Susanne Raab: „Warum sollte dann noch jemand Vollzeit arbeiten?“
Von Iris Bonavida und Eva Linsinger
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Wie viel Geld braucht ein Mensch monatlich, um in Würde leben zu können?
Raab
Schauen Sie, das Medianeinkommen beträgt rund 2500 Euro brutto. Diese Relation sollten wir nie aus den Augen verlieren. Wir sollten Menschen ermöglichen, Grundbedürfnisse für sich und ihre Kinder zu decken. Aber man sollte nicht von Sozialhilfe besser leben als von Vollzeitarbeit. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie Menschen aus der Armut und in Arbeit kommen. Natürlich bekommen Menschen Sozialhilfe, die Unterstützung brauchen. Aber das darf kein Dauerzustand sein.
Wer Mindestsicherung bekommt und arbeitsfähig ist, muss arbeiten, sonst wird die Hilfe gekürzt bis gestrichen
Raab
Da stellt sich die Frage, warum so viele Menschen so lange in der Sozialhilfe bleiben – in Wien etwa 74 Prozent der Syrer. Daher plädiere ich dafür, Sozialleistungen nicht ab dem ersten Tag in voller Höhe auszuzahlen, sondern erst nach einer Wartefrist von fünf Jahren. Das erhöht den Anreiz, Arbeit zu suchen. Ich verstehe, dass Menschen zornig sind, wenn eine Großfamilie 4600 Euro netto Mindestsicherung bekommt.
Wer soll fünf Jahre warten?
Raab
Die volle Sozialhilfe soll es erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Österreich geben. Wir brauchen Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, nicht Zuwanderung ins Sozialsystem.
Diese Wartefrist forderten Sie schon vor einem Jahr und sagten, Sie werden einen Plan vorlegen. Einen genauen Plan gibt es bis heute nicht.
Raab
Wir können das mit den Grünen nicht umsetzen, das ist uns klar. Aber das Konzept für die Wartefrist von fünf Jahren wird es in Kürze geben. Bundeskanzler Karl Nehammer hat nun unser Sozialleistungsmodell mit fünf Jahren Wartefrist, Sach- statt Geldleistungen und einem degressiven Leistungsbezug für Minderjährige vorgestellt.
Das war eine Punktation, einen detaillierten Gesetzestext für die Regelungen gibt es nicht.
Raab
Der Bundeskanzler hat ein Konzept auf den Tisch gelegt, wie wir in Zukunft die Sozialhilfe neu gestalten wollen. Es wird Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein, dieses Konzept in konkrete Gesetze zu gießen.
Türkis-Blau ist mit dem Versuch gescheitert, Migranten die Familienbeihilfe zu kürzen. Auch Asylberechtigte sind Staatsbürgern gleichgestellt, so das Europarecht.
Raab
An die Staatsbürgerschaft darf niedrigere Sozialhilfe nicht gekoppelt sein, das ist rechtlich schwierig. Machbar wäre es aber, die Höhe der Sozialhilfe an die Aufenthaltsdauer zu koppeln, so ist es auch in Dänemark.
Dann wäre es sinnvoll, dass Asylwerber arbeiten dürfen. Dann fällt die Integration in den Arbeitsmarkt leichter, außerdem werden händeringend Arbeitskräfte gesucht.
Raab
Ich halte das einfach für falsch, es vermengt Fluchtmigration und Arbeitsmarktintegration, wenn Österreich das Signal aussendet, dass man sofort arbeiten darf, ohne dass überhaupt ein Asylstatus überprüft wurde. So werden die Asylzahlen nicht sinken, im Gegenteil. Wir haben in Österreich rund 45.300 beim AMS gemeldete Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte, die ein langfristiges Aufenthaltsrecht haben. Es ist vernünftig, diese Personengruppe in den Arbeitsmarkt zu integrieren, anstatt den Arbeitsmarkt für Asylwerber zu öffnen.
Andererseits versuchen Wirtschaftsminister Martin Kocher und andere Politiker quer durch die Welt Arbeitskräfte anzuheuern. Ist das nicht ein Widerspruch?
Raab
Ich kann nach 15 Jahren Integrationsarbeit sagen: Wer behauptet, dass illegale Migranten die Lücken am Arbeitsmarkt füllen, liegt völlig falsch. 65 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, haben Alphabetisierungsbedarf. Wir müssen die illegale Migration reduzieren.
Menschen aus Syrien oder der Ukraine fliehen vor Krieg.
Raab
Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt, dass man im ersten Land, wo man sicher ist, um Asyl ansucht. Zudem gibt es Unterschiede: Flüchtlinge aus der Ukraine fassen rascher am Arbeitsmarkt Fuß. Bei Menschen aus Syrien oder Afghanistan funktioniert das leider nicht so gut. Wir müssen die Arbeitsanreize verstärken, das zeigt der Fall der Familie aus Wien.
Es ist prinzipiell immer gut, wenn Spitzenpositionen mit Frauen besetzt werden. Aber Magnus Brunner wird ein hervorragender Kommissar. Ich möchte ihn als Kandidaten durch so eine Diskussion nicht schmälern.
Diese Familie mit sieben Kindern bekommt 4600 Euro Sozialhilfe. Das nennen Sie „überbordend“. Was wäre der richtige Betrag?
Raab
Ich lasse mich nicht auf konkrete Zahlen ein. Aber es kann doch nicht sein, dass man in der Sozialhilfe mehr Geld bekommt als mit Arbeit. Warum sollte dann noch jemand Vollzeit arbeiten?
Mit sieben Kindern ist Erwerbsarbeit schwer möglich.
Raab
Aber Entschuldigung, das kann doch kein Grund sein, mehr Geld aus der Sozialhilfe zu bekommen als Familien, die das durch Arbeit schaffen. Dieses System ist so nicht gerecht.
Die ÖVP hat dieses System mitgeschaffen: Unter Türkis-Blau wurde die Mindestsicherung geändert, seither zahlen Bundesländer unterschiedlich viel Geld.
Raab
Wir als ÖVP haben das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz geschaffen – aber Wien hat es nicht umgesetzt und zahlt rund 700 Euro mehr Sozialhilfe aus. Niemand hindert Wien daran, das zu ändern und die Sozialhilfe abzusenken. Sobald Menschen ihren Asylbescheid haben, ziehen sie nach Wien. Ich habe immer gesagt, dass die Sozialhilfe ein Grund dafür ist.
Arbeitsmarktservice-Chef Johannes Kopf sagt, dass Menschen in anderen Bundesländern aus der Unterkunft fliegen, sobald sie den Asylbescheid haben und 430 Euro Unterstützung erhalten, womit sie sich keine Unterkunft leisten können. Schieben die Bundesländer das Problem nach Wien ab? Braucht es eine Residenzpflicht?
Raab
Es kann nicht darum gehen, die Menschen in der Sozialhilfe von einem Bundesland ins andere zu verteilen. Die Menschen müssen dorthin gehen, wo es Arbeitsplätze gibt. Ich habe null Verständnis dafür, dass in Wien 74 Prozent der Syrer Sozialhilfe beziehen, während im Westen Arbeitskräfte gesucht werden.
Darum geht es ja bei der Residenzpflicht: dass nicht alle Asylberechtigten nach Wien ziehen.
Raab
Aber was hindert einen jungen Asylberechtigten, aus Wien nach Tirol arbeiten zu gehen? Dafür brauche ich keine Residenzpflicht, sondern überregionale Arbeitsmarkt-Vermittlung.
Soll das Arbeitsmarktservice für die Mindestsicherung verantwortlich werden anstelle der Bundesländer?
Raab
Diese Debatte ist ein reines Ablenkungsmanöver. Wichtig ist: Jeder sollte in seinem Bereich seine Hausaufgaben machen. Die Sozialhilfe-Themen kenne ich in der Form nur aus Wien. Der Erfolg von Integration hängt mit der Anzahl der Menschen zusammen, die nach Österreich kommen. Daher bin ich dankbar, dass es gelungen ist, die Zahl der Asylanträge um 68 Prozent zu reduzieren. Zudem hängt der Erfolg der Integration davon ab, welche Menschen kommen. Niedriges Bildungsniveau ist eine besondere Herausforderung. Wir reden allerdings zu oft über die Probleme bei der Integration und zu wenig über Erfolge.
Der Anteil migrantischer Jugendlicher, die weder in Ausbildung noch erwerbstätig sind, ist doppelt so hoch wie bei Inländern. Was läuft schief?
Raab
Oft wird gerufen, was der Staat da noch tun kann. Ich erwarte mir schon, dass auch die Eltern am Bildungserfolg der Kinder mitwirken.
Schulen klagen, dass es zu wenig Unterstützung gibt, etwa durch Sozialarbeiter.
Raab
Es ist wichtig, dass von Tag eins an vermittelt wird, was erwartet wird: etwa die Anpassung an unsere Werte, dass etwa Mädchen denselben Stellenwert in der Bildung genießen wie Buben.
In Wien klagen sowohl Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr als auch Schulen: Kinder möchten Deutsch lernen, ihre Eltern wollen, dass sie Ärztinnen und Ärzte werden – aber der Familiennachzug sprenge schlicht die Ressourcen. Welche Lösung können Sie anbieten?
Raab
Aber das ist genau das, worüber wir die ganze Zeit gesprochen haben! Wien hat jahrelang ausufernde Willkommenspolitik betrieben und die Folgewirkungen davon negiert. Und jetzt kommt man drauf, dass es ein Problem ist, wenn so viele direkt nach Wien ziehen.
Wien hat auch jahrelang Asylwerber betreut, die andere Bundesländer nicht übernommen haben, und die Quote übererfüllt.
Raab
Ob man die übererfüllen muss? Mir geht es darum, wie wir illegale Migration bekämpfen können.
Alle anderen Bundesländer erfüllen die Quote bei Weitem nicht.
Raab
Bund und Länder müssen gemeinsam alles dafür tun, um Faktoren, die die Migration ins Sozialsystem begünstigen, zu reduzieren. Wir haben das getan und den Familiennachzug verschärft, die Schlepperkriminalität bekämpft. Und wir werden weitere Schritte setzen.
Wie weit gehen Sie: Sollen Asylwerber weiter den Klimabonus bekommen?
Raab
Ich bin nicht dafür, dass Asylwerber den Klimabonus erhalten. Sie haben eine Grundversorgung, das ist ausreichend.
Laut Integrationsbericht ist das verpflichtende Kindergartenjahr stark integrationsfördernd. Im Regierungsprogramm ist ein zweites Pflichtjahr vorgesehen. Warum kam es nie?
Raab
Die Betreuungsquote bei Vierjährigen ist bereits sehr hoch. Unser vorrangiges Ziel war es daher, 4,5 Milliarden Euro in den Ausbau der Kinderbetreuung zu investieren, um mehr Plätze für unter Dreijährige zu schaffen.
Was heißt das für das verpflichtende Kindergartenjahr – soll es die nächste Regierung umsetzen?
Raab
Ja, ich halte es gerade für Kinder, die es brauchen, für sinnvoll. Man könnte die Maßnahme auch an die Sprachstandsfeststellung knüpfen, um bei Kindern anzusetzen, die keine Deutschkenntnisse haben.
Sollte es dann gratis sein?
Raab
Es soll jedenfalls leistbar sein.
Die ÖVP hat eine Großelternkarenz vorgeschlagen, gegen die Idee gab es viel Gegenwind.
Raab
Vom politischen Mitbewerber, ja. Ich bekomme positive Rückmeldungen von vielen Großeltern, die sich wertgeschätzt fühlen.
Verstehen Sie die Sorge, dass Kinderbetreuung dann Sache von Mutter und Oma wird, statt von Mutter und Vater?
Raab
Nein. Es ist eine Wahloption, niemand wird dazu gezwungen. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen mündig sind und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen können.
Nur zwei Prozent der Väter gehen zwischen drei und sechs Monate in Karenz. Sind das mündige und eigenverantwortliche Bürger, oder gibt es Rahmenbedingungen, die sie beeinflussen?
Raab
Es ist ein gesellschaftlicher Wandel, der Zeit braucht. Meine Eltern haben es noch ganz anders gesehen als ich, mein Sohn wird es wieder anders handhaben. Das ist gut so. Ich bin eine absolute Befürworterin der Väterbeteiligung.
Die Grünen fordern Schutzzonen vor Kliniken, in denen Abtreibungen durchgeführt werden, weil in Vorarlberg davor massiv protestiert wird. Sie auch?
Raab
Ich habe dazu bereits mit Innenminister Gerhard Karner gesprochen, der mit dem Land in Kontakt ist. Die sicherheitspolizeiliche Einschätzung ist, dass wir in Österreich bereits gute rechtliche Möglichkeiten haben.
Die soll man also ausnutzen, damit es keine Demos vor Kliniken gibt, ohne neue Regelungen?
Raab
Das Innenministerium ist damit betraut und mit dem Land Vorarlberg in Kontakt. Mir ist es wichtig, dass wir niederschwellige Angebote und Beratungen für Frauen haben, die eine schwierige Entscheidung treffen müssen. Deswegen bin ich froh, dass es jetzt in jedem Bezirk eine Mädchen- und Frauenberatungsstelle gibt.
In Vorarlberg gibt es als Versuch Gratisverhütung für Frauen. Ist das eine Idee, die man auf ganz Österreich ausweiten könnte?
Raab
Der Gesundheitsminister hat dazu ein Pilotprojekt gestartet. Ich stehe dem offen gegenüber, er hat mir auch schon eine erste Rückmeldung gegeben. Wir werden weiter beobachten, wie es sich entwickelt.
Sie waren Spitzenbeamtin. Freuen Sie sich, wenn die Zeit im Scheinwerferlicht vorbei ist, oder möchten Sie Ministerin bleiben?
Raab
Der Schritt in die Politik war für mich ein überraschender. Gerade weil es eine Arbeit im Scheinwerferlicht ist, musste ich mir rasch neue Kompetenzen aneignen. Dann kamen auch immer mehr Aufgaben in meinem Verantwortungsbereich dazu. Jetzt bin ich sehr gerne Ministerin, und ich finde, die Bilanz kann sich auch echt sehen lassen.
Das klingt ein bisschen nach Abschiedsbilanz.
Raab
Nein, ich übe meine Tätigkeit sehr gerne aus. Aber der Fokus liegt auf dem 29. September und dass wir bei der Nationalratswahl als Erste durchs Ziel gehen.
Ursula von der Leyen hat die Staaten aufgefordert, für ihre EU-Kommission jeweils einen Mann und eine Frau zu nominieren. Ministerin Karoline Edtstadler war eine geeignete Frau. Trotzdem wurde nur Finanzminister Magnus Brunner nominiert. Wie laut haben Sie als Frauenministerin dagegen protestiert?
Raab
Es ist prinzipiell immer gut, wenn Spitzenpositionen mit Frauen besetzt werden. Aber Magnus Brunner wird ein hervorragender Kommissar. Ich möchte ihn als Kandidaten durch so eine Diskussion nicht schmälern.
Fotos: Alexandra Unger
Susanne Raab (ÖVP)
ist seit Jänner 2020 Ministerin in der ÖVP-Grünen-Regierung. Zuerst war die 39-jährige Oberösterreicherin für Frauen und Integration zuständig, danach kamen Familie, Jugend und Medien dazu. Vor ihrer politischen Karriere war Raab Leiterin der Sektion Integration im Außenministerium, bis sie Sebastian Kurz in die Regierung holte.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin