Susanne Wiesinger: "Schuljahr müsste wiederholt werden"
Eigentlich war sie in den 5. Wiener Gemeindebezirk versetzt worden. Doch Susanne Wiesinger wehrte sich erfolgreich dagegen. Sie wollte wieder zurück in die Welt der sogenannten "Brennpunktschulen" von Wien-Favoriten. Nun unterrichtet sie an einer Volksschule im migrantischen Zentrum des Bezirks überwiegend muslimische Schüler aus der Türkei, aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Tschetschenien oder dem Kosovo. Durch ihr Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer", ihre Zeitungskolumnen und Fernsehauftritte erwarb die ehemals rote Lehrergewerkschafterin den Ruf, Fehlentwicklungen in der Zuwanderungsgesellschaft und Bildungspolitik laut - manche sagen: überzogen laut - anzusprechen. Nach bald einem Jahr Pandemie möchte sie im profil-Gespräch nun wieder einiges loswerden:
"All die Probleme, die ich in meinem Buch beschrieben habe, gibt es jetzt zur Potenz." Was sie meint: beengte Wohnverhältnisse; keine Ruhe zum Lernen; noch mehr arbeitslose Eltern, die keine Tagesstruktur vorleben; die zu schlecht Deutsch sprechen, um die Kinder beim Lernen zu unterstützen, oder diesen Anspruch nicht haben; einen noch stärkeren Rückzug der Kinder in die eigene Sprache, Community oder religiöse Parallelwelt. "Die Schule ermöglicht oft den einzigen Blick über den kulturellen Tellerrand. Das fällt im Moment komplett weg", sagt Wiesinger.
Schüler an Brennpunktschulen, aber auch an so manchen städtischen Unterstufen-Gymnasien hätten schon vor Corona enorme Defizite mitgeschleppt. Nun sei ein so großer Leistungsabfall zu bemerken, sodass Wiesinger nur eine Lösung sieht: "Das Schuljahr müsste wiederholt werden - von einer Vielzahl der Kinder." Wie viele wären das an ihrer Schule? "Ein Großteil", meint sie. Eine Ansage, die vielen zu fatalistisch klingt.
"Jetzt ist die Zeit der Milde, nicht der Härte", sagt Unterrichtsminister Heinz Faßmann über die Notengebung im Halbjahr. Schwer vorzustellen, dass seine Losung bis zum Sommer nicht mehr gilt. Und es wäre auf den ersten Blick tatsächlich ungerecht, Kindern in einer Pandemie dieselbe Leistung abzuverlangen wie in Schuljahren ohne Lockdowns und Distance Learning. Wiesinger wendet ein: "Wir haben schon bisher Milde walten lassen. Aber die Defizite müssen aufgeholt werden. Sonst ist es nicht Milde, sondern Vernachlässigung." Langfristig sei es ungerechter, Kindern neuen Stoff vorzuenthalten, anstatt sie ein Jahr wiederholen zu lassen. "Ich würde es nicht sitzenbleiben nennen, sondern aufholen."
Die Regierung sieht einen anderen Weg, eine verlorene Corona-Generation zu verhindern, und wirft 200 Millionen Euro für Förderungen in die Waagschale. Zehn Prozent davon sind für außerordentliche Schüler mit besonders schlechtem Deutsch reserviert. Die Förderkurse sollen auch in den Semester-, Oster- und Sommerferien angeboten werden. Herzstück der Offensive: Die Plätze in der Corona-Sommerschule werden verdoppelt. Der Besuch ist freiwillig.
Wiesinger plädiert für eine Verpflichtung der Schüler mit großen Defiziten. Ein "Aufholjahr" könnte die zweiwöchige Sommerschule aber nicht ersetzen.
Aktuell nehmen an ihrer Schule nur zehn Prozent der 200 Kinder die Sonderbetreuung vor Ort in Anspruch. Die Mamas seien meist Hausfrauen und dadurch ohnedies daheim. Wenn beide Eltern arbeiten, steigt der Betreuungsgrad. Wienweit sind 35 Prozent der Volksschüler anwesend. Aus dem Ministerium heißt es vage: "Nur jene, die es benötigen, sollen Betreuung in Anspruch nehmen." Not ist relativ. Die Bildungsnot ist an "Brennpunktschulen" aktuell sicher größer als an "Bobo"-Schulen, die offenbar besser besucht sind.
Der Vorsitzende der Pflichtschul-Gewerkschaft, Paul Kimberger, ist zuversichtlicher als Wiesinger. "Wenn wir Risikoschüler intensiv fördern, können wir vieles reparieren." Und dann sei es "überhaupt kein Problem", im Sommer Zeugnisse nach den üblichen Kriterien auszustellen. Im vergangenen Sommer erleichterte das Ministerium das Aufsteigen mit Fünfern noch per Sondererlass.
Am Ende müssen die Lehrer entscheiden, was im Sinne der Schüler ist. Oder im Sinne der Klassengemeinschaft, wie die Schilderungen eines Favoritner Mittelschullehrers nahelegen - er will anonym bleiben. "Und bevor uns ein unwilliger Repetent die nächste Klasse rebellisch macht, schenken wir ihm lieber einen Vierer." Schüler im größeren Stil durchfallen zu lassen, sei wegen des Mangels an Klassenräumen und Lehrern auch gar nicht möglich, meint der Pädagoge. "An städtischen Mittelschulen ist Durchwinken gang und gäbe - nicht erst seit Corona. "Im Pandemie-Modus macht er die Note wesentlich davon abhängig, ob Schüler ihre Aufgaben abliefern - was aktuell gut klappe. Was drinnen steht, sei zweitrangig. Diese Flexibilität hat ihn sein Alltag mit Schülern gelehrt, die trotz ihrer Geburt in Österreich unter massiven Deutschproblemen leiden-jetzt wieder verstärkt.
Die renommierte Bildungspsychologin Christiane Spiel zeigt auf, wie verkehrt es wäre, einer gesamten Generation den Corona-Stempel aufzudrücken. Es gebe Schüler, die in der Pandemie richtig gut vorankämen, weil sie nicht nur mit den Aufgaben zurechtkommen, sondern auch gelernt haben, mit digitalen Plattformen umzugehen und ihren Tag selbst zu organisieren. Soft Skills, die immer gefragter werden und wichtig sind für lebenslanges Lernen.
Und dann gebe es jene, die "völlig aus dem Lernen herausgefallen sind", spannt sie den Bogen. "Um ihren Selbstwert zu erhalten, werten wohl viele die Schule ab und weichen auf Sport, Computerspiele oder anderes aus, bei dem sie gut sind und sich stark fühlen. Junge Männer sind dafür anfälliger als Mädchen."Damit die geplanten Sonderförderungen greifen, müssten diese Risikoschüler erst wieder ins Lernen reingeholt werden. Am Land sei es wegen der kleineren Klassen viel leichter, die Kinder zu erreichen und zu motivieren, als in den randvollen Klassen im urbanen Raum. Gegen diese Schieflage will die Regierung nun 100 meist städtische Brennpunktschulen gezielt fördern.
Vom Sitzenbleiben hält Spiel wenig. "Es ist demotivierend, aus dem Freundeskreis herausgerissen zu werden und als Loser dazustehen. Besser ist es, die Schwächen im kommenden Semester und Schuljahr gezielt zu beseitigen." Allerdings gelte das für "normale Zeiten", schränkt sie ein. "Kommt ein Kind generell nicht mit, tue ich ihm nichts Gutes, wenn ich es durchwinke und es dann keine Lehrstelle bekommt oder in der nächsten Klasse völlig überfordert ist." Dann sei eine Extrarunde im Einvernehmen mit den Eltern doch besser. Wichtig seien Mindeststandards, was Schüler nach der Pflichtschule können müssen.
"Im kommenden Schuljahr werden viele Schüler mit noch größeren Lücken zu uns kommen als ohnehin oft", macht sich die Sprecherin der Polytechnischen Schulen, Beatrix Poppe, keine Illusionen. "Aber das sind wir ja gewohnt." Das einjährige "Poly" gilt gemeinhin als Lückenfüller zwischen der Hauptschule und dem Ende der neunjährigen Schulpflicht. Durch allzu "milde" Halbjahreszeugnisse sieht Poppe die Gefahr, dass den Schülern ein falsches Bild vorgegaukelt wird und sie sich jede höhere Schule zutrauen. "Was haben sie davon, wenn sie dann in zwei bis drei Jahren scheitern?", plädiert Poppe für ein "gewisses Maß an Ehrlichkeit".
Ein erfahrener Wiener Poly-Lehrer, der anonym bleiben will, sieht aktuell nur eine Lösung: ein zweites Jahr Poly. "Die Rückstände aus dem Wintersemester sind nicht aufzuholen, die Werkstätten weiter zu. Welche Chancen haben diese jungen Menschen am angespannten Arbeitsmarkt?" Um den Poly-Schülern die Schmach des Sitzenbleibens zu ersparen, sollte man ihnen ein zweites Jahr Poly über ein freiwilliges zehntes Schuljahr anbieten. "30 bis 50 Prozent der Schüler würden das Angebot annehmen. Die notwendigen Klassenzimmer, Sondervertrags-Lehrer und Geldmittel treiben wir auf", ist er überzeugt. "Sonst landen sie beim AMS. Und dort kosten die Kurse ja auch Geld."