört, dass Frauen Angst davor haben. Mein Appell ist aber, genau das zu tun. Ich möchte hinzufügen: Vor dem Gesetz ist jeder Mensch gleich, egal wie viel Geld oder Macht man hat. Frauen hören oft Dinge wie Sie hätten sich nicht so anziehen sollen, sie hätte dies oder das nicht tun sollen. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist falsch. Es gibt keinen Umstand und kein Verhalten, das Gewalt oder Belästigung rechtfertigt. Eine Frau ist niemals schuld.
Sind Sie eigentlich gerne Frauenministerin? 
Raab
Ja! Ich komme aus dem Integrationsbereich und für mich war zum Teil neu, wie ideologisiert die Debatte ist. Aber ich habe durch die Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen meine Tätigkeit unglaublich zu schätzen gelernt.
Bereuen Sie, dass Sie zu Amtsantritt sagten, dass Sie keine Feministin sind?
Raab
Nein. Jede Frau soll sich selbst definieren. Es gibt große Ungerechtigkeiten, die machen mich wütend. Zum Beispiel, wenn Frauen um die 30 keine Führungsfunktion bekommen, weil sie übermorgen schwanger sein könnten. Daher sehe ich mich als Kämpferin für Frauen.
Weil der Begriff Feministin für Sie links konnotiert ist?
Raab
Nicht gezwungenermaßen. Ich habe großartige Feministinnen kennengelernt, denen wir viel zu verdanken haben. Da ich nicht aus dieser Bewegung komme, definiere ich es so Ich will für volle Gleichberechtigung kämpfen und feministische, aber auch skeptische Stimmen überzeugen. Und Wir brauchen auch die Männer.
Wieso sind Sie dann gegen mehr Lohntransparenz in Unternehmen?
Raab
Das bin ich überhaupt nicht. Ich sehe die neue EU-Richtlinie zur Lohntransparenz positiv. Ich bin nur dagegen, so zu tun, als wären wir in Österreich so schlecht. Ab 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Unternehmen haben wir ja schon Lohntransparenz.
Diese Transparenzberichte sind nur für wenige im Unternehmen zugänglich und de facto unlesbar. Daraus lässt sich nichts ableiten.
Raab
Deshalb habe ich immer gesagt Es geht nicht nur darum, ab welcher Mitarbeiter-Anzahl diese Berichte verpflichtend sind . . .
Die Grünen hätten das gerne ab 35 Angestellten . . .
Raab
Es geht darum, dass diese Einkommensberichte einen tatsächlichen Mehrwert für Frauen haben. Dass sie lesbar und zugänglich sind und nicht irgendwo verräumt werden. Man darf aber nicht so tun, als würden Gehaltsunterschiede allein durch Lohntransparenz gelöst.
Fühlen Sie sich angesprochen, wenn jemand sagt: Liebe Österreicher?
Raab
Ja, aber ich wähle beim Sprechen die männliche und die weibliche Form. Das ist für mich selbstverständlich.
Ihr Parteifreund in Deutschland, Friedrich Merz, sagt „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen zur AfD.“ Gilt das auch für Österreich und die FPÖ?
Raab
Die Genderdebatte wird sehr verkrampft geführt. Wir brauchen einen Zugang, der nicht völlig an den Lebensrealitäten der Frauen vorbeigeht und mit dem wir die Mehrheit der Menschen nicht verlieren. Frauenpolitik ist auch viel mehr als Gendern.
Wenn Schwarz-Blau in Niederösterreich Landesbediensteten das Binnen-I verbietet, ist das doch auch Teil der verkrampften Debatte.
Raab
Schon allein, dass man so viel darüber spricht, zeichnet kein reales Bild der Sorgen von Frauen. Ich finde es lächerlich, wenn sich der Stellvertreter einer Landeshauptfrau nicht so bezeichnet, sondern Landeshauptmann-Stellvertreter nennt.
Sie meinen Udo Landbauer von der FPÖ.
Raab
Da könnte man das gekränkte Ego hintanhalten, denke ich mir. Aber ich finde es auch absurd, wenn der Gesundheitsminister aus schwangeren Frauen schwangere Personen macht. Ich lasse mir das Frau-Sein sicher nicht verbieten.
Sollte es einheitliche Vorgaben für Gendern in Gesetzen geben?
Raab
Die legistischen Richtlinien des Bundes halten fest, dass Männer und Frauen gleichermaßen abzubilden sind. Das ist ein vernünftiger Weg.
Wie finden Sie das Gesetz im generischen Femininum von Justizministerin Alma Zadić?
Raab
Ich verstehe, dass man damit Aufmerksamkeit erzeugen will und das ist ja auch gelungen. Aber bitte, lassen Sie uns wieder zu den Lebensrealitäten von Frauen zurückkommen. Ich will nicht, dass eine Frau bei gleicher Qualifikation und Tätigkeit weniger verdient. Da hört sich der Spaß auf.
Schon Frauenministerin Johanna Dohnal wollte die Kinderbetreuung als Kompetenz den Ländern entziehen und dem Bund übergeben. Jetzt fordern das die Grünen. Und Sie?
Raab
Ich finde es sinnvoller, mich darauf zu konzentrieren, dass wir mehr Gas beim Ausbau der Kinderbetreuung geben. Wir brauchen echte Wahlfreiheit Es kann nicht sein, dass ein Vater oder eine Mutter nicht arbeiten kann, weil es im Ort keine Kinderbetreuung gibt.
In Tirol haben 45 Prozent der Kindergärten länger als zwei Monate zu. Das ist keine Wahlfreiheit.
Raab
So sehe ich es auch. Daher haben wir die zusätzliche Milliarde, die wir investieren, an die sogenannten VIF-Kriterien gekoppelt Die Plätze sollen mit einem Vollzeitjob vereinbar sein.
Bundesländer wie Salzburg zahlen Prämien, wenn Kinder daheim betreut werden. AMS-Chef Johannes Kopf nennt das kontraproduktiv. Und Sie?
Raab
Ich verstehe den Gedanken, Wertschätzung für Eltern auszudrücken, die ihr Kind Zuhause betreuen. Aus meiner Sicht wird dieser Gedanke schon mit dem bestehenden System adressiert. Dafür gibt es etwa das Kinderbetreuungsgeld.

 

Was sagen Sie einem Elternpaar, das keine Betreuung für das Kind findet?
Raab
Dass das so nicht sein darf und dass ich alles tun werde, damit die Bundesländer die Plätze ausbauen. Im Rahmen des Finanzausgleichs liegen Konzepte dazu am Tisch. Es soll noch in dieser Legislaturperiode ordentlich etwas weitergehen.
Das heißt es seit Jahrzehnten.
Raab
Die Situation ist besser, als sie oft dargestellt wird. Man spricht zum Beispiel immer von der Betreuungsquote der 0- bis 3-jährigen Kinder. Aber Bei den Zwei-Jährigen sind schon 60 Prozent in Betreuung.
Die Betreuungsquote bei 0- bis 3-Jährigen liegt bei 32 Prozent – also unter dem EU-Barcelona-Ziel von 33 Prozent, das Österreich vor 10 Jahren hätte erreichen sollen. Das neue Ziel liegt bei 45 Prozent. Davon ist Österreich weit entfernt.
Raab
Meine Vision ist nicht, dass jedes Kind ab drei Monaten in Betreuung ist. Sondern dass Familien selbst entscheiden können. Deshalb will ich den Ausbau der Kinderbetreuung Nicht um eine EU-Quote zu erreichen, sondern damit alle Eltern Familie und Beruf auch mit einem Kleinkind verbinden können, so wie ich es getan habe.

 

Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer fordert das energischer als Sie.
Raab
Die Wirtschaft argumentiert, dass in Zeiten des Arbeitskräftemangels Mütter so rasch wie möglich in den Erwerb einsteigen sollen. Das verstehe ich aus Wirtschafts-Sicht. Meine Perspektive ist aber auch eine andere Wahlfreiheit für Familien. Wir beide wollen den Ausbau der Kinderbetreuung forcieren. Dafür hat auch die Wirtschaft Verantwortung, etwa mit Betriebskindergärten.
65.000 Frauen sagen beim Arbeitsmarktservice, sie würden mehr arbeiten, wenn es Kinderbetreuung gäbe.
Raab
Diesem Wunsch müssen wir gerecht werden. Wir investieren gerade eine Milliarde Euro, der Ausbau muss weitergehen. Ein hoher Prozentsatz sagt aber, sie möchten das Kind Zuhause betreuen.
Die Teilzeitquote bei Frauen ist in Österreich mit 50 Prozent sehr hoch. Wollen Sie wie Arbeitsminister Martin Kocher Teilzeitarbeit verringern?
Raab
Mein Credo lautet Jeder Mensch soll sein Leben nach seiner Fasson leben. Ich möchte die Argumente aus Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsperspektive nicht vom Tisch wischen, aber ich sehe mich als Sprachrohr der Frauen. Und ich will Frauen und auch Männern nicht vorgeben, wie sie zu leben und ihre Kinder zu betreuen haben.

 

Teilzeit verringert auch die Pension. Sie sind sich beim Pensionssplitting nicht einig mit den Grünen – kommt das noch in der Legislaturperiode?
Raab
Mir hat bisher niemand erklären können, warum Eltern, die entscheiden, dass ein Elternteil mehr Stunden arbeitet und der andere Elternteil mehr Zeit beim Kind verbringt, nicht die Pension teilen sollen. Als Familie hat man gemeinsame Verantwortung, deshalb ist Pensionssplitting logisch. Es steht im Regierungsprogramm, ich habe einen Gesetzesentwurf vorgelegt und hoffe, dass er bald beschlossen wird.
Die Grünen verbinden das mit Einkommenstransparenz. Sie sind dafür offen. Könnte das als Paket kommen?
Raab
Ich bin für jede Maßnahme, die uns in der Frauenpolitik wirklich voranbringt.
Die Grünen wollen bei den Einkommensberichten Sanktionen für Unternehmen, die nicht gleichen Lohn zahlen.
Raab
Wir haben eine EU-Richtlinie umzusetzen, also können wir Einkommenstransparenz jetzt beschließen. Dazu gibt es laufend Gespräche.
Das ist eine der vielen Differenzen mit den Grünen. Worauf einigt sich die Regierung noch?
Raab
Wir haben unterschiedliche Blickwinkel auf viele Themen, aber wir bringen auch viel zustande. Wir haben etwa Schutz- und Übergangswohnungen für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder um zwölf Millionen Euro ausgebaut. Wir haben das Frauenbudget mehr als verdoppelt. Wir haben die Familienleistungen valorisiert. Das sind echte Errungenschaften.
Themenwechsel. Die ÖVP will Sozialleistungen für Zuwanderer kürzen. Für wen und welche Sozialleistungen genau?
Raab
Es geht um eine Wartefrist. Da muss man sehr genau sein, damit es mit der Verfassung und mit EU-Recht vereinbar ist.
Die türkis-blaue Kürzung der Familienbeihilfe verstieß gegen EU-Recht.
Raab
Mir war es wichtig, mir anzusehen, wie es andere EU-Länder machen, zum Beispiel Dänemark. Das dortige System hat zwei Kriterien Den vollen Bezug der Mindestsicherung bekommt nur, wer eine gewisse Zeit im Land gelebt und eine gewisse Zeit gearbeitet hat. Das betrifft Inländer wie Ausländer.
Also hätte etwa ein Österreicher, der nach der Schule nicht arbeitet, nur Anspruch auf gekürzte Mindestsicherung?
Raab
Man muss zuerst einige Jahre Zeit ins System einzahlen, um die volle Höhe aus dem System herauszubekommen. Das halte ich für einen grundvernünftigen Zugang. Dieses dänische Modell hielt auch vor den Gerichten.
Das soll für die Mindestsicherung gelten und zwar für Österreicher, EU-Bürger, Nicht-EU-Bürger?
Raab
Ja, daran arbeiten wir. Dänemark hatte auch massiven Zuzug und viel Fluchtmigration, beides wurde auf ein Minimum reduziert. Das ist für Österreich interessant, weil der Großteil der Migration über Fluchtmigration passiert und das ist falsch. 2022 gab es 21.000 positive Asylbescheide – aber nur 2900 erstmalige Rot-Weiß-Rot-Karten. Über 76 Prozent der Syrer in Wien beziehen Mindestsicherung. Österreich braucht Zuwanderung, der Magnet soll aber nicht unser Sozialsystem, sondern der Arbeitsmarkt sein.
Dänemark ist nicht vergleichbar, es hat Opt-Out-Ausnahmeregelungen.
Raab
Das stimmt. Aber das Modell wäre auf Österreich übertragbar, wenn es unabhängig von der Staatsbürgerschaft gilt. Als Integrationsministerin gefällt mir das – von einer linken Regierung beschlossene – dänische Modell, weil die Migration nach Österreich die falsche ist. Österreich hat ein besonders großzügiges Sozialsystem. Das zieht Zuwanderung an. Wir liegen auch deshalb an der Spitze bei Flüchtlingszahlen, weil das Sozialsystem Asylberechtigten ab Tag 1 die volle Mindestsicherung garantiert.
Wovon sollen Asylberechtigte, die keinen Job finden, leben?
Raab
Oberstes Ziel muss es sein, rasch Arbeit zu finden. Bis dahin stehen auch in Zukunft verringerte Sozialleistungen zur Verfügung. Bis sie Arbeit finden.
Dagegen gibt es Bedenken, Niederösterreichs gekürzte Mindestsicherung hat der Verfassungsgerichtshof aufgehoben. Abgesehen davon sind die Grünen dagegen.
Raab
Dass das mit den Grünen nicht leicht wird, war ja klar. Hier unterscheiden wir uns einfach sehr stark. Bundeskanzler Karl Nehammer hat die Wartefrist für Sozialleistungen als Vision für das Jahr 2030 beschrieben. Daher arbeiten wir in der ÖVP an Konzepten dafür. Das wird vielleicht in dieser Regierung umgesetzt, vielleicht erst in der nächsten.
Würden Sie einer nächsten Regierung mit der FPÖ unter Obmann Herbert Kickl angehören?
Raab
Nein. Herbert Kickl hat schon einmal gezeigt, dass er gefährlich ist. Er hat als Innenminister das BVT ruiniert, einen Medien-Maulkorberlass verhängt. Ich könnte viele Beispiele aufzählen. Für mich kommt daher eine Zusammenarbeit mit Herbert Kickl in der Regierung nicht in Frage.

Fotos: Alexandra Unger

Zur Person

Susanne Raab (ÖVP) ist seit 2020 Ministerin in der schwarz-grünen Bundesregierung. Die 38-Jährige ist für Frauen, Familie, Integration und Medien zuständig. Davor war sie Sektionschefin für Integration.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin